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Katerina Poladjan: "Hier sind Löwen"
Eine junge Frau zwischen zwei Welten

Die gebürtige Russin Katerina Poladjan, inzwischen in Deutschland lebend, hat für ihren dritten Roman "Hier sind Löwen" einen exotischen Schauplatz gewählt: Armenien. Landeskundlich sicherlich lehrreich, inhaltlich dennoch kein wirklich guter Roman, so das Fazit des Rezensenten.

Von Jürgen Deppe | 05.08.2019
Katerina Poladjan: "Hier sind Löwen" Zu sehen ist die Autorin und das Buchcover
Katerina Poladjan: "Hier sind Löwen" (Coverund Foto: S. Fischer Verlag)
Helen ist zurück. Helen Mazavian. Zurück in Istanbul. Wenn auch nur vorübergehend und auf der Durchreise. Die junge Frau will weiter, macht aber kurz am Bosporus, an der Grenze zwischen Europa und Asien Halt, um Tarık zu treffen, einen Freund aus früheren Tagen.
"Damals hatte ich gerade mein Studium der Kunstgeschichte abgeschlossen, ein paar Semester Orientalistik angehängt und mein Geist war theoriemüde. Ich sehnte mich nach konkreter Materie und bewarb mich um ein Praktikum in den Werkstätten der Süleymaniye-Bibliothek. Ich bekam eine Einführung in die Restaurierung alter Handschriften, und zum ersten Mal hielt ich Bücher aus dem 10. Jahrhundert in den Händen. Zurück in Deutschland gab ich mein Promotionsvorhaben auf und ging bei einem Buchbinder in die Lehre."
Jetzt ist sie Buchrestauratorin und auf dem Weg in den Kaukasus, nach Armenien. In Jerewan, in der dortigen Zentralbibliothek will Helen Mazavian die spezielle armenische Buchbindetechnik lernen.
"17.000 Handschriften und Bücher werden in den Kellern und Kammern des Archivs verwahrt, Karten, Folianten, Stiche in Regalen, Schubladen und Panzerschränken, und immer deutlicher höre ich im Rauschen der Lüftungsanlage das Raunen ihrer Worte und Stimmen."
Die Zombiefizierung der Bibliothek
Es ist wie ein Hades, in den sich Helen da begibt: lauter Leblose, lauter Untote umgeben sie und scheinen zu ihr zu sprechen. Über das Gestern, das Vorgestern, das Vorvorgestern. So bekommt die Geschichte historische Tiefe, eine Vielschichtigkeit, die aber leider ziemlich didaktisch und durchschaubar ist. Genauso wie die andere Seite der Medaille. Da ist es Levon, der alleinerziehende Sohn ihrer Abteilungsleiterin in der Bibliothek, der den Erklärpart für die Gegenwart übernimmt. Er weist ihr – im wahrsten Wortsinn – den Weg durch das heutige Jerewan, aber auch im übertragenden Sinn den durch das Armenien der von heute. Irgendwas zwischen Reiseführer und Landeskundler.
"'Die Armenier glauben, sie seien etwas Besonderes, auserwählt. Ihre Schrift, das erste Brot, der erste Schuh, das erste Land mit dem Christentum als Staatsreligion. Irgendwann finden sie sich alle im Paradies, im Hayastan. Du beschäftigst dich mit armenischen Handschriften. Auch das ist dieses Land.' – 'Was ist mit dir?' – 'Ich kämpfe für mein Land. Ich will mich nicht in einen Stein verwandeln.'"
Obwohl Helen Mazavian in Deutschland eine feste Beziehung hat, beginnt sie mit Levon eine Affäre. Und der hat, obwohl er fest im Militärdienst steht, reichlich Zeit für sie und ihre Erkundung des Landes rund um den Ararat, jenen sagenumwobenen Berg, an dessen Hängen Noahs Arche beim Absinken des Sintflut auf Grund gelaufen sein soll.
Der Stolz der Armenier
Von hier aus also nahm der Sage nach das Leben seinen Lauf, und auch das von Helen. Zumindest konstruiert Katerina Poladjan ihren Roman so. Darin legt Helens Mutter, eine ziemlich wirre Künstlerin, ihrer Tochter nämlich nah, dass auch deren persönliche Wurzeln dort lägen, am Ararat, in Ostanatolien.
"Dikranian. Abovyan. Petrosian. Mazavian. Mein Nachname war plötzlich in phonetischer Gesellschaft. Bisher hatte ich ihn getragen wie ein unpassendes Kleidungsstück, wie einen verbeulten Hut, den ich auch zum Essen nicht abnahm."
Und nun ist Helen dort, lernt täglich Neues über den Stolz der Armenier, aber auch über den latenten Wunsch aller Jungen, das Land möglichst bald zu verlassen. Und da zieht Katerina Polodjan dann noch eine zweite, zutiefst armenische Ebene in ihren Roman ein. Als Buchrestauratorin bekommt es Helen mit einer robusten Familienbibel zu tun, die – wie wir lernen – im Gegensatz zu kirchlichen Repräsentationsbibeln bei gläubigen Christen wie den Armeniern zum Alltag gehörten. Und in so einer Familienbibel findet Helen nun einen handschriftlichen Zusatz am Rand:
"'Da steht, Hrant will nicht aufwachen?' – 'Ja, Helen. So steht es da.' – 'Warum?' – 'Das kann ich Ihnen nicht sagen. Armenische Handschriften waren Teil der Familie. Haben Sie schon im Kolophon gelesen? Hischatakaran nennen wir das Kolophon, übersetzt heißt es Gedächtnis.' Evelina nahm den Stapel mit der Nachschrift des Buches zur Hand. Unmengen von Namen, Zeichen, Wörtern standen klein und eng geschrieben untereinander und nebeneinander. (…) 'Es ging immer um Schutz und Abwehr, daher auch der stabile Einband, die Pressung schützte vor Insekten. In ein fest gepresstes Buch konnten Schädlinge nicht so leicht eindringen. Dieses Volk hatte schon immer Angst zu verschwinden.' – 'Hat nicht jeder Mensch Angst zu verschwinden?' – 'Ich spreche von jahrhundertelangen Verfolgungen. Wir leben noch in der Geschichte, nicht im Hier und nicht im Jetzt. In den Büchern, vielleicht im Angesicht des Todes, offenbarte sich die Ewigkeit.'"
Wir essen ein Stück vom Buch
Anhand der Tinte erkennt Helen, dass die Notiz am Rand der Bibel ungefähr 100 Jahre alt sein muss, also aus der Zeit des türkischen Völkermords an den Armeniern stammen dürfte. Und so entspinnt sich um die vier Worte "Hrant will nicht aufwachen" die Geschichte der Geschwister Anahid und Hrant, die 1915 bei einem Pogrom der Türken an der Minderheit der christlichen Armeniern ihre gesamte Familien verlieren. Einzig ihr Leben und eben jene Familienbibel können sie retten. Aber genau die wird sie – wie könnte es anders sein – bei allem Leid und aller Entbehrung auf der Flucht vor Hunger und Tod bewahren.
"Wir essen ein Stück von dem Buch, dann werden wir schlau. Dürfen wir das, Anahid? Ein Stückchen dürfen wir. Schmeckt nach Erde, es kitzelt im Bauch. Du spürst schon die Klugheit."
Die tragische Geschichte Armeniens mit seinem bis heute von den Türken nicht anerkannten Völkermord. Die Gefühlslage heutiger Armenier zwischen glühendem Patriotismus und trister Resignation. Dazu eine junge Frau zwischen zwei Welten und zwischen zwei Männern. Das alles will irgendwie zusammen gehalten werden. Aber wozu gibt es die traditionelle armenische Buchbindetechnik?
"Fünf Nadeln, fünf Seidenfäden, zwei schwarze, zwei rote, ein weißer."
Das Bücherbinden wird zur Metapher – und als solche arg strapaziert.
Jeder Strang hat seine Funktion
"Den roten Faden in die Öse, den weißen gleich hinterher, festziehen."
Irgendwie muss alles zusammen gehalten werden. Auch wenn es noch so didaktisch ist.
"Weiß, rot, weiß, der schwarze Faden darunter, Knoten für Knoten, festziehen, fester."
Leider funktioniert dieses Buch fast genauso mechanisch wie die Buchbindetechnik. Jeder Erzählstrang hat seinen Platz und seine Funktion, ist deutlich gekennzeichnet und übernimmt eine Aufgabe. Das ist landeskundlich sicher alles unangreifbar und insgesamt auch lehrreich. Aber ergibt das einen guten Roman? Nein.
Katerina Poladjan: "Hier sind Löwen"
S. Fischer Verlag, Frankfurt, 288 Seiten, 22 Euro