Freitag, 17. Mai 2024

Kommentar zum Kita-Notstand
Nicht nur Erzieher, auch Eltern sollten streiken

Der Betreuungsnotstand in Deutschland ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, unter dem vor allem Kinder aus weniger privilegierten Haushalten und Frauen leiden. Unsere Autorin fordert ein Sofortprogramm, um Fachkräfte zu gewinnen.

Ein Kommentar von Lena Sterz | 03.12.2023
Kleine bunte Gummistiefel in der gut gefüllten Garderobe in der Kindertagesstätte
Kita-Notstand: Die Nachfrage nach Betreuungsplätzen ist groß, aber das Angebot kommt nicht hinterher - und wird wahrscheinlich weiter schwinden. (imago / Bernhard Classen)
Was die Studie der Bertelsmann-Stiftung in dieser Woche zutage brachte, ist die Spitze eines ziemlich großen Eisbergs. Dass mehr als 400.000 Familien in Deutschland einen Betreuungsplatz suchen und keinen finden, ist ein unschöner Rekord für eine Bildungsnation wie Deutschland. Und für die betroffenen Familien häufig eine finanzielle Katastrophe. Denn sie glaubten ja, in einem Land zu leben, in dem man einen Rechtsanspruch auf Betreuung ab dem ersten Geburtstag hat. Dass dieser Rechtsanspruch nur auf dem Papier existiert, erfahren sie manchmal erst, wenn das Kind schon längst auf der Welt ist.
Was aber schwer erfassbar ist, ist das, was unter der besagten Spitze liegt. Statt Bildungskonzepte zu erarbeiten, müssen Kitas heute Notbetreuungs-Konzepte entwickeln. Wegen des Personalmangels können Kitas die vertraglich vereinbarten Öffnungszeiten immer seltener einhalten und müssen teilweise einzelne Tage, teilweise ganze Wochen schließen. 
Dieser untere Teil des Eisbergs ist schwer zu quantifizieren, aber einige Zahlen gibt es doch: Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung hat zum Beispiel im Frühjahr in einer Umfrage  herausgefunden, dass bei mehr als der Hälfte der befragten Familien die vertraglich vereinbarten Kita-Öffnungszeiten nicht immer eingehalten werden. In einer Umfrage  des Paritätischen Wohlfahrtsverbands gaben 60 Prozent der Befragten an, zu wenig Personal in ihrer Kita zu haben, um den Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden. 70 Prozent geben an, regelmäßig Überstunden machen zu müssen. Laut der Barmer Krankenkasse haben Erzieher und Erzieherinnen den höchsten Krankenstand aller Berufsgruppen. Das alles bedingt sich gegenseitig und führt dazu, dass auch Menschen immer häufiger kündigen, die eigentlich gerne in der Kita arbeiten.

Betreuungsnotstand triff vor allem die untere Mittelschicht

Der Betreuungsnotstand trifft auf den ersten Blick alle sozialen Schichten gleichermaßen, auf den zweiten Blick trifft er die untere Mittelschicht am härtesten. Denn in benachteiligten Stadtteilen ist der Personalmangel größer.    Während sich privilegierte Familien private Hilfe organisieren können, die für Kinderbetreuung und Haushalt einspringt, haben benachteiligte Familien keine Ressourcen, um das staatliche Versagen zu kompensieren, und ziehen im Wettbewerb um die besten Kita-Plätze sowieso öfter den Kürzeren, hat kürzlich eine Studie belegt.
Dabei sind es besonders diese Kinder, die laut Studien von einer frühkindlichen Bildung profitieren, die ihrem Auftrag gerecht wird und nicht nur auf eine Verwahrung hinausläuft. Der Betreuungsnotstand in Deutschland ist deshalb ein gesamtgesellschaftliches Problem. Und er wird auch nicht einfach so wieder verschwinden. Im Gegenteil: Er wird sich offiziellen Prognosen zufolge noch verschärfen.
Es droht nicht nur flächendeckend Gefahr für das Kindeswohl aufgrund sinkender Betreuungsstandards. Es droht auch eine Rolle rückwärts in die 80er-Jahre, als es ja in Westdeutschland der Normalfall war, dass Frauen maximal drei Stunden arbeiteten und deshalb auch seltener die wichtigeren Jobs bekamen. Mit der Kita-Krise stehen die Fortschritte in der Gleichberechtigung auf dem Spiel, denn nach wie vor deuten alle Zahlen darauf hin, dass es im Zweifel die Mütter sind, die ihre Arbeitszeit reduzieren.

Nicht nur Erzieher, auch Eltern sollten streiken

Die Kita-Krise kann nur gestoppt werden, wenn Sofortprogramme aufgesetzt werden, um Fachkräfte zu gewinnen. Chefs und Chefinnen müssen Verständnis dafür haben, wenn Eltern kleiner Kinder ihre Arbeit nicht so erledigen können, als ob es die Kleinen und die Kita-Krise nicht gäbe.
Vielleicht reicht es auch nicht, wenn wie diese Woche die Erzieher und Erzieherinnen streiken. Vielleicht müssten erst alle Eltern streiken und sich einen Tag lang nur um ihre Kinder kümmern, damit Deutschland merkt, dass eine verlässliche Betreuung und Bildung keine Privatsache ist.