Freitag, 10. Mai 2024

Kernenergie in der EU
Auslaufmodell oder Hoffnungsträger für mehr Klimaschutz?

Die EU-Kommission will Atomkraft als grüne Energiequelle einstufen – und stößt damit auf politischen Widerstand, vor allem auch in Deutschland. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob Kernenergie zum Klimaschutz beitragen könnte.

09.01.2022
    Abblätterndes Hinweisschild auf Radioaktivität an einer Mauer
    Auslaufmodell oder Hoffnungsträger in der Klimapolitik? Die Diskussion um Kernkraft in Europa hat erneut an Fahrt aufgenommen (imago / Shotshop)
    Die Atomenergie gilt eigentlich als Auslaufmodell, bekommt nun in der Debatte über steigende Energiepreise und die Umsetzung der EU-Klimaschutzziele aber wieder neue Aufmerksamkeit. Die EU-Kommission hat jetzt bekannt gegeben, Atomenergie als "grüne" Art der Energieerzeugung einstufen zu wollen. Falls die EU-Kommission diesen Plan tatsächlich umsetzen würde, käme das einer Empfehlung an die Finanzmärkte gleich, in Atomanlagen zu investieren. Treibende Kraft hinter dem Vorstoß ist Frankreich, das traditionell stark auf Kernkraft setzt. Seit dem 1. Januar 2022 hat Frankreich ein halbes Jahr lang den EU-Ratsvorsitz inne.

    Der Vorschlag der EU-Kommission

    Investitionen in neue Kernkraftwerke sollen nach den Plänen der EU-Kommission dann als grün klassifiziert werden können, wenn die Anlagen neuesten technischen Standards entsprechen. Das geht aus einem Entwurf der Brüsseler Behörde hervor. Zugleich müssen die Betreiber einen konkreten Plan für den Betrieb einer Entsorgungsanlage für hoch radioaktive Abfälle ab spätestens 2050 vorlegen. Konkret schlägt die Kommission vor, dass bis 2045 erteilte Genehmigungen für neue Atomkraftwerke unter die Taxonomieverordnung fallen und der Bau entsprechend gefördert werden können sollte.
    Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Grüne) sprach von „Greenwashing“. Österreichs Klimaschutzministerin Leonore Gewessler warf der Brüsseler Behörde vor, die Pläne durch eine „Nacht- und Nebelaktion“ forcieren zu wollen.
    Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte zuletzt erklärt, der Kommissionsvorschlag sollte „nicht überschätzt werden“. Er verwies darauf, dass die Mitgliedsländer auch künftig allein über ihren jeweiligen Pfad in eine emissionsfreie Zukunft entscheiden könnten. Es bleibe dabei, dass in Deutschland 2022 das letzte Atomkraftwerk abgeschaltet werde.
    Die Einstufung von Wirtschaftstätigkeiten durch die EU-Kommission soll Anleger in die Lage versetzen, ihre Investitionen auf nachhaltigere Technologien und Unternehmen umzustellen, und so wesentlich zur Klimaneutralität Europas bis 2050 beitragen.
    Worum geht es bei der EU-Taxonomie?

    Was hat die Diskussion um Atomkraft wieder entfacht?

    Auftrieb bekam die Diskussion um die Nutzung von Kernkraftwerken zur Energiegewinnung auf dem EU-Sondertreffen in Luxemburg am 26. Oktober 2021. Die EU-Energieminister waren zusammengekommen, um sich über gemeinsame Sofortmaßnahmen gegen die Preisexplosion bei Strom und Gas zu beraten.
    In den Fokus geriet dabei auch das Klimaschutzprogramm der EU und der angestrebte Ausbau erneuerbarer Energien. Eine Gruppe aus mehreren Ländern, darunter auch Deutschland, wies einen Zusammenhang zwischen den EU-Klimaschutzplänen und dem Preisanstieg zurück und warnte vor Eingriffen in den Energiemarkt. "Die einzige dauerhafte Lösung gegen Preisschwankungen und die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen sind mehr erneuerbare Energie und Energieeffizienz", sagte auch EU-Energiekommissarin Kadri Simson.
    Ausbau der erneuerbaren Energien - was ist machbar?
    Diskutiert wurde auch, welche Rolle die Atomkraft spielen könnte - im Kampf gegen hohe Energiepreise und für mehr Klimaschutz. Um das EU-Ziel der Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen, sind neben dem Ausbau erneuerbarer Energien nach Ansicht vieler Experten Brückentechnologien wie Gas oder Kernenergie nötig. Die Kommission habe nun klar signalisiert, dasssie Erdgas als Brückentechnologie sieht.
    Finn Wendland (IW Köln): Erdgas kann Brückentechnologie sein (03.01.2022)

    Wer setzt sich in der EU für Atomkraft ein?

    Nach den Worten des slowenischen Infrastrukturministers Jernej Vrtovec, dessen Land aktuell die EU-Ratspräsidentschaft innehat, gibt es unter den EU-Staaten einige Atomkraft-Befürworter: "Viele Mitgliedstaaten glauben, dass Kernenergie eine langfristige Lösung sein könnte, denn Erneuerbare und Kernenergien könnten einen Beitrag leisten zur Energieunabhängigkeit und auch um die Klimaziele zu erreichen."
    Vor allem Frankreich wirbt für die Kernenergie und argumentiert dabei mit dem Erreichen der Klimaschutzziele. Auch in Italien brachte Umweltminister Roberto Cingolani eine mögliche Rückkehr der Kernenergie ins Spiel. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron forderte auf dem jüngsten EU-Gipfel einen Ausbau der Atomkraft in Europa als Instrument im Kampf gegen den Klimawandel. Macron hatte für den anstehenden Präsidentschaftswahlkampf zuletzt Investitionen in Atomkrafttechnologien von einer Milliarde Euro angekündigt.
    Frankreich will mit Kernkraftwerken CO2-Ziele erreichen
    Frankreich sei "sehr abhängig" von Nuklearenergie, erklärte der deutsch-französische Politologe Christoph Rath-Fischer im Dlf. In dem Nachbarland sei eine Situation gewachsen, aus der sich nicht einfach aussteigen lasse und in der Investitionen in erneuerbare Energien lange ausgebremst worden seien. Inzwischen steige der Anteil erneuerbarer Energien auch in Frankreich, allerdings nicht im gleichen Maße und in der gleichen Geschwindigkeit wie in Deutschland.
    Politologe Christoph Rath-Fischer: Frankreich ist "sehr abhängig" von der Atomkraft (09.01.2021)
    Auf dem EU-Gipfel argumentierten mehrere Länder damit, dass sie das Erreichen der Klimaschutzziele, im ersten Schritt ein Absenken des CO2-Ausstoßes bis 2030 um mindestens 55 Prozent im Vergleich zu 1990, nicht ohne Atomenergie bewältigen könnten. Polen etwa, das 70 Prozent seines Stroms mit Kohle produziert, kann nach einem Kohleausstieg nicht so schnell auf Erneuerbare Energien umstellen. Deshalb setzt die polnische Regierung auch künftig stark auf Kernenergie und verhandelt mit dem französischen Staatskonzern EDF über den Bau neuer Atomkraftwerke. Auch Tschechien, Bulgarien oder Rumänien wollen vorerst an der Atomkraft festhalten.
    Insgesamt zehn Staaten setzten sich auf dem EU-Gipfel dafür ein, Investitionen in Atomenergie auf EU-Ebene als "grüne Investitionen" einstufen zu lassen, mit dem Ziel, dadurch mehr Investoren anzuziehen.

    Welche Rolle spielt Deutschland?

    Die Gegner von "grünem Atomstrom" sind innerhalb der EU in der Mehrzahl - Widerstand kommt vor allem aus Deutschland und Österreich, aber auch aus Dänemark, Spanien, Portugal, Griechenland und den baltischen Ländern.
    Luxemburgs Energieminister und Grünen-Politiker Claude Turmes sagte allerdings im Deutschlandfunk, er vermisse eine klare "Anti-Atom-Außenpolitik" von Deutschland. Mit dem früheren Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) sei Europa gut vorangekommen, so Turmes. Unter Habecks Vorgänger im Ministeramt, Peter Altmaier (CDU), seien es zuletzt "vier verlorene Jahre" gewesen. "Das muss man jetzt wieder aufholen."
    Die Chancen, dass der Vorstoß der EU-Kommission unter anderem durch Deutschland gekippt werden könnte, sind nach Einschätzung von Dlf-Hauptstadtkorrespondent Klaus Remme indessen "verschwindend gering".
    Nach einem Bericht der "FAZ" soll ein industrienaher Aktionskreis im Vorfeld der Koalitionsverhandlungen an die FDP herangetreten sein, mit einem Papier, wonach eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke in Deutschland "technisch möglich" sei. Die einzige Partei im Bundestag, die den Atomausstieg offen kritisiert und rückgängig machen möchte, ist allerdings bislang die AfD.
    Die Statistik zeigt den Anteil der einzelnen Energieträger an der Nettostromerzeugung in Deutschland im Jahr 2020.
    Die Nettostromerzeugung beschreibt die insgesamt erzeugte Strommenge abzüglich des Eigenenergiebedarfs der Kraftwerke. Im Jahr 2020 wurden rund 17 Prozent des in Deutschland erzeugten Nettostroms aus dem fossilen Energieträger Erdgas gewonnen. (Deutschlandfunk / Andrea Kampmann)

    Wie wird die Diskussion in Deutschland geführt?

    Nach einer aktuellen Umfrage der Europäischen Entwicklungsbank sprechen sich in Deutschland nur zwölf Prozent der Bevölkerung für einen Ausbau der Atomenergie aus, um die Erderwärmung zu bekämpfen. Allerdings machten sich die zuletzt stark gestiegenen Energiekosten im Stimmungsbild bemerkbar: Im RTL/ntv-Trendbarometer in Zusammenarbeit mit Forsa hielten 42 Prozent der befragten Bundesbürger die Abschaltung aller Kernkraftwerke für einen Fehler.
    Für eine Einstufung von Kernenergie als klimafreundlich spricht sich etwa Klaus-Peter Willsch von der CDU aus. Er hat nach eigenen Angaben 2011 gegen Deutschlands Atomausstieg abgestimmt. Atomenergie werde erzeugt ohne CO2-Ausstoß, das sei objektiv nicht von der Hand zu weisen, argumentierte Willsch am 30.12.2021 im Dlf.
    Der Oppositionspolitiker Willsch nennt den Ausstieg Deutschlands nach einem "panikartigen Beschluss" von 2011 einen Fehler und fordert eine offene Diskussion ohne Denkverbote. In Deutschland werde "viel ideologisch blockiert". Es gebe neue Reaktortypen, die inhärent sicher seien und sogar durch Wiederverwertung von Brennstäben das "Restmüllproblem" lösen könnten.
    Interview mit Klaus-Peter Willsch (CDU), Bundestagsabgeordneter (30.12.2021)
    Vertreterinen der Regierungsparteien warnten vor einer Renaissance der Atomkraft in Europa. "Ich halte Atomkraft nicht für die richtige Technik", sagte Robert Habeck (Grüne) im Dlf. "Ausgerechnet Atomenergie als nachhaltig zu etikettieren, ist bei dieser Hochrisikotechnologie falsch" erklärte Wirtschafts- und Klimaminister Habeck.
    Interview mit Robert Habeck (Grüne), Bundeswirtschafts- und Klimaschutzminister (20.12.2021)
    Bundesumweltministerin Steffi Lemke (ebenfalls Bündnisgrüne) kritisierte am 30.12.2021 in den Zeitungen der Funke-Mediengruppe "Märchen und Mythen von AKW-Konzepten, die weder die Sicherheitsprobleme noch die Endlagerfrage lösen".
    Auch die klimapolitische Sprecherin der SPD, Nina Scheer, sagte im Deutschlandfunk, grundsätzlich sei klar, dass die Bundesregierung den Vorschlag der EU-Kommission ablehne. Allerdings handele es sich um ein vorläufiges Papier. Nun setze ein Konsultationsprozess ein, in dem die EU-Kommission davon überzeugt werden müsse, dass Atomkraft nicht als nachhaltig oder grün einzuordnen sei. Aber auch danach hätte eine solche Einordnung noch hohe Hürden zu nehmen, beispielsweise im EU-Parlament, betonte Scheer.
    Interview mit Nina Scheer (SPD), klimapolitische Sprecherin (04.01.2021)

    Wie weit ist der Atomausstieg in Deutschland?

    In Deutschland hatte die rot-grüne Regierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) vor rund 20 Jahren den Atomausstieg beschlossen. 2010 kam es unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zum "Austieg aus dem Ausstieg" - damals wurden Laufzeitverlängerungen deutscher Kernkraftwerke beschlossen. Nach dem Nuklearunfall in Fukushima im März 2011 wurde diese Entscheidung wieder zurückgenommen und beschlossen, dass bis 2022 alle Atommeiler vom Netz gehen sollen.
    Zum Jahresende 2021 gingen drei Atomkraftwerke in Deutschland planmäßig vom Netz:
    • Grohnde in Niedersachsen
    • Brokdorf in Schleswig-Holstein
    • Grundremmingen C in Bayern
    Damit verbleiben drei Atommeiler: Emsland, Neckarwestheim 2 und Isar 2. Auch diese sollen 2022 stillgelegt werden.
    Nachbarländer wie Frankreich und Polen setzen hingegen weiterhin auf Kernkraft, zum Teil in Form neuartiger Mini-Anlagen. Auch Großbritannien plant einen neuen Atommeiler.

    Kann Atomenergie überhaupt zu mehr Klimaschutz beitragen?

    Der Thinktank "Scientists for Future" hat das in seiner am 27.10.2021 vorgelegten Studie klar verneint: Kernenergie könne nicht zur Lösung der Klimakrise beitragen, sie sei "zu langsam ausbaufähig, zu teuer und zu risikoreich", so das internationale Team aus Wissenschaftlern um Energiewirtschafts-Experte Ben Wealer und Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. „Die Wissenschaft ist sich darüber einig, dass Atomkraft nicht nachhaltig ist“, sagte Wealer am 4.1.2022 im Dlf. Wer in diese Energieformen investiere, blockiere damit Innovation. Das Geld wäre in erneuerbare Energien sinnvoller investiert.
    Investition in Atomkraft und Gas „das falsche Signal“ - Interview mit Ben Wealer (4.1.2022)
    Das Wissenschaftsteam aus Berlin erteilte auch einem Mix aus erneuerbaren Energien und Atomkraft, wie er etwa in Japan praktiziert wird, eine Absage. Kernenergie behindere strukturell den Ausbau der erneuerbaren Energien, die schneller verfügbar, kostengünstiger und ungefährlich seien. "Ein Beibehalten der Kernkraft durch Weiterbetrieb oder Verlängerung der Laufzeiten würde in den nächsten zehn Jahren nicht zu einer wesentlichen Reduktion der Treibhausgasemissionen führen", heißt es in der Studie der "Scientists for Future".
    Auch Luxemburgs Energiepolitiker Turmes nannte im Dlf-Interview beispielhaft die explodierenden Kosten der geplanten gemeinsamen Reaktoren von Siemens und Framatome. Zudem wies er daraufhin, dass die von Frankreichs Präsident Macron vorangetriebenen neuen Atomkraftwerke "frühestens 2038 oder 2042" fertiggestellt werden könnten. Bis dahin sei "der Klimaschutz verloren".
    Fässer mit radioaktivem Abfall stehen neben einem Weg im Zwischenlager der Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe (WAK)
    Radioaktiver Abfall - Die Suche nach einem deutschen Atommüll-Endlager
    Noch befindet sich der hochradioaktive Atommüll aus deutschen Kernkraftwerken in Zwischenlagern. Bis 2031 soll ein Endlager-Standort gefunden werden. Aus geologischer Sicht ist dafür halb Deutschland geeignet.

    Ausblick

    Die Stromversorgung allein durch erneuerbare Energien bezeichnen Experten wie Energie-Experte Georgios Stamatelopoulos als „volatil“. Das bedeutet, dass je nach Wetterlage die Stromversorgung nicht gesichert sein könnte, wenn es zum Beispiel eine zu geringe Sonneneinstrahlung oder geringes Windaufkommen gibt. Zudem müsse man aufgrund steigender Nutzung von E-Autos mit erhöhtem Strombedarf rechnen, so der Vorsitzende des VGB Power Tech, dem technischen Verband der Energie-Anlagenbetreiber.
    Unklar ist, welche Rolle „grüne Gase“ wie Wasserstoff spielen können. In der Nutzung gibt es mit Wasserstoff keine Emissionen. In dem Bereich gibt es aber derzeit keine Anlagen, die in Serienreife produziert werden können.Die Bundesregierung hat zuletzt ein größeres Programm für die weitere Erforschung der Wasserstofftechnik aufgesetzt.
    Auch im Bereich Kernenergie wird weiter an sicheren Technologien geforscht. So haben deutsche Wissenschaftler den sogenannten Dual Fluid Reaktor entwickelt – sie versprechen sichere Kernenergie ohne langlebige, radioaktive Abfälle. Atomkraftwerke verbrennen nur 5 Prozent der radioaktiven Stoffe. Ein Dual-Fluid-Reaktor könnte auch die restlichen Stoffe nutzbar machen und daraus Energie gewinnen. Doch auch diese Technologie ist bislang Theorie.
    Quellen: Peter Kapern, fmay, AFP, dpa, Scientists for Future Deutschland, SWR