Vor einer "Kriegsmüdigkeit" in den westlichen Staaten hat Bundesaußenministerin Annalena Baerbock Ende Mai gewarnt. Die Sendung "Hart aber fair" fragte: "Wie lange hält unser Mitgefühl?" Und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sprach von einer "Gewöhnung an alles Mögliche".
"Die mediale Berichterstattung zieht einfach weiter und dann sind die Sommerferien, der Tankrabatt oder die Fußballbundesliga irgendwann wichtiger als wie viele Tote jetzt an dem Tag wieder zu beklagen sind", so Habeck in der ZDF-Sendung "Maybrit Illner".
Wie lange hält die mediale Aufmerksamkeit? Der Ukraine-Krieg und die Gewöhnung - Interview mit Carsten Reinemann
Wachsendes Desinteresse statt Kriegsmüdigkeit
Lässt die Aufmerksamkeit für Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine nach? Sabine Adler, Osteuropa-Expertin des Deutschlandfunks, ist bei Baerbocks Warnung vor "Kriegsmüdigkeit" hellhörig geworden. "Man kann Kriegsmüdigkeit auch herbeischreiben. Die Frage ist doch: Wer ist denn müde? Die Parteien sind nicht müde, gegenseitig Krieg zu führen, und die Berichterstattung ist bis jetzt auch noch nicht müde geworden, dorthin zu schauen."
Hörerinnen und Leser würden sich aber schon fragen, ob sie sich die traurigen und entsetzlichen Nachrichten weiterhin antun sollten. Ist der Begriff "Kriegsmüdigkeit" dafür angemessen? Der ARD-Journalist Georg Restle weist auf Twitter darauf hin, dass es eigentlich um wachsendes Desinteresse gehe.
Studie: Von Nachrichten ermüdet
"Wir sehen schon seit mehreren Jahren, dass das starke Interesse an Nachrichten geringfügig abnimmt", sagt Sascha Hölig vom Hans-Bredow-Institut für Medienforschung. "Tendenziell sehen wir, dass Menschen eine gewisse Erschöpfung verspüren. Durch die Menge an Nachrichten und auch, weil sie in der Regel durchaus zu schlechter Laune führen."
Hölig ist Mitautor des "Digital News Report 2022". Die Studie zeigt, dass nur noch 57 Prozent der Internetnutzerinnen und -nutzer in Deutschland sich für Nachrichten interessieren - zehn Prozent weniger als im Vorjahr.
Höheres Interesse zu Beginn von Krisen
Ganz linear verlaufe diese Entwicklung allerdings nicht. In den ersten beiden Jahren der Corona-Pandemie habe das Interesse an Nachrichten zunächst zugenommen, so Hölig. "Wenn neue, wichtige Themen auftauchen, steigt das Interesse wieder massiv an, etwa zu Beginn des Kriegs in der Ukraine. Aber mit der Zeit nutzt sich das ein wenig ab und Menschen werden zunehmend genervt, weil sich alles nur noch darum dreht." Das sei eher eine Themenmüdigkeit statt eine generelle Nachrichtenmüdigkeit.
Nassehi: "Wiederholung ist der Feind der Aufmerksamkeit"
Der Soziologe Armin Nassehi spricht von einer Aufmerksamkeitsökonomie. "Eine wiederholte Information hat immer weniger Informationswert. Das gilt nicht nur für den Krieg, sondern auch für die Pandemie und andere Krisen. Wir wollen nichts mehr vom Klimawandel hören, wenn der Alltag sich durchsetzt." Wiederholung sei der Feind der Aufmerksamkeit, so Nassehi in der Sendung "Hart aber fair".
Deutschlandfunk-Journalistin Sabine Adler sieht die Verantwortung bei den Medienschaffenden, vielfältig über den Krieg zu berichten und nicht nur Frontverläufe nachzuzeichnen, sondern auch Hintergründe und Auswirkungen zu beleuchten. "Wir versuchen, auch auf die Aspekte zu schauen, über die noch nicht so viel gesprochen wurde - Umweltschäden oder Kinder, die nicht in die Schule gehen können. Was wir nicht machen dürfen, ist zu sagen 'Ach, nicht schon wieder Krieg. Lasst uns heute auf ein anderes Thema schauen.'"
Eine engere Verknüpfung der Berichterstattung mit dem Alltagsleben der Menschen - das sei eine große Aufgabe, die die Medien besser lösen könnten, findet Sascha Hölig. "Damit könnte man auch dem Problem der sogenannten Kriegsmüdigkeit begegnen." Ansätze für konstruktiven Journalismus hält er für sinnvoll. Das klassische Nachrichtenformat sei dafür allerdings nicht geeignet.