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Krieg im Jemen
Todenhöfer: "Die schlimmste Hungersnot der letzten hundert Jahre"

Der Jemen brauche dringend Frieden. Ansonsten werde sich die humanitäre Lage noch weiter verschärfen, berichtet der Publizist Jürgen Todenhöfer aus der Hauptstadt Sanaa im Dlf. Das Stadtbild sei geprägt von Kindern und alten Menschen, die bettelten, weil sie sonst verhungern würden. "Es sterben eben sehr, sehr viele Menschen durch Hunger."

Jürgen Todenhöfer im Gespräch mit Christine Heuer |
    Ein Junge steht im Jemen zwischen Häusertrümmern.
    Vor allem Kinder trifft der Krieg und die Blockade Saudi-Arabiens (picture alliance / dpa/ EPA/ Yahya Arhab)
    Christine Heuer: Ein Krieg, meist unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung: Seit fast drei Jahren kämpfen im Jemen Regierungstruppen gegen schiitische Huthi-Rebellen – die gelten längst als die eigentlichen Machthaber im Land. Doch hinter dem Bürger steckt auch ein Stellvertreterkrieg. Saudi-Arabien und seine Verbündeten werfen Bomben auf den Jemen, um die Regierungssoldaten zu unterstützen, der Iran agiert hinter den Kulissen zugunsten der schiitischen Rebellen. Und zwischen all diesen Spielern werden die Menschen im Jemen, wird die Zivilbevölkerung im Land zerrieben. Der Publizist Jürgen Todenhöfer bereist seit vielen Jahren Krisenregionen vor allem im Nahen und Mittleren Osten, und seit rund zwei Wochen ist er im Jemen. Wir erreichen ihn in der Hauptstadt Sanaa. Wie, Herr Todenhöfer, erleben Sie Sanaa, eine Stadt, in die ja kaum mehr ein westlicher Beobachter kommt, was ist Ihr stärkster Eindruck, welches Bild können Sie uns vermitteln aus Sanaa?
    Jürgen Todenhöfer: Das stärkste Bild, was einen sehr bedrückt - ich bin immer wieder in Krankenhäusern -, sind vor Hunger sterbende Kleinkinder. Wenn dann der Arzt sagt, wenn ich frage und die Mutter fragt, hat er eine Chance, und der Arzt mir dann sagt, vielleicht 30 Prozent. Und ein weiterer Eindruck, der auf mich stark wirkte, weil ich in Sanaa vor ein paar Jahren, vor dem Krieg auch schon war und finde das für mich die schönste Stadt der Welt und eins der schönsten Länder der Welt, sind die Hunderte vor Hunger, aus Hunger bettelnden kleinen Kinder, die einen in Scharen verfolgen und am Straßenrand, auch mitten an den Hauptstraßen sitzende ältere Frauen, die nur die Hand hinhalten, weil sie hoffen, dass sie 20 Cent bekommen und sich davon irgendetwas kaufen können. Also der Hunger ist dominierend, und für einen persönlich - das ist natürlich zweitrangig - sind es die nächtlichen Bombenangriffe, die fast jede Nacht kommen und die einen aufwecken und die anderen wieder damit konfrontieren: Hallo, hier ist Krieg und hier wird bombardiert, auch wenn die Zerstörungen in der Stadt viel, viel geringer sind, als ich geglaubt hatte und als auch die Weltmedien glauben.
    Krieg voller Widersprüche
    Heuer: Ist unter diesen Umständen, die Sie schildern, so etwas wie ein normaler Alltag im Jemen überhaupt noch möglich?
    Todenhöfer: Ja, das ist seltsam. Alles, was ich Ihnen sage, wird widersprüchlich klingen, weil es ein Krieg voller Widersprüche ist. Mir haben Jemeniten gesagt, wer Ihnen erzählt, dass er diesen Konflikt total versteht, sagt Ihnen nicht die Wahrheit. Der Konflikt ist sehr kompliziert, und zu den komplizierten Auswirkungen gehört auch, dass das Alltagsleben, das Leben in den Basaren, auf den Straßen völlig normal zu sein scheint, abgesehen von den bettelnden Menschen, abgesehen vom Hunger, abgesehen davon, dass in dieser Welttouristenstadt kein einziger Tourist mehr ist. Ich glaube, ich bin der einzige Europäer, der durch die Stadt läuft. Es gibt eine überraschende Normalität, weil die Leute ja gar keine Wahl haben. Sie müssen ihre Waren auf den kleinen Gassen ausbreiten, sie müssen versuchen zu verkaufen, und die Menschen, die einen Job haben, müssen zu ihrer Arbeit. Und dann denkt man, hallo, das ist ja alles fast normal. Nur die Menschen sind eben ausgehungert. Und Jemen war vorher schon ein armes Land, aber jetzt durch die Blockade völlig ausgehungert, und es sterben eben sehr, sehr viele Menschen durch Hunger.
    Publizist Jürgen Todenhöfer
    Publizist Jürgen Todenhöfer (dpa/Horst Galuschka)
    Heuer: Sie haben die Blockade durch Saudi-Arabien erwähnt, kommen da überhaupt noch Hilfsgüter durch ins Land oder ist das komplett abgeschnitten?
    Todenhöfer: Es kommen noch Hilfsgüter durch und auch Medikamente, das hat auch bei der Cholera etwas geholfen. Wenn ich es jetzt ganz kompliziert machen würde, man könnte über den Süden, über den Hafen Aden viel mehr ins Land bringen - da findet eine merkwürdige Geschichte statt, dass dieser Hafen kaum genutzt wird -, aber es kommt viel zu wenig hierher. Und wie ich Ihnen schon sagte, wenn Sie den ganzen Tag hungernde Menschen sehen, hungernde Kinder sehen, was ja das Dramatische ist. Und dann habe ich inzwischen überall Kleingeld, und das Kleingeld, wenn ich auch noch so viel Hundert-Rial-Scheine bei mir habe, wenn ich den dreißigsten weggegeben habe, habe ich nichts mehr, und dann laufen die Kinder trotzdem hinter einem her. Und dann muss man sich umdrehen und sie abschütteln. Und nicht geben und nicht helfen können, ist schlimm. Aber auch die Menschen hier, der Taxifahrer, gibt bettelnden Kindern etwas von seinem Geld. Und dann hält er mitten auf der Hauptstraße und gibt einer dort sitzenden Frau Geld. Es hat etwas grotesk-dramatisches, tragisches.
    "Dieses Land braucht Frieden"
    Heuer: Sie können nicht wirklich helfen, Sie sagen, Hilfsgüter kommen nur noch spärlich durch. Gibt es noch Hilfsorganisationen in dem Land, und was können die eigentlich überhaupt noch machen?
    Todenhöfer: Ja, es gibt das Rote Kreuz, es gibt Unicef, es gibt den Welternährungsfonds, die sind jeweils, soweit ich das erfahren konnte, durch eine Person - einmal durch einen Pakistaner und einmal durch einen Inder - vertreten, und die sind im Kontakt mit der Außenwelt und setzen dann Einheimische ein, aber es ist einfach viel zu wenig Hilfe. Aber das humanitäre Problem ist ganz schlimm, mich erschüttert das ganz besonders, ich hab selbst eine kleine persönliche Stiftung, die ich gegründet habe. Aber das entscheidende Problem ist: Dieses Land braucht Frieden. Und solange hier kein Frieden eintritt, wird die humanitäre Lage immer schlimmer werden. Mir sagen Ärzte, die ich ganz heftig befragt habe - ich nehme nicht jede Aussage hin -, die mir gesagt haben, es ist die schlimmste Hungersnot, die der Jemen jemals erlebt hat, und vielleicht die schlimmste Hungersnot der letzten hundert Jahre.
    Heuer: Sie waren schon im Jemen, Herr Todenhöfer, als der frühere Präsident Saleh vor Kurzem, ja, eigentlich muss man sagen hingerichtet wurde, weil er die Seiten wechseln wollte. Das war ein stetes Hin und Her …
    Todenhöfer: Er hatte die Seiten gewechselt, er war auf der Flucht nach Saudi-Arabien.
    Heuer: Okay, also er war auf der Flucht nach Saudi-Arabien, und er ist ermordet worden von den Huthi-Rebellen. Hat das die Lage der Menschen weiter verschlechtert, also dramatisiert, oder ist das etwas, was so gar nicht mehr richtig wahrgenommen wird?
    Todenhöfer: Nein, Saleh war das Symbol, ein Symbol des Landes, allerdings ein wahrscheinlich sehr korruptes Symbol, mehrfacher Milliardär. Das war das Symbol des Landes, den hat man – auch ich – vor vielen, vielen Jahren, er war 35 Jahre Präsident, aber der hatte zu häufig die Seiten gewechselt. Und nach seinem Seitenwechsel, drei Tage danach, ist er auf der Flucht, erst in einer Nachbarprovinz, die allerdings von Saudi-Arabien dominiert wird, ertappt worden, angegriffen worden und getötet worden. Aber das hat die Medien dazu gebracht, auch mich, ich hab gedacht, das ist vielleicht jetzt das Ende der Huthis, weil er ja mit den Huthis zusammengearbeitet hat, aber die Huthis haben innerhalb von wenigen Stunden, zwei Tagen, glaube ich, die Auseinandersetzung um Sanaa gewonnen, weil sie gegen eine überlegene Militärmacht strategisch vorgegangen sind. Sie haben nicht in der Stadt gekämpft, in der Stadt gab es keine Kämpfe, sondern sie haben Militärstützpunkte eingenommen, und sie haben den Wohnsitz von Saleh eingekreist, und sie haben innerhalb kürzester Zeit die Stadt völlig übernommen. Ich bin manchmal mit Huthis zusammen, ich laufe mit einem der Führer der Huthis durch die Stadt, das wird überhaupt nicht beachtet. Die Stadt ist völlig unter Kontrolle der Huthis, es gibt kaum militärische Präsenz, weil sie nicht mehr nötig ist, und es hat sich dann als ein Sieg der Huthis herausgestellt, was dann zu heftigen Bombardements der Gegner der Huthis geführt hat.
    "Sunniten und Schiiten haben zusammen gebetet "
    Heuer: Herr Todenhöfer, über die Huthis möchte ich gerne noch mit Ihnen sprechen. Sie haben ja Erfahrungen, haben den IS aus nächster Anschauung erlebt in Rakka, wenn ich mich richtig erinnere. Wir lesen hier, dass die Huthi im Jemen ungefähr so fundamentalistisch sind, dass da kleine Mädchen schon mit Gesichtsschleier rumlaufen müssen, dass Kriegssteuern erhoben werden. Wie erleben Sie das, ist das ein so starker Fundamentalismus, wie wir ihn aus anderen Regionen kennen und fürchten gelernt haben?
    Todenhöfer: Nein. Also richtig ist, dass auch kleine Mädchen, diese kleinen Bettlerinnen, einen tiefen Schleier tragen, und jeder versucht die zu fotografieren, dass sie den Niqab ganz zumachen. Aber das Bild, dass das eine extrem fundamentalistische Gruppe ist, ist nach meinen Dutzenden Gesprächen, die ich mit Huthis, einfachen in den Straßen oder auch mit führenden Huthis geführt hatte, völlig falsch. Und das ist auch nicht eine schiitische Organisation - Saidis nennt sich diese Sekte, sondern in der Huthi-Bewegung - die bei Wahlen vielleicht im ganzen Land von 35 Prozent gewählt würde, also ähnlich wie die CDU ist sie die stärkste Bewegung im Lande. In der Huthi-Bewegung sind 15 bis 20 Prozent Sunniten, also es kann schon deswegen gar nicht diese Radikalität haben.
    Heuer: Also dann stimmt das nicht, was wir lesen?
    Todenhöfer: Nein, ja, aber das ist ja normal, weder der Süden lässt Menschen ins Land noch der Norden. Ich hab das oft bei meinen Reisen in den Mittleren Osten erlebt, dass es anders ist, als ich dachte. Es gibt auch diesen Konflikt, oder dieser Konflikt: Schiiten, Konfession der Schiiten oder Saidis hier, gegen Sunniten spielt überhaupt keine Rolle. Ich war vorgestern abends um sechs in einer der ältesten Moscheen der Welt, über 1.200 Jahre alt, beten, und da haben Sunniten und Schiiten zusammen gebetet. Da sind wir einfach nicht richtig informiert. Das ist die Propaganda des Südens, und Propaganda gehört zum Krieg dazu. Der Konflikt zwischen Nord und Süd ...
    Heuer: Zwischen Rebellen und Regierungstruppen.
    Todenhöfer: Ja, die Regierungstruppen haben auch Rebellen, das sind auch Milizen inzwischen, da kämpfen Milizen gegeneinander. Ich sagte ja, das ist so kompliziert, dass keiner das völlig durchschaut, aber …
    Heuer: Das können wir auch nicht mehr lösen jetzt, Herr Todenhöfer.
    Todenhöfer: Aber das Schlimmste ist Saudi-Arabien gegen Iran, dieser Konflikt, der das Land zerstört und der auch Saudi-Arabien und Iran schwächt. Und da muss man eine Lösung finden. Dieses Land braucht Frieden!
    Heuer: Der Publizist Jürgen Todenhöfer mit Eindrücken direkt aus der jemenitischen Hauptstadt Sanaa. Herr Todenhöfer, haben Sie vielen Dank für dieses Gespräch!
    Todenhöfer: Danke, Frau Heuer, danke!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.