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Krieg in Syrien
"Die Türkei wählt den Weg der Selbstisolation"

Durch das Vorgehen in Afrin begehe die Türkei einen völkerrechtswidrigen Verstoß, sagte Roderich Kiesewetter im Dlf. Der CDU-Außenpolitiker warf der Türkei auch vor, "einen Spaltpilz" innerhalb der NATO zu treiben. Trotz aller Probleme dürfe man die Türkei aber nicht ohne weiteres aufgeben.

Roderich Kiesewetter im Gespräch mit Mario Dobovisek    | 20.03.2018
    Der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter
    Der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter (picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka)
    Mario Dobovisek: Am Telefon begrüße ich Roderich Kiesewetter, CDU-Politiker im Bundestag, Obmann der Union im Auswärtigen Ausschuss. Guten Abend, Herr Kiesewetter.
    Roderich Kiesewetter: Guten Abend, Herr Dobovisek.
    Dobovisek: Sie kommen gerade aus der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses. Wie bewerten Sie und Ihre Kollegen denn das Vorgehen der Türkei in Afrin?
    Kiesewetter: Die Türkei wählt hier wirklich den Weg der Selbstisolation vom westlichen Wertebündnis der NATO. Ich denke, dass wir hier einen völkerrechtswidrigen Verstoß haben. Die Türkei macht gemeinsam mit der Freien Syrischen Armee gemeinsame Sache. Über 200.000 Menschen fliehen aus dem Gebiet Afrin.

    Und die Gefahr ist ja jetzt, dass wir neben einer zusätzlichen Flüchtlingsbewegung auch eine Diskussion bekommen, wie wir mit der Türkei umgehen, dass die Türkei sich aus dem Wertebündnis - das ist ja kein Zweckbündnis - der NATO entfernt, und das müssen wir thematisieren, insbesondere beim NATO-Rat.
    Dobovisek: Sie wählen klare Worte: Selbstisolation der Türkei, völkerrechtswidriges Vorgehen. Warum wählt diese Worte die Bundesregierung nicht so klar, wie Sie das gerade tun?
    Kiesewetter: Wir als Abgeordnete können hier deutlich, sehr klar unsere Einschätzung zum Artikel 51 der VN-Charta ansprechen. Die Bundesregierung braucht natürlich sehr klare Beweise, um auf diplomatischer Ebene solche Dinge anzusprechen. Die Türkei ist bisher diese Beweise schuldig geblieben. Sie hat es angedeutet, aber sie hat keine Beweise übergeben.
    Das muss die Bundesregierung auf ihrer Ebene einschätzen. Wir Abgeordnete sind uns weitgehend einig, dass so ein Verstoß vorliegt. Wir haben das auch in mehreren Parlamentsdebatten eindeutig angesprochen.
    "Es sieht aus wie eine Annexion"
    Dobovisek: Ist das dann ein Fehler, dass die Bundesregierung nicht reagiert?
    Kiesewetter: Die Bundesregierung reagiert ja. Sie hat Rüstungslieferungen in die Türkei ausgesetzt. Und die Bundesregierung hat dieses Thema auch immer wieder in den Fraktionen von CDU/CSU und SPD thematisiert. Sie weicht nicht aus. Aber wir brauchen natürlich belastbare Aussagen.
    Wir Abgeordneten schätzen das etwas dringlicher ein. Und ich halte es auch für sehr sinnvoll, dass wir hier behutsam vorgehen, denn es ist die Kernfrage, wie gehen wir künftig mit der Türkei um und welchen Weg wählt die Türkei.
    Michael Wilk behandelt ein Mädchen auf einer Liege
    Der deutsche Arzt Michael Wilk behandelt Verletzte in Afrin. (privat / Michael Wilk)
    Dobovisek: Erst beschossen die türkischen Truppen Afrin, dann haben sie die Stadt belagert, jetzt eingenommen. Ist das aus Ihrer Sicht eine Invasion?
    Kiesewetter: Zumindest wird die Türkei sich länger in der Region aufhalten. Sie wird versuchen, dort zu bleiben. Es sieht aus wie eine Annexion. Der Arzt Michael Wilk hat ja heute Früh auch im Deutschlandfunk sehr klar gemacht, was das für die Zivilbevölkerung bedeutet. Ich schätze die Lage so ein, dass die Türkei sich dort länger einrichtet und dass sie versucht, in dem Bereich des nördlichen Syriens an Einfluss zu gewinnen.
    Erschwerend kommt dazu, dass sie das mit Unterstützung Russlands macht, die die Kurden haben fallen lassen, und das ist schon ein bedeutsamer Akt, der für uns so nicht hinnehmbar ist. Die Lage ist entsetzlich. Wir müssen mit der Türkei darüber reden, dass Menschenrechtsverletzungen nicht hinnehmbar sind.
    "Die Türkei war bisher ein verlässlicher NATO-Partner. Sie hat das verlassen"
    Dobovisek: Sie haben den deutschen Arzt Michael Wilk heute Morgen im Deutschlandfunk gerade angesprochen. Da wollen wir auch jetzt gemeinsam noch einmal reinhören, in seine Schilderung der Lage vor Ort:
    O-Ton Michael Wilk: "Wir haben seit Wochen versucht - wenn ich sage wir, ist das hier die Hilfsorganisation, und es sind ja internationale Hilfsorganisationen auch hier -, über die Lage zu berichten bis hoch zu den Vereinten Nationen, bis hoch zum EU-Menschenrechtsrat. Es kam noch nicht mal der Hauch einer Antwort. Angesichts dessen, dass deutsche Waffenexporte hier ein immenses Unheil anrichten, muss ich sagen, ich schäme mich dafür und ich halte das Tun und vor allem das Nichttun für völlig verantwortungslos, was die deutsche Regierung anbelangt."
    Dobovisek: Der Arzt Michael Wilk in Nordsyrien. Schämen Sie sich auch, Herr Kiesewetter?
    Kiesewetter: Nein, denn heute gibt es auch ein besonderes Ereignis. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat erstmals die Türkei verurteilt, weil sie zwei Journalisten nach dem Umsturzversuch im Juli 2016 zu Unrecht in Untersuchungshaft genommen haben. Des Weiteren ist ja dieses Urteil auch bahnbrechend, denn dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein Mitgliedsland des Europarats verurteilt, zeigt ja auch eindeutig, dass bei uns Rechtsprechung funktioniert.
    Und das Thema der Waffenexporte ist etwas, das viele Jahre zurückliegt. Die Türkei ist als NATO-Partner Empfänger von solchen Waffensystemen. Wir müssen uns im Klaren sein, dass wir das thematisieren. Wir müssen unsere Werte und unsere Interessen hier in Einklang bringen. Die Türkei war bisher - war es über Jahrzehnte, ist vor der Bundesrepublik Deutschland Mitglied der NATO geworden - ein verlässlicher NATO-Partner. Sie hat das verlassen.
    Die Türkei droht, auch innerhalb der NATO einen Spaltpilz zu treiben. Sie kauft russische Luftabwehrsysteme und integriert sie in die eigene Luftverteidigung und ist damit nicht mehr möglich, in die NATO-Luftverteidigung integriert zu werden. Es ist ein schleichender Weg der Türkei aus der Wertegemeinschaft. Sie verhält sich nicht mehr so und wir Abgeordneten thematisieren das eindeutig, und das muss auch und wir fordern auch die Bundesregierung auf, so wie das heute auch unser Fraktionsvorsitzender gemacht hat, das im NATO-Rat auch offiziell zu thematisieren.
    "Wir dürfen die Türkei nicht ohne weiteres aufgeben"
    Dobovisek: Müsste die NATO in letzter Konsequenz die Türkei auch ausschließen?
    Kiesewetter: Diesen Schritt sollten wir nicht gehen, weil die Türkei ein absolut wichtiger Partner zum Schutz der Südostflanke ist. Allerdings - und ich habe das schon vor einem Jahr...
    Dobovisek: Aber kein verlässlicher Partner, wie Sie selber sagen.
    Kiesewetter: Eben! Ich habe schon vor einem Jahr deutlich gemacht, die NATO muss überlegen, wie sie eine Sicherheit womöglich auch ohne die Türkei organisieren kann. Aber parallel müssen wir alles tun, dass die Türkei wieder auf den Weg der Menschenrechte und der Werteorientierung zurückkehrt. Das sieht alles andere als danach aus, aber wir müssen die Türkei hier fordern, denn die Hälfte der türkischen Bevölkerung steht nicht hinter Erdogan.
    Trotz massiver Wahlfälschung hat er bei seinem Referendum nur 52 Prozent erreicht. Ein Großteil der Türkei insbesondere im westlichen Bereich der türkischen Bevölkerung steht an der Seite der EU-Orientierung. Deswegen dürfen wir nicht ohne weiteres die Türkei aufgeben, sondern müssen den gesellschaftlichen Dialog suchen und diplomatisch Druck auf die Türkei ausüben.
    Der türkische Präsident Erdogan spricht in Ankara.
    Nach Aussagen von Roderich Kiesewetter stehen nur die Hälfte aller Türken hinter Präsident Erdogan. (AFP / Adem Altan )
    Dobovisek: Wie können wir Druck ausüben? Wie kann Deutschland Druck ausüben, auch zum Beispiel mit Blick auf die Waffenexporte? Da steht ja immer noch die Debatte im Raum, die bereits gelieferten Leopard-II-Panzer, die wir jetzt in Afrin und darum herum beobachten müssen, sie aufzuwerten, aufzurüsten, zu verbessern.
    "Darüber nachdenken, welches Auslandsvermögen Erdogans innerhalb der EU geparkt ist"
    Kiesewetter: Zunächst einmal ist das ja ausgesetzt. Aber viel wichtiger ist: Wir müssen gemeinsam in der Europäischen Union, die hier nicht geschlossen auftritt, klare Positionen entwickeln und an Russland und an die Türkei kommunizieren. Eine dauerhafte Waffenruhe und auch der humanitäre Zugang in Städte, der muss gewährleistet werden. Die Einigung mit Kurden für Selbstverwaltungsrechte müssen wir angehen. Die Opposition muss auch in den Friedensgesprächen repräsentiert sein.
    Und der Genfer Prozess, das was de Mistura für Syrien macht, muss wieder in den Mittelpunkt und solche Gespräche wie in Astana oder Sotschi gehören nach Genf überführt. Wir müssen hier auch die Vereinten Nationen stärken. Und schließlich gehört auch dazu: Wenn man an einen Wiederaufbau denkt, muss man auch an die Rückkehr der Flüchtlinge denken, und das ist nur möglich, wenn Assad abgelöst wird.
    Wir müssen also auch mit Russland erwirken, dass Russland auf die Ablösung Assads hinarbeitet. Das sieht im Moment nicht danach aus, aber wir müssen hier Bedingungen stellen, denn auch Russland isoliert sich. Sie brauchen eine Exit-Strategie und sie sehen inzwischen ein, dass man ohne westliche Hilfe keine nachhaltige Befriedung und schon gar keinen Übergang zu einem Wiederaufbau leisten kann. Hier ist Diplomatie gefragt.
    Dobovisek: Aber wie nachdrücklich können Sie Bedingungen stellen oder kann Deutschland, kann die Europäische Union Bedingungen stellen, wenn es am Ende immer nur noch heißt, ja, wir müssen einfach reden, wir können sowieso nichts machen?
    Kiesewetter: Zunächst geht es um die Beitrittshilfen an die Türkei. Die können gekürzt oder eingefroren werden. Zweitens kann man sehr intensiv darüber nachdenken, welches Auslandsvermögen Erdogans innerhalb der Europäischen Union geparkt ist. Und wir müssen uns um die Einflusssphären der Türkei kümmern, die sehr massiv im westlichen Balkan aktiv ist, gegen die Europäische Union.
    Hier geht es auch darum, den westlichen Balkan-Staaten eine Perspektive zu geben. Die ausschließliche Fokussierung auf Syrien greift zu kurz. Hier steckt mehr Strategie von türkischer Seite, aber auch von russischer Seite dahinter. Deshalb muss die Europäische Union und wir in Deutschland müssen in Brüssel darauf drängen, dass wir hier eine klare Position entwickeln.
    Dobovisek: Der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter - und das Interview haben wir am Abend aufgezeichnet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.