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Koloniales Erbe
Großbritanniens blinde Flecken

Umgestürzte Denkmäler, Demonstrationen, Kritik an der Nationalhymne: Die Kolonialismus-Debatte lässt Großbritannien nicht los. Jetzt gewinnt die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit an Dynamik und zeigt erste sichtbare Veränderungen.

Von Thomas Spickhofen | 18.09.2020
Die Statue von Colston wird von Demonstranten in den Fluss Avon in Bristol geworfen.
Edward Colston war ein Sklavenhändler, bei den "Black Lives Matter"-Protesten wurde seine Statue versenkt. (picture alliance/ NurPhoto/ Giulia Spadafora)
Mit Edward Colston geht es los. Anfang Juni holen "Black Lives Matter"-Demonstranten in Bristol die Statue vom Sockel, die diesen Mann als Wohltäter der Stadt ehrt. Colsten brachte Wohlstand nach Bristol, war aber auch an der Versklavung von vermutlich mehr als 80.000 Menschen beteiligt. Warum soll ich da jeden Tag dran vorbeigehen, als ob das mein Leben nicht betrifft, sagt ein schwarzer Demonstrant. Die Demonstranten rollen die Statue 300 Meter die Straße hinab zum Hafenbecken und werfen sie schließlich dort ins Wasser.
Der Säulen-Sturz von Bristol ist der Auftakt zu einer wuchtigen Kolonialismus-Debatte, die das Vereinigte Königreich nicht zum ersten Mal, aber selten mit einer solchen Heftigkeit erlebt. Zunächst geht es um die Säulen-Heiligen der Nation. Anti-Rassismus-Aktivisten machen Dutzende Statuen und Denkmäler im ganzen Land aus, die ihrer Ansicht nach entfernt werden sollten, wie zum Beispiel die von Cecil Rhodes vor dem Oriel-College in Oxford.
Nationalhelden geraten ins Wanken
"Take him down", "Holt ihn runter", rufen die Demonstranten unter dem Einlassportal, hoch oben drüber thront Cecil Rhodes, der für das Empire Kolonien in Afrika besorgte und der Uni in Oxford Geld zukommen ließ, von dem heute noch Stipendien bezahlt werden. Das Direktorium des Oriel College will die Angelegenheit nun durch ein unabhängiges Gremium bewerten lassen.
Sogar Winston Churchill gerät ins Visier der Bewegung. Seine Statue auf dem Parliament Square direkt vor dem Parlament in Westminister wird mit den Worten "war ein Rassist" beschmiert. So geht es nicht, schaltet sich Churchill-Bewunderer Boris Johnson ein, der Premierminister. In einem Zeitungsartikel warnt er davor, Großbritanniens Vergangenheit zu entstellen und wie mit einem Photoshop-Programm bearbeiten zu wollen.
Fahnenschwenkendes Publikum bei der "Last Night of the Proms", dem Abschluss der BBC-Konzertreihe "The Proms" in der Royal Albert Hall in London 2014
Kolonialismus und Sklaverei - Streit um Großbritanniens heimliche Nationalhymnen
Kulturerbe oder unzeitgemäße Verherrlichung von Unterdrückung? Die Texte der traditionellen britischen Lieder "Rule Britannia" und "Land of Hope and Glory" werden dieses Jahr nicht bei der Klassikkonzertreihe "The Proms" gesungen. Mit dieser Entscheidung hat die BBC eine heftige Debatte entfacht.
Liedtexte und Museumssammlungen auf dem Prüfstand
Auch Prinz Harry, der seit seinem Umzug nach Amerika nur noch selten öffentlich auftaucht, äußert sich, überraschend klar und deutlich sogar. Die Kolonialgeschichte Großbritanniens müsse unbedingt aufgearbeitet werden, fordert Harry, es gebe keinen Weg nach vorn, wenn man die Vergangenheit nicht anerkenne. Es sei ja schon viel geschehen, sagt Harry, aber es gebe noch viel mehr zu tun. Das werde nicht einfach und manchmal auch unbequem, müsse aber sein. Mutige Worte von einem britischen Prinzen, wo doch grade die britische Monarchie vom Empire mächtig profitiert hat.
Wenig später geht es dann nicht mehr um Statuen, sondern um Liedtexte. "Rule Britannia – Britannien, herrsche über die Meere, Briten werden niemals Sklaven sein": Diese Zeilen möchte die BBC gern in ihrer legendären "Last Night of the Proms" aus dem Programm nehmen, angeblich wegen Corona, weil man da keinen Chorgesang riskieren wolle. Traditionalisten dagegen vermuten einen Kotau des Senders gegenüber der "Black Lives Matter"-Bewegung, und Boris Johnson verlangt diesmal mehr Stolz und weniger peinlich berührtes Wegducken wegen der eigenen Geschichte, Traditionen und Kultur. Am Ende gibt die BBC nach, und in der Last Night am vergangenen Samstag wird dann doch gesungen.
Aufarbeitung gewinnt an Dynamik
Immerhin aber hat die Kolonialismus-Debatte in Großbritannien dazu geführt, dass Fernsehsender ihr Programmangebot, Institutionen ihre Geschichte und Museen ihre Bestände überprüfen. Das British Museum arbeitet die Beziehung seines Gründervaters Hans Sloane zur Sklaverei auf, und das Pitt-Rivers-Museum in Oxford hat nun angekündigt, seine Sammlung von Schrumpfköpfen und anderen menschlichen Überresten nicht mehr auszustellen. Die Ausstellung erfüllt so jedenfalls heute nicht mehr ihren Zweck, sagt Museumsdirektorin Laura van Broekhoven.
"Wir haben festgestellt, dass die Leute, wenn sie davorstanden, sich abfällig geäußert haben und von Primitiven und Wilden redeten. Wir stellen die Geschichte dieser Völker jetzt anders dar und erklären auch, warum wir die bisherigen Exponate rausgenommen haben."
Die Darstellung so wie sie bislang war, sagt Laura van Broekhoven, habe nur rassistische und stereotype Denkweisen verstärkt, die sie nicht in ihrem Museum haben wolle.