Dienstag, 19. März 2024

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Jüdisches Leben und Antisemitismus
"Ich rechne damit, dass wieder gerufen wird, Juden ins Gas zu schicken"

Wie sieht jüdisches Leben in Deutschland aus? Die meisten wissen darüber nicht viel. Die Pandemie verstärke die Ignoranz noch, sagte die Autorin Juna Grossmann im Dlf. Antisemitismus zeige sich hierzulande wieder immer offener und teils gewaltsam.

Juna Grossmann im Gespräch mit Anja Reinhardt | 16.05.2021
Europas größter Chanukka-Leuchter ist am 12.12.2017 in Berlin vor dem Brandenburger Tor zu sehen.
Chanukka gehört zu den wichtigsten jüdischen Festen. Gefeiert wird die Wiedereroberung des Jerusalemer Tempels (Gregor Fischer/dpa)
Etwas mehr als 200.000 Jüdinnen und Juden leben in Deutschland, knapp 100.000 von ihnen gehören einer jüdischen Gemeinde an. In großen Städten sind jüdische Bürger eher sichtbar, es gibt Synagogen und eigene Schulen. Die Bundesregierung fühlt sich der jüdischen Gemeinschaft "in besonderer Weise verpflichtet", wie auf der Seite des Bundesinnenministeriums betont wird. Dabei wissen die meisten Deutschen nur sehr wenig über ihre Kultur, und Antisemitismus ist eine wachsende Bedrohung.
Juna Grossmann, Autorin des Buches "Schonzeit vorbei", die auf ihrer Website bzw. ihrem Blog irgendwiejuedisch.com über jüdische Kultur schreibt und außerdem den Podcast "Anti & Semitisch" produziert, sieht in dem Festjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" eine Chance für mehr Verständigung und Akzeptanz.
Die Gedenktafel zeigt das ehemalige jüdische Viertel am Rathausplatz in Köln
1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland - Mikwe und Moderne
Jüdisches Leben in Deutschland hat eine lange Geschichte. Das erste schriftliche Zeugnis stammt aus dem Jahr 321. Das 1700-jährige Jubiläum wird 2021 mit einem Festjahr begangen. In Gesprächen geht es um die Geschichte und Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland.
"Das ist auch eine Erfahrung, die ich sehr oft mache, dass gesagt wird: 'Ich würde ja auch gerne mal in einen jüdischen Gottesdienst gehen. Aber ich darf ja nicht.' Dann muss ich eben erklären: Es geht nicht darum, dass die Gemeinde sie nicht da haben will. Es sind einfach Sicherheitsfragen. Sehr viele Gemeinden sind sehr offen, und man kann dort hingehen, wenn man sich anmeldet."
Juna Grossmann
Juna Grossmann (picture alliance / dpa / Uwe Zucchi)
Ein stärkeres Interesse am Judentum würde auch antisemitischen Ideologien vorbeugen, meint Juna Grossmann, die Teil des Projekts "Meet a Jew" ist, bei dem Treffen zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Menschen organisiert werden. "Je jünger die Menschen sind, umso neugieriger und unbefangener sind sie, ohne Scheu und ohne Tabus. Es gibt keine Tabus, man kann alles ragen. Das ist eine jüdische Tradition und der folgen wir auch."

"Die Menschen sind sich sehr bewusst, was sie straffrei sagen können"

Die Begegnung und das Interesse für die jeweils andere Kultur könnten Antisemitismus vorbeugen, so Grossmann. Die Statistiken belegen, dass der seit vielen Jahren nicht nur in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, sondern auch immer offener und teils gewaltsam gezeigt wird. "Die Menschen sind sich schon sehr bewusst, was sie sagen und wie sie Dinge sagen können, vor allen Dingen auch, wie sie sie straffrei sagen können. Das sollte einem immer wieder bewusst sein", meint Juna Grossmann, die auch davon ausgeht, dass die antisemitischen Attacken auf Synagogen in Deutschland parallel zu den Angriffen auf Israel und Ziele im Gazastreifen vorerst nicht abebben werden.
Die Politk müsste hier mehr Schutz bieten, findet sie: "Ich rechne sehr damit, dass wieder gerufen wird, Juden ins Gas zu schicken. Ich rechne aber eigentlich damit, dass man da besser reagiert. Bis jetzt sieht es nicht so aus. Und das macht mir Sorgen."
"Vor 20 Jahren hätte ich meine Hand dafür ins Feuer gelegt, dass wir im Jahr keine Sicherheitskontrollen mehr haben müssen", sagt Juna Grossmann zu den Sicherheitsvorkehrungen, die es an Synagogen oder jüdischen Schulen gibt. Dennoch würde sie Deutschland nicht verlassen. "Der Punkt für mich selbst, dass ich so viel Angst hätte oder so sehr resignieren würde, das Land zu verlassen, wäre, wenn ich das Gefühl habe, nichts mehr tun zu können. Und das Gefühl habe ich nicht."