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Kritik an Frauentag
"Ein Anti-Patriarchatstag würde neue Perspektive eröffnen"

Der Internationale Frauentag sei eine Art Muttertag, der nicht das Kernproblem thematisiere, beklagt die Direktorin des Center for Intersectional Justice Emilia Roig im Dlf. Sie schlägt einen Anti-Patriarchatstag vor. Denn auch Frauen würden das Patriarchat tragen und auch Männer würden darunter leiden.

Emilia Roig im Gespräch mit Stephanie Rohde | 07.03.2020
Eine Frau trägt einen gelben Regenmantel mit einem roten Gender- und Protestsymbol bei einer Kundgebung zum Internationalen Frauentag vor dem Rathaus in Hamburg.
Am Internationalen Frauentag demonstrieren weltweit Menschen für die Gleichberechtigung der Geschlechter und für Frauenrechte (dpa / picture alliance / Christian Charisius)
Am Internationalen Frauentag gehen weltweit Menschen für die Gleichberechtigung der Geschlechter und für Frauenrechte auf die Straße. Laut einer Untersuchung der Vereinten Nationen haben immer noch neun von zehn Menschen auf der Welt Vorurteile gegenüber Frauen. Am Internationalen Frauentag würden aber zu sehr die Probleme auf der individuellen Ebene von Frauen thematisiert, beklagt die Politikwissenschaftlerin und Direktorin des Center for Intersectional Justice Emilia Roig. Ihrer Meinung nach gibt es viel tiefere strukturelle Probleme in der Gesellschaft. Ihr Vorschlag: statt des Internationalen Frauentages ein Anti-Patriarchatstag.
Emilia Roig: Erstmal, dass es eine Frauentag gibt, ist eine gute Sache. Das einzige Problem ist, wir fokussieren uns auf die Individuen, das heißt, wir fokussieren uns auf Frauen und Männer und nicht auf das System, das diese Identitäten produziert und die Hierarchien aufrechthält.
Die Juristin und Politikerin Lore Peschel-Gutzeit, aufgenommen am 23.06.2013 in Köln.
Peschel-Gutzeit - "So was macht man mit einem Mann nicht"
Von ihrer Aufstellung zur Justizsenatorin Hamburgs erfuhr Lore Peschel-Gutzeit 1991 aus der Presse. Der damalige Bürgermeister informierte sie vorab nicht persönlich. Seit den 1960er Jahren setzt sie sich für Frauenrechte ein.
Stephanie Rohde: Aber die Individuen sind doch diejenigen, die die Probleme haben. Wenn ich als Frau schlechter bezahlt werde, dann habe ich doch individuell ein Problem.
Roig: Ja, absolut. Und deswegen ist es auch eine Dimension, die wichtig ist. Das einzige Problem ist, dass das Patriarchat auch aufrechterhalten wird von Frauen und dass Männer auch darunter leiden. Und kollektiv, wenn Sie eine kollektive Verantwortung schaffen wollen, gegen das Patriarchat einzustehen, dann ist es wichtig, auch auf das System hinzuweisen und nicht nur auf die Individuen. Es bringt eine neue Perspektive und zeigt, dass um gegen das Patriarchat vorzugehen, reicht es nicht, gegen Männer vorzugehen. Es gibt ein bisschen diesen Eindruck mit der jetzigen Rhetorik über Gender Inequality oder Geschlechterungleichheit, deswegen Anti-Patriarchatstag würde die Perspektive eröffnen.
"Boys will be boys"
Rohde: Inwiefern stabilisieren Frauen das Patriarchat und inwiefern leiden Männer darunter? Können Sie dafür ein Beispiel geben?
Roig: Ja, natürlich. Einige Frauen, es sind nicht alle Frauen, und deswegen [unverständliches Wort; Anm. d. Red.], das ist tief in uns verankert und wir machen das auch zu 99 Prozent unbewusst. Das heißt, wenn Frauen auch gegenseitig oder wenn Frauen sich anpassen an das Bild, was man von ihnen erwartet in der Gesellschaft oder wenn Männer dazu zwingen, vor allem junge Kinder, Jungs sozusagen, auch diese Rolle nahe zu bringen, dann wird das Patriarchat auch durch sie aufrechterhalten.
Ein Beispiel davon ist, wenn Jungs in der Schule zum Beispiel gewalttätig sind mit Mädchen, dass milder mit ihnen umgegangen wird, weil boys will be boys, so wird auf Englisch gesagt [Anm. d. Red.: "boys will be boys", wörtlich übersetzt "Jungs bleiben Jungs"]. Sie werden anders behandelt auch von Frauen. Und patriarchale Gewalt wird in Jungs von Frauen nicht gefördert, aber wenigstens auch nicht dagegen gekämpft. Und Männer leiden unter dem Patriarchat vor allem in den frühen Jahren ihres Lebens, weil sie hier lernen, dass sie alles, was weiblich oder feminin ist in ihrem Leben, unterdrücken sollen oder ganz zerstören sollen.
Ein Beispiel: Wenn Jungs und Mädchen in die Schule gehen und, sagen wir, auf der progressiven Seite der Gesellschaft gesagt wird, wir sind für geschlechterneutrale Erziehung, dann haben wir weniger, [unverständliches Wort; Anm. d. Red.] Mädchen, die sehr lebhaft sind und mit Jungs spielen oder Fußball oder auch gerne lange Haare tragen. Aber sobald ein Junge einen Rock tragen möchte oder Nagellack oder lange Haare, dann ist es ein Problem.
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Eine Debatte über Frauenquoten in Parlamenten und Konzernen hilft wenig, meint Barbara Schmidt-Mattern. Die Politik muss endlich die Rahmenbedingungen schaffen, damit sich auch kulturell etwas ändert.
Rohde: So wie Sie das gerade geschildert haben, dieses Beispiel von Jungs, die in der Schule diskriminiert würden, wenn sie in der Schule einen Rock tragen würden. Da könnte man ja auch sagen, dann muss es eben auch einen Männertag geben, wo wir uns da aktiv darum kümmern.
Roig: Das würde ich auf keinen Fall machen. Sonst wird Hierarchie ausgeblendet. Wir können Diskriminierung generell und Unterdrückung … Es muss drei Zutaten geben: Die erste ist Differenz, es muss eine Differenz gemacht werden zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, in diesem Fall Männer und Frauen. Diese Differenzen sind Konstrukte, die sind historische, soziale, politische Konstrukte. Zusätzlich zu der Differenz muss die Hierarchie kommen, zwischen diesen Gruppen, die eine Gruppe als überlegen konstruiert gegenüber der anderen. Und die dritte Zutat ist die Macht, die Macht eben diese Hierarchie aufrechtzuerhalten und zu verwirklichen.
Und gegenüber Männern gibt es in der Gesellschaft keine systemische, strukturelle Diskriminierung. Deswegen leiden Männer unter dem Patriarchat, aber auf einer spirituellen Ebene, einer persönlichen Ebene, individuellen Ebene. Aber als Gruppe werden sie von den Institutionen auf der wirtschaftlichen Ebene oder kulturellen Ebene oder medialen Ebene nicht benachteiligt. Deswegen würde ein Männertag das falsche Signal schicken.
"Das ist ein bisschen wie Muttertag geworden"
Rohde: Sie fordern einen Anti-Patriarchatstag. Was würde sich dadurch denn ändern, auch für Männer?
Roig: Ich glaube, sie würden wissen, dass sie auch daran teilhaben können. Und nicht darum, dass … Weil ich höre das auch oft, am Internationalen Frauentag, dann kommen Männer mit Blumen und das ist ein bisschen wie Muttertag geworden. Das heißt, auch Frauen, die keine Kinder haben, dürfen auch einen guten Tag haben, wo sie mal an dem Tag nicht kochen müssen. Das Ziel des Tages wird dadurch zerstört.
Ein Anti-Patriarchatstag würde eben Männer einbinden, indem sie wissen, es gibt ein System, an dem wir auch teilhaben. Und dieses System benachteiligt Frauen. Es heißt nicht, dass alle Männer aktiv und bewusst und mit Absicht eben Frauen diskriminieren, aber sie könnten dadurch besser verstehen, dass diese Systeme, um bekämpft zu werden, auch gesehen werden müssen, also anerkannt werden müssen.
Rohde: Sie fordern, dass wir da ein neues, ein übergreifenderes Verständnis von Diskriminierung entwickeln. Haben Sie denn das Gefühl, dass wir in Deutschland schon auf dem Weg dahin sind, wenn man sich jetzt die Debatte anschaut, die über Rassismus geführt wird nach dem rassistischen Anschlag von Hanau. Verändert sich da etwas in diese Richtung?
Roig: Ich würde eher sagen nein. Ich spreche darüber, aber es verlangt, dass Rassismus oder dass Diskriminierung holistischer verstanden wird und auch systemische Seite davon verstanden wird.
Die strukturellen Probleme
Rohde: Was heißt das?
Roig: Das heißt, wenn wir über Rassismus sprechen als Beispiel, wenn wir Rassismus immer noch als Tat, als Handlung, als Meinung darstellen, als Verhalten, dann blenden wir aus, dass das nur die Spitze des Eisbergs ist. Die strukturelle, institutionelle, historische, also systemische Seite, wenn die ausgeblendet wird, dann verstehen wir Rassismus nicht als Organisationsprinzip des Lebens und der Gesellschaft.
Es wird immer noch in Deutschland auf die individuelle Seite fokussiert, das hat auch eine gute Erklärung. Es ist einfacher ein System zu personifizieren und zu sagen, es gibt einige Menschen in unserer Gesellschaft, die bekämpft werden müssen. Wenn wir mit diesen Menschen umgehen und ihnen beibringen, dass Rassismus schlecht ist, nicht moralisch ist.
Rechtsextreme zum Beispiel, wenn wir das machen, dann schicken wir ein Signal, okay, das hat nichts mit mir zu tun, ich muss mich mit Rassismus nicht auseinandersetzen. Und der Staat geht seiner Verantwortung auch nicht nach, indem er Rassismus nur mit manchen Menschen oder Gruppen verbindet.
Rohde: Also sollten wir Diskriminierung nicht mehr als individuelles Problem verstehen, sondern als strukturelles, was immer schon vorhanden ist Ihrer Meinung nach?
Roig: Beides, sowohl als auch. Das heißt, es ist nach wie vor wichtig, Rassismus und Diskriminierung als individuelles Phänomen darzustellen und auch zu bekämpfen, aber es muss gleichzeitig mit einer Bekämpfung der strukturellen, institutionellen und historischen Dimension Rassismus, Sexismus und allen Diskriminierungsformen einhergehen.