Dienstag, 21. Mai 2024

Kommentar zur Asyldebatte
Mehr Humanität statt Scheinlösungen

In der Asyldebatte drehe sich die Diskussion einseitig um die Begrenzung von Migration. Dabei brauche es vor allem Solidarität und Empathie mit Geflüchteten, meint Panajotis Gavrilis.

Ein Kommentar von Panajotis Gavrilis | 01.10.2023
Vor Lampedusa wird ein Flüchtlingsboot gerettet. In dem kleinen Boot sitzen viele Menschen, es ist an einem großen Boot befestigt.
Viele Migranten werden von Schleusern auf kleinen Booten übers Meer geschickt. Sie haben keine andere Wahl, sagt unser Kommentator. (imago / ZUMA Wire / Ximena Borrazas)
Es mag dieser Tage eine seltene, vielleicht sogar unpopuläre Meinung sein, aber: Es braucht mehr Solidarität, mehr Empathie mit Geflüchteten.

Migration: einseitige Diskussion

Seit Wochen dreht sich die Diskussion einseitig nur um die Begrenzung von Migration. Die Vorstellung, Menschen würden aufgrund der Sozialleistungen nach Deutschland einreisen, ist wissenschaftlich bisher nicht belegt. Auch, dass verstärkte Grenzkontrollen irreguläre Einreisen verhindern, ist anzuzweifeln. Vielmehr solle dadurch an der Grenze zu Polen und Tschechien Schleuserkriminalität bekämpft werden, argumentiert Bundesinnenministerin Nancy Faeser.
Dabei auf die unmenschliche Praxis der Schleuser hinzuweisen, mag zur politischen Argumentation passen. Am Ende bleibt es aber eine der wenigen Möglichkeiten für Menschen auf der Flucht. Weil es für sie faktisch bisher keine Möglichkeit der legalen Einreise gibt. Wer Schutz sucht, ist gezwungen, irregulär einzureisen.

Zurückweisungen an Grenzen illegal

Zudem hat der Europäische Gerichtshof erst kürzlich entschieden, dass Zurückweisungen von Schutz suchenden Ausländern an den EU-Binnengrenzen rechtswidrig sind. Ob das die Staaten und ihre Grenzschützerinnen und -schützer am Ende interessiert? Es bleibt abzuwarten. Es wäre nicht das erste Mal, dass innerhalb Europas geltendes Recht missachtet und gebrochen würde – das zeigen die belegten „Pushbacks“ in Griechenland, Polen oder Kroatien.
Dabei regt sich mittlerweile kaum jemand mehr über die illegalen Zurückweisungen, über die Gewalt an den Außengrenzen, über das Sterben im Mittelmeer, über die haftähnlichen Lager auf den Inseln auf. Wo bleibt das Mitgefühl? Die Empörung?

Laute Empörung à la Merz

Stattdessen empören sich Medien wie Politik über polarisierende Äußerungen des CDU-Vorsitzenden.
Dabei ist es nicht das erste Mal, dass Merz Ressentiments gegen Geflüchtete und Menschen mit Einwanderungsgeschichte schürt: der angebliche Sozialtourismus der Ukrainer, die „kleinen Paschas“ und nun die Asylbewerber, die den Deutschen angeblich die Zahnarzt-Termine wegnehmen, um ihre Zähne neu zu machen. Das sind keine „schärferen Töne“ in der Migrationsdebatte. Das sind rassistische Aussagen von jemandem, der Kanzler werden will.

Stimmungsmache mit falschen Zahlen

Zudem sind sie sachlich falsch. In den ersten 18 Monaten bekommen Asylbewerber und Bewerberinnen eingeschränkte Behandlungen etwa bei Schmerzen, erst danach erhalten sie den vollständigen Gesundheitsschutz wie gesetzlich Versicherte.
Auch die Zahl der 300.000 abgelehnten Asylbewerber ist nicht mehr aktuell. Sie ist statistisch sogar gesunken auf knapp 262.000 Ausreisepflichtige, wie es sprachlich korrekt heißen müsste. Unter denen haben 80 Prozent eine Duldung und können zum Beispiel aus rechtlichen Gründen nicht abgeschoben werden.
Die Sachlage ist also viel komplexer. Deshalb ist es so wichtig, zu differenzieren und richtig einzuordnen.

Migration lässt sich nie komplett steuern

In der Migrationsdebatte stellt Europa sich auch als ein offener, toleranter Schutzraum dar, in dem Menschenrechte und Solidarität zählen. Nichts davon scheint mehr zu gelten.
Stattdessen wird der Eindruck erweckt: Niemand soll mehr reinkommen, koste es, was es wolle: Absenkung der Schutzstandards bei der geplanten Asylreform, schmutzige Deals mit Autokraten in Tunesien, mit libysche Milizen, oder eben Menschenleben. Es wird zugeschaut oder sogar mitgewirkt, statt Menschen aus Seenot zu retten. Das hat etwa der Untergang des Flüchtlingsbootes im Juni vor der griechischen Küste gezeigt mit bis zu 750 Toten.
Insgesamt verkennen viele, dass Migration sich am Ende nie komplett steuern lässt. Menschen werden immer unterwegs sein und fliehen. Und nicht alle wollen nach Europa. Laut UN-Angaben fliehen weltweit betrachtet die meisten Menschen innerhalb des eigenen Landes oder in Nachbarländer.
Was nötig ist: Keine Abschottungsrhetorik, kein Wahlkampf auf Kosten von Geflüchteten und migrantischen Communitys. Sondern eine differenzierte Auseinandersetzung, mehr konstruktive Lösungsansätze statt Scheinlösungen. Und vor allem: mehr Humanität.