Freitag, 29. März 2024

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Klaus Kordon: „Und alles neu macht der Mai“
Fremde im eigenen Land

Der Heimatverlust der Deutschen aus den Ostgebieten 1944/45 ist ein in der Nachkriegsliteratur lange gemiedenes Thema. Klaus Kordon beschreibt die dramatische Flucht einer Mutter mit ihren vier Kindern aus der Sicht der 16-jährigen Renate. Das Ankommen als „Polacken“ im eigenen Land ist nicht leicht.

Von Christoph Vormweg | 21.08.2021
Ein Portrait des Schriftstellers Klaus Kordon und das Buchcover seines Romans "Und alles neu macht der Mai"
Klaus Kordon erzählt in seinem neuen Jugendroman von den Monaten vor Ende des Zweiten Weltkrieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit (Buchcover Beltz & Gelberg, Autorenportrait © Wonge Bergmann)
Schreiben ist für die 16-jährige Renate, genannt Rena, Selbsttherapie. Doch will sie die Geschichte ihrer Flucht im Winter 1944/45 aus dem besetzten Polen nach Westen auch ihrer kleinen Schwester Jutsch erzählen. Die Zweijährige soll später erfahren, was sie zusammen mit ihrer Mutter, dem neunjährigen Kutti und dem 13-jährigen Jockel erlebt hat, ohne es verstehen zu können: vom Verlust des Elternhauses in einem Dorf bei Posen bis hin zum schwierigen Neuanfang als unerwünschte "Polacken" auf einem Bauernhof bei Hamburg.

Nur vorläufig gerettet

Als Rena im eisigen Winter zum Stift greift, sind sie nur vorläufig gerettet. Der Zweite Weltkrieg geht in die Schlussphase. Noch kämpft ihr Vater in Russland, falls er nicht längst gefallen ist. Und die Truppen der Alliierten rücken näher. Sicher ist nur: Auf dem Bauernhof von Frau Griess fühlen sich die fünf als Fremde im eigenen Land.
",Bewegen' sollen wir uns! Nur nicht faul im Zimmer ,herumlungern'! Unterkunft, Brot und Suppe müssen abgearbeitet werden. Sie habe nichts zu verschenken, sagt sie. Oder ob wir etwa glaubten, dass das einfach sei, als alleinstehende Bäuerin einen Hof zu bewirtschaften. Sie könne nicht ewig Rücksicht auf andere nehmen. Sie ist eine so unfreundliche Frau, bemüht sich kein bisschen, uns unser Hiersein ein wenig erträglicher zu machen. Wir sollen uns nachts besser zudecken, wenn wir frieren! Immer wieder sagt sie das. Und das nur, um Holz und Kohlen zu sparen. [...] – Nein, ich mag sie nicht. Sagen jedoch darf ich das nicht."

Eine Durchschnittsfamilie im Dritten Reich

Klaus Kordons Roman "Und alles neu macht der Mai" beschreibt den Weg einer deutschen Durchschnittsfamilie im Dritten Reich. Der Vater, ein früher Nazi, hat sich als Straßenbauingenieur den Umzug in ein großes Dorfhaus im eroberten Westpreußen verdient. Wie er himmeln auch Frau und Kinder den Führer Adolf Hitler an.
Mit der Flucht aus dem trauten Heim aber machen sich Zweifel in den Köpfen breit. Was wird, so fragt sich die verunsicherte Rena, "wenn wir am Ende nicht die Sieger sind"? Die 16-Jährige erinnert sich an Szenen der Zugfahrt, an die Angriffe von Jagdfliegern auf Alte, Frauen und Kinder, an die Ankunft im bereits stark zerstörten Berlin - und an früher: so an den Moment, als ihr geliebter Vater, genannt Pappka, Richtung Front ziehen musste und ihre Mutter weinte.
"Pappka wurde immer ärgerlicher. ,Aber Lotte! Jetzt reiß dich doch mal zusammen! Der Krieg ist schließlich Sache des ganzen Volkes. Wehrdienst ist Ehrendienst, verdammt noch mal! Würde ich mich davor drücken, müsstet ihr euch dann nicht für mich schämen?'
Momms Sorgen wurden trotzdem nicht weniger. Und meine auch nicht. […] Jockel war mutiger. ,In keinem Krieg fallen alle Soldaten', sagte er mit streng zusammengezogenen Augenbrauen, als ich ihm auf dem Globus zeigte, wie groß die Sowjetunion ist. ,Und darf Pappka denn nur an sich selbst denken? Es geht um unser heiliges Deutschland. Wenn ich dürfte, ich würde mit ihm gehen.'"
Klaus Kordons Roman überzeugt mit einem spannungsreichen Plot, der in alltäglichen Szenen die wachsenden gesellschaftlichen Risse im untergehenden Nazi-Deutschland freilegt – gerade in den sprachlichen Details. Denn in den Köpfen der Kinder und Jugendlichen schwirren weiterhin die Sprüche und Allmachtsphantasien der Nazi-Propaganda. Das führt zu innerfamiliären Konflikten, als Rena den Pastorensohn Klaas Beckers kennen und lieben lernt. Denn dessen Vater ist im Konzentrationslager gestorben, weil er nicht aufhörte, die Unmenschlichkeit des Nazi-Regimes zu kritisieren.

Überleben ist nur das Eine

In einer klaren, eingängigen, sinnlich wahrnehmenden Prosa beschreibt Klaus Kordon die wechselnden Stimmungslagen in der Familie. Es sind die Nuancen, die sein Jugendbuch so stark machen: die genau herausgearbeiteten Widersprüchlichkeiten und Ängste der Charaktere.
Überleben, das zeigt Kordons Roman überdeutlich, ist nur das eine. Das andere ist, dass man das Gesehene und Erlittene auch verarbeiten muss. Denn Hiobsbotschaften gibt es genug. Das Haus in Berlin, in dem die Familie Onkel Egon sucht, ist durch die Flächenbombardements der Alliierten völlig zerstört worden und er im Luftschutzkeller erstickt. Und der andere Onkel, der linke Rudi, wurde abgeholt und mit seiner Ehefrau enthauptet.
Bleibt das "Kuhdorf" bei Hamburg, wo Rena die Ankunft der englischen Soldaten erlebt. Ihr geliebter Klaas kapituliert für sie alle. Mit einer weißen Fahne läuft er kurzerhand auf den Feind zu und rettet so die vom Bürgermeister zusammengerufenen Kämpfer des kläglichen "Volkssturms" vor dem sicheren Tod.

"Neubeginn" 1945

Auf die Kapitulation Deutschlands folgt der Neubeginn im Mai 1945. Doch entpuppen sich viele Alt-Nazis, wie Klaus Kordon vorführt, als gewiefte Wendehälse. Selbst Denunzianten mischen weiter mit. Und auch Pappka, dem mit Glück die Flucht aus einem russischen Lazarett gelungen ist, zeigt sich wenig reumütig. Die familiäre Aufarbeitung von zwölf Jahren Hitler-Diktatur ist schmerzhaft. Immer öfter geraten Rena und ihr Vater aneinander. Denn über ihren Freund Klaas erfährt sie von den unvorstellbaren Gräueltaten in den deutschen Konzentrationslagern.
"Ja, und das mit unserem Haus? Rede ich mir da nur etwas ein? – Doch was, wenn zuvor wirklich Juden oder Polen darin gewohnt haben und ich auf diese Frage nie eine Antwort bekommen werde, weil weder Pappka noch Momm es wirklich wissen? Bleibt er dann ewig, dieser Verdacht? Hab das gestern aufgeschrieben – und hab danach erneut lange wach gelegen. Hatte schon wieder Kopfschmerzen. Und kaum war ich am Morgen aufgestanden, wusste ich: Ich muss mit Klaas über all das reden, dem Einzigen, mit dem ich wirklich reden kann."

Auch für Erwachsene lohnend

Die Lektüre von Klaus Kordons Roman "Und alles neu macht der Mai" lohnt nicht nur für Jugendliche ab 14 Jahren, sondern auch für Erwachsene. Denn in fast allen Nachkriegsfamilien wurde die eigene Schuld verdrängt und vertuscht. So redet sich Renas Vater immer wieder heraus, wenn es konkrete Fragen gibt. Einige Kameraden hätten sich die Hände schmutzig gemacht, er aber nicht - so eine seiner Standardantworten.
Was Rena glauben soll, weiß sie nicht genau. Sie ist zerrissen. Und während ihr Freund Klaas nach Hamburg zieht, um für die englischen Besatzer zu arbeiten, sucht ihre Familie den Neuanfang in Frankfurt am Main: in einem Bunker, mitten unter Schwarzmarkthändlern und Trümmerfrauen. Für Spannung ist also bis zum letzten Kapitel gesorgt.
Klaus Kordon: "Und alles neu macht der Mai"
Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim. 443 Seiten, 22 Euro, ab 14 Jahren.