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Kommentar zu Gewalt-Vorwürfen im Turnen
"Jetzt ist die Chance, etwas zu verändern"

Sechs deutsche Spitzen-Turnerinnen haben schwere Vorwürfe gegen eine Trainerin am Chemnitzer Olympiastützpunkt erhoben - sie berichten von körperlicher und seelischer Gewalt. Andrea Schültke betont in ihrem Kommentar den Mut, an die Öffentlichkeit zu gehen.

Von Andrea Schültke |
Turnerin Helene Schäfer am 04.08.2019 bei den Deutschen Meisterschaften im Geräteturnen (Finals 2019) im Finale am Stufenbarren.
Turnerin Helene Schäfer hat mit ihrer Schwester Pauline und vier weiteren Kolleginnen den Schritt an die Öffentlichkeit gewagt. (www.imago-images.de /Camera 4)
Respekt und Hochachtung vor der Leistung der jungen Frauen. Wie schwer muss ihnen der Gang an die Öffentlichkeit gefallen sein? Wie sehr mussten sie ihren Mut zusammennehmen? Wie stark mussten sie sein und wie groß die seelischen Verletzungen, die sie dazu getrieben haben?
Pauline Schäfer und ihre Schwester Helene schreiben in den sozialen Medien von Entmündigung, Unterdrückung, Erniedrigung, Manipulation, Psychoterror. All das hätten sie als normal empfunden. Für den Erfolg seien sie bereit gewesen, Opfer zu bringen. Sie hätten lange gebraucht, um zu verstehen, dass ihre persönlichen Rechte täglich missachtet und körperliche Grenzen gänzlich ignoriert worden seien.
Weltweit Kritik an Trainingskultur
Mit ihren Vorwürfen sind die deutschen Athletinnen nicht allein. Seit dem Sommer steht die zum Teil menschenverachtende Trainingskultur im Turnen weltweit in der Kritik. Auslöser war ein Dokumentarfilm mit Berichten über sexualisierte, aber auch emotionale und körperliche Gewalt.
Turnerinnen aus der Schweiz, England, Australien, USA oder den Niederlanden öffnen sich seitdem in den sozialen Medien - darunter auch Olympiamedaillen-Gewinnerinnen. Sie berichten von Training unter Schmerzen und mit gebrochenen Knochen, von Essensentzug, massiven Essstörungen, Selbstverletzungen, Beleidigungen und Beschimpfungen, alles für den Erfolg.
Wie ihre internationalen Kolleginnen haben Pauline und Helene Schäfer und vier weitere aktive oder ehemalige Turnerinnen viel riskiert. Sie nehmen in Kauf, nun möglicherweise als Nestbeschmutzerinnen beschimpft zu werden, in Ungnade zu fallen, oder gar für die nächsten sportlichen Großereignisse unter Vorwänden nicht nominiert zu werden. Dass sie dennoch den mutigen Schritt gewagt haben, ihre Stimme zu erheben, macht sie zu Vorbildern.
Turnerin Pauline Schäfer auf dem Schwebebalken am 09.09.2017 in der SCHARRena in Stuttgart
Turner-Bund-Präsident zu Vorwürfen gegen Trainerin - "Mag sein, dass wir zu wenig sensibel waren"
Psychische Gewalt, Training trotz Schmerzen: Mehrere Turnerinnen erheben schwere Vorwürfe gegen eine Trainerin am Chemnitzer Bundesstützpunkt. Alfons Hölzl verspricht Aufarbeitung und Konsequenzen. Das Ausmaß der Vorwürfe habe er nicht gekannt, sagte der Präsident des Deutschen Turner-Bundes im Dlf.
Sie sind die mündigen Athletinnen, von denen Sportfunktionäre gerne sprechen. Mit dem Gang an die Öffentlichkeit haben sie Verantwortung übernommen, in ihrer Sportart etwas zu verändern. Sie haben kritikwürdige Strukturen aufgezeigt und die Verantwortlichen veranlasst, diese zu untersuchen. Der Deutsche Turnerbund hat bereits eine unabhängige Kommission eingesetzt, will die Vorwürfe aufarbeiten.
"Trotz allem lieben wir das Turnen", schreiben die Schäfer-Schwestern und berichten von dem Training auf Augenhöhe, das sie inzwischen erleben.
Mit ihren Aussagen wollen sie auch andere Athletinnen und Athleten ermutigen, sich mitzuteilen. Pauline Schäfer und ihre Mitstreiterinnen haben den Anfang gemacht. Jetzt ist die Chance, etwas zu verändern – nicht nur in der Sportart Turnen.