
"Ich bin von zu Hause geflohen, weil man Mann getötet wurde. Er war derjenige, der die Familie ernährt hat, er hat auf dem Feld gearbeitet, das wir gepachtet haben. Nach seinem Tod wusste ich nicht, wie ich die Familie durchbringen soll. Ich ziehe die vier Kinder meines verstorbenen Bruders auf, sie sind noch klein und können mir nicht helfen. Ich hatte gehofft, dass in dem Flüchtlingslager Lebensmitteln verteilt würden, aber wir kriegen nichts."
In Somalia sind landesweit etwa 800.000 Menschen auf der Flucht: vor Hunger, Dürre, Überschwemmungen und Krieg. Allein 5.000 von ihnen haben in dem Lager "Malable" - auf Deutsch "Honig" - Zuflucht gesucht, genauso wie Isha Abdule Isaaq. Ihr Mann starb vor vier Wochen in ihrem Heimatdorf Bariire, etwa 60 Kilometer von Mogadischu entfernt.
"Die Kämpfe fingen am frühen Morgen an, wir waren um diese Zeit noch zu Hause. Wir hörten die Schüsse und sahen die Soldaten im Dorf. Sie waren mit grauen Militärhubschraubern gekommen. Ein Querschläger traf meinen Mann in den Kopf. Er war sofort tot."
Die Soldaten wollten ihre Identität offensichtlich verbergen. "Sie trugen Gesichtsmasken, aber ihre Hände waren nicht bedeckt. Es waren weiße und schwarze Soldaten."
Die Miliz kämpft gegen die somalische Regierung und für die Einsetzung eines islamischen Staates. Die Terrorgruppe verübt regelmäßig schwere Anschläge auf Zivilisten und Einrichtungen der Regierung. Daran hat auch die Präsenz einer 22.000–köpfigen afrikanischen Eingreiftruppe namens AMISOM, die seit 2007 im Land ist, wenig geändert.
Aktiv in die Kämpfe involviert sind die USA. Das US-Militär führt in Somalia schon seit einigen Jahren einen regelrechten Drohnenkrieg gegen die islamistische Miliz, als Teil ihres internationalen Krieges gegen den Terror. Die somalische Armee sei am Kampf gegen die Islamisten beteiligt, sagt Abdulaziz Ali Ibrahim. Er ist Sprecher des somalischen Innenministeriums.
"Wir werden vor jeder Aktion informiert. In einigen Fällen haben wir das US-Militär um eine Intervention gebeten - nicht durch den Einsatz von Bodentruppen, sondern durch Luftschläge. Dabei setzen sie natürlich keine Kampfjets ein, sondern Drohnen."
Der Anti-Terrorkrieg aus der Luft wird von Bodentruppen unterstützt. "Am Boden kämpft die somalische Armee. Unsere Soldaten führen die Angriffe gegen die Shabaab-Miliz aus."
Allerdings hat die Bäuerin Isaaq von Weißen berichtet, die am Angriff auf ihr Heimatdorf Bariire beteiligt gewesen wären. Andere Augenzeugen oder Überlebende von Angriffen sagen ebenfalls, sie hätten vor Ort weiße Soldaten gesehen.
Das gilt auch für eine frühere Militäraktion in Bariire, die Ende August letzten Jahres stattfand. Damals stürmten somalische Soldaten und eine handvoll US-amerikanische "Special Operators" ein Gehöft und töteten zehn Menschen. Unter den Opfern waren drei Jungen im Alter zwischen acht und zehn Jahren. Die somalische Regierung bestritt zunächst, dass es zivile Opfer gegeben habe, musste sich aber später korrigieren. Angehörige brachten die Leichen der Opfer aus Protest nach Mogadischu. Auch die US-Kommandozentrale für Afrika, die in Stuttgart ansässige Africom, bestätigte später den gemeinsamen Angriff von US-amerikanischen und somalischen Soldaten.

Die somalische Bevölkerung nimmt das womöglich anders wahr. So schworen die Clan-Ältesten von Bariire Vergeltung für die Militäraktion vom vergangenen August - der somalischen Regierung und deren Verbündeten. Die Clan-Ältesten haben ihre Drohung vermutlich wahr gemacht und sich für ihren Vergeltungsschlag mit der Shabaab-Miliz zusammen getan. Jedenfalls haben somalische Ermittler mehrere Hinweise darauf, dass der bislang verheerendste Anschlag in Somalia ein Racheakt war für den US-Militäreinsatz und die zivilen Opfer von Bariire. Bei der Explosion einer LKW-Bombe im Zentrum von Mogadischu wurden am 14. Oktober weit über 500 Menschen getötet, hunderte weitere verletzt. Nach Erkenntnissen der somalischen Sicherheitskräfte stammte der Fahrer des sprengstoffgeladenen LKW aus Bariire. Abdulaziz Ali Ibrahim, der Sprecher des somalischen Innenministeriums, sieht in dem Anschlag aber vor allem einen Beleg dafür, dass die Politik seiner Regierung die richtige ist.
"Wir haben gegen Al-Shabaab gekämpft, und wir kämpfen immer noch gegen sie. Wir wollen erreichen, dass es nie wieder solche furchtbaren Anschläge gibt. Wir haben in der Region Lower Shebelle bereits einige ihrer Lager und Verstecke zerstört und ich hoffe, dass wir die Miliz bald völlig besiegen werden."
Eine gewagte Behauptung. Die somalische Regierung ist politisch und militärisch immer noch schwach. Jahrzehntelang galt das ostafrikanische Land als Paradebeispiel für einen gescheiterten Staat. Seit 2012 hat Somalia zwar wieder eine international anerkannte Regierung, aber die Shabaab-Miliz kontrolliert immer noch weite Teile des Landes. Die somalische Regierung ist im Kampf gegen die Terrormiliz höchstens der regionale Junior-Partner der US-Administration unter Präsident Donald Trump.
"Präsident Trump überträgt der CIA deutlich mehr Befugnisse, Drohnenangriffe auszuüben, als sie das bisher hatte. Das wird vermutlich einen Machtkampf zwischen der CIA und dem Pentagon auslösen."
Das berichtete der Fernsehkanal der US-amerikanischen Tageszeitung Wall Street Journal schon im März 2017. "Die Befugnisse, die Trump der CIA gegeben hat, verändern grundlegend die institutionellen Rahmenbedingungen des Drohnenkrieges, die von der Obama-Administration festgelegt wurden."

Sicher ist: US-amerikanische Drohnen töten in Somalia immer häufiger. Nach eigenen Angaben hat das US-amerikanische Militär allein 2017 über 30 Drohnenangriffe durchgeführt, mehr als doppelt so viele wie 2016. Diese Zahl sei noch deutlich untertrieben, meint die britische Tageszeitung "The Guardian". Die Redaktion wertete alle öffentlich zugänglichen Daten aus und zählte 34 Drohnenangriffe allein in der zweiten Hälfte 2017. Ein drastischer Zuwachs: in nur sechs Monaten doppelt so viele Angriffe wie im gesamten Vorjahr.
Über die Zahl der Opfer gibt es keine bestätigten Angaben. Das "securitydata.newamerica.net" wertet aber die öffentlichen Quellen aus. Demnach gab es im vergangenen Jahr 18 zivile Opfer, außerdem starben 238 Shabaab-Mitglieder. Hinzu kommen die Opfer von Militäraktionen mit Bodentruppen, wie in Bariire.
"Wir haben keine Bestätigung dafür, dass bei solchen Militäraktionen Zivilisten getötet wurden. Entsprechende Behauptungen gehören zur Taktik der Shabaab-Miliz, um Aufmerksamkeit in Somalia und im Rest der Welt zu bekommen. Wenn es irgendwelche Angriffe gegen sie gibt und wir sie schlagen, versuchen sie, den Toten die Uniformen auszuziehen und sie in zivile Kleidung zu stecken. Dann behaupten sie, Zivilisten wären getötet worden. Aber das stimmt nicht."
Für Somalia und den dortigen "Anti-Terrorkrieg" lässt das nichts Gutes hoffen. Aber hätten die somalische Regierung und ihre Verbündeten überhaupt eine andere Möglichkeit, gegen die Shabaab-Miliz zu kämpfen?
Es ist Freitag, der wöchentliche Feiertag im muslimischen Somalia. Am Lido, dem Strand von Mogadischu, herrscht Hochbetrieb. Junge Männer und Frauen flanieren durch den Sand oder kühlen sich in dem türkisfarbenen Meer, die Frauen voll bekleidet. Die Restaurants am Lido werden besonders häufig Ziel von Terroranschlägen der Shabaab-Miliz - gerade wegen ihrer Beliebtheit. Hier sind die Opferzahlen jedes Mal hoch. Und die Terrorgruppe kann sich sicher sein, dass sie die erhoffte Aufmerksamkeit wirklich bekommt.
Als Treffpunkt hat Hussein ein Restaurant an dieser Strandpromenade vorgeschlagen, weil in dem bunten Treiben niemand darauf achtet, wer sich hier mit einer Weißen trifft. Das Gespräch findet in einem abgeschlossenen Raum statt, weil Hussein keine weiteren Zuhörer will. Hussein war sechs Jahre lang ein Emir der Islamisten, also einer der Führer. Er sagt, er sei vor knapp zwei Jahren ausgestiegen. Jetzt fürchtet er die Rache seiner ehemaligen Waffenbrüder, die ihn als Verräter verfolgen. Deshalb will er seinen wahren Namen nicht öffentlich machen, er heißt eigentlich anders als Hussein. Am Ende, sagt er, sei er enttäuscht gewesen vom "wahren Gesicht" der Islamisten.
"Ich hatte gedacht, dass diese Menschen auf dem rechten Pfad sind, dass sie Gerechtigkeit üben. Aber während meiner Zeit bei ihnen wurde ich immer häufiger Zeuge davon, dass sie ungerecht handeln. Ich habe zum Beispiel mehrfach gesehen, wie sie Frauen als vermeintliche Ehebrecherinnen gesteinigt haben, ohne eindeutige Beweise dafür zu haben, dass diese Frauen sich wirklich schuldig gemacht hatten. Im Grunde haben sie oft einfach nur so getötet. Als mir das klar geworden ist, bin ich ausgestiegen. Ich lehne Ungerechtigkeit ab."

"Die Shabaab-Miliz sammelt Steuern von den Geschäftsleuten. Wir fordern von allen großen Unternehmen Geld. Am meisten von Telefon- und Internetunternehmen. Wie viel wir verlangen, hängt von der Größe des Unternehmens ab. Normaler Weise fordern wir mindestens 5.000 Dollar im Monat."
Die Miliz habe bis heute in jedem Unternehmen ihre Informanten, so dass sie die Wirtschaftskraft abschätzen könne. Die höchste Summe, die sie zu seiner Zeit von einem einzelnen Unternehmen als Steuer gefordert hätten, seien 50.000 US-Dollar im Monat gewesen. Das Geld dient der Finanzierung der Miliz.
"Wer nicht zahlen wollte, wurde bedroht. Die Miliz schickte dann einen Selbstmordattentäter oder verübte einen anderen Anschlag. Wer sich weigerte, bekam also die Folgen zu spüren. Weil das jeder wusste, zahlten alle."
Das sei bis heute so, sagt Hussein. Glaubt man ihm, haben die regelmäßigen Anschläge nicht nur ideologische Gründe, sondern wirtschaftliche: Es sind Sanktionen gegen diejenigen, die der Terrorgruppe die Zahlung von Schutzgeld, auch Steuern genannt, verweigern. So kommen riesige Summen zusammen.
"In Jana’ale war zum Beispiel jede Woche Donnerstag Markt. Jeder, der Vieh zum Verkauf brachte, musste dafür Steuern bezahlen. Am Markttag haben wir regelmäßig 15.000 Dollar eingenommen. Allein an diesem einen Wochentag! Die Steuern, die jeder Haushalt bezahlen musste, kamen noch dazu."
Weil er für Mogadischu nicht zuständig war, kann er nur schätzen, was in der Hauptstadt zusammen kommt.
"Ich schätze, das sind im Monat zwischen fünf und 15 Millionen Dollar. Denn wenn man genau hinguckt stellt man fest, dass nicht nur Unternehmen zahlen. Sondern womöglich auch Abgeordnete und andere Politiker. Regierungsmitglieder. Jeder, der sich lieber sicher fühlt, zahlt. Es gibt viele die sich sagen: Ich verzichte lieber auf das Geld und habe dann meine Ruhe."
Die Shabaab-Miliz ist längst eine Art Mafia-Organisation, sie hat die somalische Gesellschaft durchdrungen und bestimmt ihre Gesetze. Ihre wahre Macht fußt auf der Verbindung zwischen Selbstmordattentätern und einem engmaschigen Netz von Informanten. Schlimmer noch: Die Shabaab-Miliz lässt sich mittlerweile von Geschäftsleuten anheuern, um deren Konkurrenten zum Schweigen zu bringen, sagt Hussein.
"Anfangs war das noch nicht so, aber neuerdings interessiert sich die Miliz immer mehr dafür, wie sie Geld verdienen kann. Sie ist bereit, für Geld alles zu tun. Wenn sie den Auftrag kriegen, jemanden zum Schweigen zu bringen, muss sie oft noch nicht einmal töten. Es reicht, wenn sie denjenigen anrufen und sagen: 'Dieses oder jenes Geschäft gibst du besser auf.' Jeder weiß was passiert, wenn man solche Aufforderungen der Shabaab ignoriert, deshalb reicht meist eine solche Drohung. Und die Auftraggeber sind auch zufrieden: Ihr Konkurrent ist aus dem Weg geräumt, ohne dass er getötet wurde."
Während viele Viertel in Mogadischu immer noch in Trümmern liegen, entstehen in anderen Stadtteilen luxuriöse Gebäude. Wie die schicke Mogadischu Mall, eröffnet im vergangenen Herbst. In den weiß gefliesten Wänden spiegeln sich die leuchtenden Schriftzüge der Geschäfte. Verkauft werden Schmuck und Kleidung, vor allem aus Dubai. In Mogadischu boomt der Immobilienmarkt. Einheimische erzählen, dass ein Gebäude in der Via Roma, einer kleinen Altstadt-Straße, immerhin eine Million US-Dollar koste. Und dass die Miete für eine Vier-Zimmer-Wohnung bis zu 1000 Dollar kostet, also ähnlich hoch ist wie in Europa.

"Das ist möglich, ich gebe Ihnen Recht, das ist möglich. Die Shabaab-Miliz ist nicht unser einziges Problem. Wir werden unser Territorium Stück für Stück von der Shabaab zurückerobern. Anschließend werden wir uns dem zuwenden, was sonst noch ansteht. Wir haben noch eine Menge vor uns."
Für viele ist der Krieg ein gutes Geschäft, und das gilt auch für die Islamisten. Einige Geschäftsleute profitieren von der Schwäche des Staates, der den Markt und die Wirtschaft nicht reguliert, kaum Steuern eintreibt. Mit Drohnenangriffen ist dieses System, zu dem Drohungen und Terror gehören, nicht zu zerstören. Sondern mit einem starken Staat, der Regeln setzt und durchsetzt. Und einer funktionierenden Justiz, die Gewaltverbrechen aufklärt und gegen die Täter vorgeht.