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Krise der Glaubwürdigkeit
Die Wiederkehr der Verschwörungstheorien

Verschwörungstheorien gibt es schon seit der Aufklärung - mit fatalen Folgen wie etwa dem Holocaust, der sich auf die Idee der jüdischen Weltverschwörung zurückführen lässt. Doch auch heute verbreiten sich Lügen oder Halbwahrheiten und die Glaubwürdigkeit etablierter Institutionen hat gelitten.

Von Andreas Beckmann | 11.07.2019
Ein Puzzle in dem ein Stück fehlt. Das Stück ist die Wahrheit. Fehlendes Puzzleteil Wahrheit missing Part puzzle Truth
Oft ist die Wahrheit komplex: Zu fast jeder Theorie gibt es eine Gegenmeinung (imago / Christian Ohde)
Die Mondlandung war nur vorgetäuscht, die Anschläge auf die Twin Towers in New York wurden von den USA selbst inszeniert und für den Mord an John F. Kennedy ist mal die CIA mal Fidel Castro verantwortlich. Es herrscht kein Mangel an Verschwörungstheorien in der modernen Welt, die sich für aufgeklärt hält. Kein Wunder, meint Michael Butter, Professor für Amerikanische Kulturgeschichte an der Universität Tübingen. Aufklärung und die Verbreitung von Verschwörungstheorien gingen historisch Hand in Hand:
"Es gibt Verschwörungstheorien eigentlich immer seit dem Ende des 16. Jahrhunderts bis in die 1950er-Jahre, wo die völlig akzeptiertes offizielles Wissen sind von Eliten, von Experten; von ganz normalen Menschen geglaubt und verbreitet werden und entsprechend großen Einfluss haben auf viele historische Prozesse. In Deutschland das schrecklichste Beispiel ist der Holocaust, der natürlich ursächlich auf die Idee von der jüdischen Weltverschwörung beruhte. Ohne diese Verschwörungstheorie hätte es den Holocaust nicht gegeben."
Das Verschwinden der Verschwörungstheorien
Das Entsetzen über dieses monströse Verbrechen habe nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Aufschwung kritischer Sozialwissenschaftler geführt. Ein neuer Zeitgeist verlangte, alles akribisch zu hinterfragen, um die Gesellschaft gegen Aberglauben zu wappnen. Und weil zuerst in den USA und dann auch in Europa ein Bildungsboom ausbrach, der immer mehr Menschen an Universitäten führte, breitete sich diese Haltung in der Politik wie im Alltagsleben aus. Michael Butter:
"Das ist ein sehr komplexer Prozess, den man verkürzt beschreiben könnte als das Einsickern von sozialwissenschaftlichem Wissen in das Alltagswissen der Menschen. Die Effekte sind dann einigermaßen dramatisch. Die kommunistische Verschwörungstheorie, die in den 50er-Jahren im Kongress diskutiert wird, wo Gesetze erlassen werden, um dieser Subversion Einhalt zu gebieten, die ist zehn Jahre später nur noch bei der extremen Rechten verbreitet."
Seit den 60er-Jahren waren Verschwörungstheorien verpönt. Doch der Siegeszug von kritischem Denken und Überprüfen, von Rationalität und Vernunft hatte eine unerwartete Nebenwirkung. Bald gab es zu jeder Theorie und zu jedem Gutachten eine Gegenmeinung und ein Gegengutachten. Egal auf welchem Gebiet ist es daher heute für Laien oft undurchschaubar, welche Seite recht haben könnte, stellt die israelische Soziologin Eva Illouz fest:
"Experten produzieren Unmengen von Daten und immer mehr Fachwissen, das schon allein deshalb kaum noch jemand nachvollziehen kann, weil es eben meist auch in einem Fachjargon präsentiert. Wir lesen und hören das und die meisten Leute suchen ja auch nach guten Argumenten, um sich eine Meinung zu bilden. Aber weil der Strom an Daten, Nachrichten und Meinungen nie abreißt, fühlt sich die Öffentlichkeit irgendwann nur noch überwältigt."
Die Widersprüchlichkeit der Wissenschaft
Wenn sie rational kaum mehr entscheiden können, wem sie glauben sollen und wem nicht, wenden sich viele Leute denjenigen zu, mit deren Botschaften sie sich am wohlsten fühlen. Das wiederum erleichtert Apologeten das Geschäft, die den Leuten nach dem Mund reden. Der gegenwärtige amerikanische Präsident ist für Eva Illouz da nur das auffälligste Beispiel:
"Was die Wähler Trumps fasziniert, ist seine Direktheit. Er behauptet einfach, die Wahrheit zu kennen und auszusprechen. Und auch wenn ich glaube, dass auch den meisten seiner Anhänger klar ist, dass er, vorsichtig ausgedrückt, nicht immer die Wahrheit sagt, folgen sie ihm, solange ihm niemand überzeugend entgegentritt und er mit seinen Lügen ungestraft durchkommt."
Gefolgschaft gewinnt oft, wer Stärke demonstriert, indem er seinen Standpunkt permanent wiederholt und andere unterdrückt. Nach der Methode verfahren Populisten, auch in Polen. Die rechtsgerichtete Regierung dort hat ein Gesetz erlassen, das eine angebliche Verunglimpfung der polnischen Nation verhindern soll. Danach kann bestraft werden, wer darüber berichtet, wie polnische Bürger im Zweiten Weltkrieg den deutschen Besatzern bei der Judenverfolgung halfen. Um diese historische Tatsache zu leugnen, stützt sich die heutige Regierung ganz raffiniert auf eine andere, ebenfalls belegbare Tatsache, erzählt der jüdische Bürgerrechtler Konstanty Gebert:
"Die weitaus größte Zahl von Gerechten, die in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem geehrt werden, weil sie Juden geholfen haben, sind Polen. Das stimmt. Aber die Regierung tut so, als folge daraus, dass die Mehrheit der Polen auf Seiten der Juden stand. Das Gegenteil war der Fall, die meisten haben ihre jüdischen Mitbürger an die Besatzer ausgeliefert. Verrat war der Normalfall."
Mit der Wahrheit lügen
Aber so genau darf die Wahrheit nicht mehr dargestellt werden. So kann die Regierung mit der halben Wahrheit lügen. Im Internet sind die historischen Fakten natürlich trotzdem noch verfügbar. Doch ob ein User sie dort findet, hängt häufig von den Algorithmen der sozialen Netzwerke und Suchmaschinen ab. Und die sind alles andere als an Wahrheit und Glaubwürdigkeit orientiert, beklagt Olaf Steenfadt von der Journalisten-Organisation "Reporter ohne Grenzen":
"Wenn man das richtig versteht, dann ist das Hauptkriterium, wie diese Algorithmen funktionieren, engagement, also den Nutzer möglichst lange auf der Seite zu halten. Und da nun einmal leider Verschwörungstheorien und gar nicht mal Lügen, aber halbfalsche Informationen einfach sexier sind, passiert einfach automatisch das, dass die viel komplexere Wahrheit, die vielleicht in die andere Richtung geht, untergeht."
Die Wiederkehr der Verschwörungstheorien
Die Zeiten, in denen kritische Intellektuelle oder Journalisten Meldungen und Meinungen aussortieren konnten, weil sie nicht plausibel erschienen, seien vorbei, bekräftigt Michael Butter. Redaktionen, Universitäten oder Behörden besäßen für einen großen Teil des Publikums keinen Vorsprung mehr in Sachen Glaubwürdigkeit:
"Es ist heute einfach viel leichter, wenn man irgendwelche Zweifel an offiziellen Verlautbarungen hat, verschwörungstheoretische Gegenerzählungen zu finden. Vor 30, 40 Jahren mussten Sie viel Zeit und Geld in die Hand nehmen, um irgendwo Bücher zu bestellen. Das hat nicht jeder gemacht. Heute googlen sie einfach mal und sofort sind sie Teil einer Gegenöffentlichkeit, in der diese Erklärungen absolut wahr sind und absolut gelten und wo sie ganz schnell den Eindruck kriegen können, das denken unglaublich viele Menschen, also muss es ja wohl stimmen."
Die Glaubwürdigkeit etablierter Institutionen hat gelitten, das Bedürfnis nach Orientierung ist geblieben, wenn nicht gewachsen. Ein besseres Umfeld können sich Verschwörungstheoretiker kaum wünschen.