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Kirchen und EU
"Lobbyismus ist nicht prinzipiell schlecht"

12.000 Lobby-Organisationen sind bei der EU offiziell gelistet. Darunter sind auch 53 religiöse Organisationen. Aber nur vier Kirchen unterhalten ständige Büros in Brüssel. Sie treffen im Parlament oft auf offene Ohren.

Von Samuel Jackisch | 02.05.2019
Die Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ist eine der vier Kirchen mit einem ständigen Büro in Brüssel. Hier ihr Ratsvorsitzender Heinrich Bedford-Strohm mit Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ist eine der vier Kirchen mit einem ständigen Büro in Brüssel. Hier ihr Ratsvorsitzender Heinrich Bedford-Strohm mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (imago stock&people)
Die Europäische Union ist ein Staatenbund in der Tradition des Westfälischen Friedens: Die politische Ordnung ersetzt religiöse Identität. Alle Staatsgewalt soll vom Volke ausgehen, nicht "von Gottes Gnaden". Spirituelle "Götterfunken" beschränken sich auf die Hymne.
Die EU soll integrativ sein, überparteilich, überkonfessionell. Sie vereint nicht nur katholische, evangelische, orthodoxe und anglikanische Konfessionen, sondern auch unterschiedliche Staat-Kirchen-Modelle: Das deutsche Kooperationsmodell, mit einer herausgehobenen Stellung der Kirche, trifft in der EU auf den kategorischen Laizismus aus Frankreich, auf die apolitischen Volks- und Staatskirche aus dem Norden, und auf die dezidiert christlichen Nationalmythen Osteuropas.
Dialog mit den Kirchen
Ihr politisches Verhältnis zu ihren Kirchen regelt die EU erst spät: 1999, im Vertrag über die Arbeitsweise der EU. Heute heißt es in Artikel 17, Absatz drei der Lissabon-Verträge:
"Die Union pflegt mit diesen Kirchen und Gemeinschaften in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrages einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog."
151 verschiedene Kirchen gibt es in der EU – und viele sind in Brüssel vertreten. Sie beraten, netzwerken, veranstalten Seminare und Konferenzen. Regelmäßig treffen sie die Präsidenten von Kommission, Rat und Parlament. Ebenso wie Vertreter jüdischer und muslimischer Gemeinschaften.
"Interessiert daran, was Kirche zu sagen hat"
Aber ein ständiges Verbindungsbüro unterhalten nur vier Kirchen, darunter die Evangelische Kirche in Deutschland, EKD. Dessen Leiterin ist die Juristin Katrin Hatzinger.
"Die Vertreter in Brüssel, sei es im Parlament oder in der Kommission, sind recht offen und interessiert daran, was Kirche zu sagen hat. Wir können uns im Zweifel auf diesen Artikel berufen, aber in der Praxis sieht es so aus, dass wir das Gespräch suchen mit Beamten, Abgeordneten und natürlich öffentliche Verfahren zur Konsultation nutzen."
Aus Sicht der Kommission vertritt Katrin Hatzinger keine Instanz mit Wahrheitsanspruch. Sondern lediglich eine von tausenden so genannten "multi-issue non-profit-Organisationen" – also nicht-gewinnorientierte Organisationen, die sich für verschiedene Themen einsetzen.
"Das ist ein faires Geben und Nehmen"
Das Transparenz-Register der Europäischen Kommission listet alle NGOs, Verbände, Behörden, Kanzleien, Unternehmen, Lobbygruppen und Think Tanks auf, die in Brüssel gehört werden wollen. Es hat 12.000 Einträge. Gerade einmal 53 davon, gehören zu Religionsgemeinschaften.
Mit Abstand die einflussreichste religiöse Lobby in Brüssel sind die evangelische und katholische. Juden, Muslime, orthodoxe und freie Kirchen bilden zwar ebenfalls Komitees, sind also ansprechbar, betreiben letztlich aber nur Briefkästen. Die großen Kirchen Westeuropas hingegen beziehen aktiv Position in der EU-Politik.
"Ich habe auch kein Problem damit, als Lobbyisten bezeichnet zu werden. Weil für mich Lobbyismus bedeutet, Informationen und Erfahrungswerte bereitzustellen. Und dann ist es an denen, die Entscheidungen politische verantworten, ob sie damit etwas anfangen können. Ich finde, das ist ein faires Geben und Nehmen."
"…dass die Kirchen gute Partner sind"
Hauptaufgabe des EKD-Büros in Brüssel ist, das deutsche Staatskirchenrecht samt Kirchenfreiheit zu erhalten und gegen EU-Recht zu verteidigen. Etwa beim Arbeitsrecht – schließlich sind die Kirchen und ihre Sozialverbände zusammengenommen der größte Arbeitgeber in Deutschland.
Darüber hinaus leiten die europäischen Kirchen aus ihrem Verkündigungsauftrag ab, in Brüssel ihre Vorstelllungen von Gesellschaft einzubringen. Europäisch abgestimmt als überkonfessionelle CEC, Konferenz Europäischer Kirchen – oft auch gemeinsam mit der katholischen Kommission der Bischofskonferenzen in der EU, kurz COMECE.
"Papst Franziskus hat zur Feier ‚60 Jahre Römische Verträge‘ auch zu einer Tagung in den Vatikan geladen. Auch mit kleiner ökumenischer Beteiligung. Das fand ich nachhaltig: Trotz aller innerkatholischen Verwerfungen gibt es ein starkes Bekenntnis zum geeinten Europa. Das haben auch Politik und Verwaltung hier erkannt, dass die Kirchen gute Partner sind."
Kaffee, Croissants und Kirche
Adressat kirchlicher Lobbyarbeit bei der Europäischen Union ist vor allem die EU-Kommission, aber auch die beiden anderen Kammern: der Rat und das Parlament.
Im Europaparlament richtet sich kirchliche Lobbyarbeit direkt an die Abgeordneten. Es gibt Gesprächskreise speziell für christliche Abgeordnete und Frühstücksrunden mit Kaffee und Croissants. Zum Beispiel für Peter Liese. Er sitzt seit 24 Jahren für die konservative EVP-Fraktion im Europaparlament. Als CDU-Politiker, Mediziner, Katholik. Seine Themen sind:
"Der Schutz der Menschenwürde, der Schutz des menschlichen Lebens am Anfang und am Ende. Gentechnik muss dem Menschen dienen. Nicht alles was technisch möglich ist sollte auch erlaubt sein. Diese Fragen beschäftigen mich, seit ich als Jugendlicher angefangen habe, mich zu engagieren und ich finde sie noch heute sehr wichtig."
"Leider haben Wirtschaftsverbände den meisten Einfluss"
Die Christlichen Kirchen versuchen, ihre politischen Kräfte in Brüssel zu bündeln: 2001 verabschiedete die Konferenz Europäischer Kirchen eine gemeinsame Agenda, die "Charta Oecumenica". Sie gibt bis heute die Themen vor: Menschenrechte, Nachhaltigkeit, Frieden und Freiheit; Ehrfurcht vor Leben, Ehe und Familie; Toleranz, Vergebung, Barmherzigkeit. Liese:
"Es ist nicht so, dass ständig vertrauliche Gespräche von Kirchenvertretern mit politischen Entscheidungsträgern stattfinden. Das ist unterbelichtet im Vergleich zu anderen Akteuren hier in Brüssel. Leider haben die Wirtschaftsverbände hier mit Abstand den meisten Einfluss. Dann kommen die Umweltverbände, Tierschutzorganisationen und die Kirchen kommen ganz weit hinten."
"Drohnen zu Windrädern"
Ihren Glauben als ethisch-moralische Richtschnur im politischen Alltag pflegen nicht nur konservative Abgeordnete. Auch den Sozialdemokraten und Europaabgeordneten Arne Lietz hat seine Jugend als Pfarrerssohn in der DDR politisiert, inmitten der Umwelt- und Friedensbewegung.
"Dieses Symbol ‚Schwerter zu Pflugscharen‘ heißt für mich heute ‚Drohnen zu Windrädern‘. Dass wir Abrüstung und Neugestaltung unserer Rüstungsindustrie – was ich jetzt gerade als Verteidigungspolitiker mache – diesem Bild unterordnen können. Und daran sieht man, wie politisch die Bibel und religiöse Dinge sind, wenn man sie in den Alltag, in die Politik zieht."
Aber wie neutral kann ein Politiker entscheiden, gegenüber der Kirche, deren Mitglied er ist? Vor allem, wenn es nicht nur um ethische Fragen, sondern um wirtschaftliche Interessen geht – etwa bei EU-Richtlinien, zur Mehrwertsteuer, zu Bauaufträgen und Fördergeldern?
"Lobbyismus ist nicht prinzipiell schlecht"
Als Land- und Immobiliengroßbesitzer haben die Kirchen ein legitimes Interesse, Verordnungen zu Schieferdächern oder energetischer Sanierung alter Gebäude durch Lobbyarbeit zu beeinflussen. Maria Noichl, Europaabgeordnete der bayerischen SPD, evangelisch:
"Ich erlebe kirchliche Lobbyarbeit nicht in der Weise, dass sie mir Änderungsanträge schreiben. Das machen andere. Und Lobbyismus, das muss ich deutlich sagen, ist nicht prinzipiell schlecht."
Sven Giegold, Grüner Europapolitiker, Mitbegründer des globalisierungs-kritischen Netzwerks Attac, engagiert sich für den Deutschen Kirchentag:
"Ganz viele NGOs haben auf der einen Seite Eigeninteressen und auf der anderen einen gemeinwohlorientierten Auftrag. Als Politiker muss man nur wissen, dass immer dann wenn Eigeninteressen berührt sind, niemand heilig ist."
"Das finde ich unproblematisch"
Gegen offene und verdeckte Einflussnahme von Lobbyisten auf die europäische Gesetzgebung ist Sven Giegold eine der lautesten Stimmen im Europaparlament. Weniger kritisch sieht er die Rolle von Prälaten wie Karl Jüsten oder Martin Dutzmann. Sie sind für die katholische und evangelische Kirche die obersten Interessenvertreter bei der Bundesregierung und versuchen, auch deutsche Entscheidungen bei der EU zu beeinflussen.
"Das heißt nicht, dass ich jedes Wort, was Interessenvertretung ist, von Herrn Jüsten oder Herrn Dutzmann, gut finden muss. Nur weil ich gleichzeitig ihren Predigten folge oder ihren Liturgien. Das finde ich ehrlich gesagt persönlich sehr unproblematisch."
"Krisensymptom des politischen Systems"
Wenn Vertreter der Macht sich auf religiöse Identität berufen, dann implizieren sie für ihre politische Entscheidung einen kirchlichen Segen. Das sei bedenklich, findet der Philosoph und Politikwissenschaftler Frieder Otto Wolf:
"Das ist regressiv, ein Rückfall in Kindlichkeit. In die Aufgabe der eigenen Handlungsfähigkeit. Und das ist beunruhigend, wenn große Teile der Wähler glauben, keine Handlungsfähigkeit zur Lösung ihrer dringlichen Probleme mehr zu haben und stattdessen hoffen, dass jemand von oben ihnen das abnimmt. Das ist dann aber auch Krisensymptom des politischen Systems."
Frieder Otto Wolf saß selbst zweimal im Europaparlament. Für die Grünen, in den 80er- und 90er-Jahren. Schon damals beobachtet er in Debatten den regelmäßigen Rückgriff auf das Religiöse, um die rationale Bewältigung von Krisen zu ersetzen.
"Das, denke ich, ist im eigentlichen wohlverstandenen Interesse der Kirchen: diese Art von komplizenhafter Verstrickung mit der Staatsmacht zu überwinden."