Über das Erlebnis seiner Geburt konnte eines der größten Monster der Weltliteratur, Frankenstein, genau Auskunft geben:
»Es war finster, als ich erwachte. Ich fror und hatte ein drückendes Gefühl des Alleinseins.«
Sommer 1816 am Genfer See, Villa Diodati. Anwesend waren die englischen Schriftsteller Lord George Gordon Noel Byron und Percy Bysshe Shelley – Byron begleitet von seinem Leibarzt John Polidori, Shelley von seiner Geliebten und späteren Ehefrau Mary.
»Der unfreundliche Sommer fesselte uns viel ans Haus. 'Wir wollen alle eine Gespenstergeschichte schreiben‘', schlug Lord Byron vor.«
Neue literarische Gattung: Science-Fiction
Während die beiden Berufsautoren nichts Bleibendes zustande brachten und John Polidori nur eine lächerliche Vampirgestalt präsentierte, die immerhin noch heute als Dracula herumgeistert, begründete Mary mit ihrer Erfindung der Frankenstein-Figur zugleich die neue literarische Gattung der Science-Fiction.
Aber dass sie ihr Ungeheuer nicht nur mit einem aus mancherlei menschlichen Leichen- und tierischen Kadaverstücken zusammengebastelten und auf geheimnisvolle Weise zum Leben erweckten Körper ausstattete, sondern auch mit einer erstaunlichen Intelligenz und Eloquenz – war das nur ausgedacht? Die Autorin besaß vielmehr enorme Vorkenntnisse:
»Darwin hatte in einer Glasdose ein Stückchen Maccaroni aufbewahrt, das dann aus irgend welchen Ursachen willkürliche Bewegungen zu machen schien ... Vielleicht wäre es denkbar, einen Leichnam wieder zu beleben, was ja auf galvanischem Wege bereits geschehen ist, oder die Bestandteile eines Lebewesens zusammenzufügen und ihm lebendigen Odem einzuhauchen … Ich sah das schreckliche Zerrbild eines Menschen ausgestreckt daliegen und dann sich plump, maschinenmäßig regen.»
Auf Anhieb ein literarisches Bravourstück
Dass der knapp 19-jährigen Frau auf Anhieb ein literarisches Bravourstück gelang, hatte sicher auch mit ihrer Herkunft zu tun. Geboren am 30. August 1797 als Tochter des anarchistisch inspirierten Schriftstellers und Sozialphilosophen William Godwin und einer der weltweit ersten radikalen Feministinnen, Mary Wollstonecraft, wuchs sie von früh an mit libertären Ideen und Literatur auf.
»Schon als ganz kleines Mädchen wusste ich mir keinen besseren Zeitvertreib als das Geschichtenschreiben … Ich machte mich (aber) selbst nie zur Heldin meiner Erzählungen. Denn das Leben erschien mir in Bezug auf mich selbst als nichts Romantisches.«
Bis Percy Bysshe Shelley auftauchte. Er stammte aus vornehmem Hochadel, führte gleichwohl ein sehr nonkonformistisches Leben und war wegen atheistischer Gedanken von der Universität Oxford verwiesen worden. Vor allem aber schrieb er Gedichte. Der Verführung durch den jungen Mann vollkommen erlegen, brannte das damals 16-jährige Mädchen mit ihm durch – und er mit ihr, denn Shelley war verheiratet und ließ seine Frau ohne Vorwarnung zurück. Im Laufe der folgenden Reisen durch halb Europa kam es dann auch zum folgenreichen Aufenthalt am Genfer See. Die damalige Stimmung in der Villa Diodati und der Ideen-Hintergrund des »Frankenstein«-Romans findet sich genau beschrieben in einem Gedicht Percy Shelleys mit dem Titel »Mont Blanc«:
»Dort / Verweilt der stumme Blitz in Einsamkeit / Und Unschuld, und er überlagert weit / Wie Dunst den Schnee. Geheime Kraft der Dinge / Wohnt ganz in dir«
Nur ein kurzes Eheglück
Nach dem Selbstmord von Percys in England zurückgelassener Ehefrau ging für Mary Wollstonecraft Godwin ein Herzenswunsch in Erfüllung, als sie Mary Shelley wurde. Ihr Eheglück dauerte aber nur knapp vier Jahre. Nach einem Segelausflug, bei dem ein schwerer Sturm aufkam, wurde Percy Shelleys Leiche zehn Tage später am Strand von Viareggio angeschwemmt und auf einem Scheiterhaufen verbrannt – Louis Edouard Fournier hat die Szene in einem Gemälde festgehalten.
Für Mary Shelley, nach England zurückgekehrt, begann keine gute Zeit mehr. Sie schrieb zwar weiter, und mit dem 1826 erschienenen Roman »Der letzte Mensch« gelang ihr auch noch einmal ein utopisch-apokalyptisches Szenarium. Mehr als um ihr eigenes Werk kümmerte sie sich aber um den Nachruhm ihres Mannes und gab, sorgfältig ediert und kommentiert, dessen gesammelte Gedichte heraus. Da ein neuer Gefährte nicht mehr in Frage gekommen war, lebte Mary Shelley in London bis zu ihrem Tod 1851 im Alter von 53 Jahren allein.