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Martin Walser: "Mädchenleben"
Hemmungslose Altersphantastik

Martin Walser legt seit einigen Jahren Bücher mit einer charakteristischen Altersprosa vor. Der Band "Mädchenleben" greift jetzt auf frühe Aufzeichnungen zurück und entwirft Phantasieszenarien zwischen erotischer Verzückung und religiöser Erweckung.

Von Helmut Böttiger | 19.11.2019
Walser steht im Grünen und blickt in die Kamera. Sein schwarzer Hut ist tief in die Stirn gezogen.
Martin Walser- manisch und rauschhaft formuliert er seine Spätwerke (dpa/Felix Kästle)
Schon Goethe wusste es, und deshalb ist der späte Martin Walser in seiner Beschäftigung mit Goethe auch schon längst über sich hinausgewachsen: "Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan". Man findet in Walsers Werk unzählige Spuren dieser Erkenntnis, und sie sind in seinen letzten Büchern immer unübersehbarer geworden. Doch sie reichen bis in die Frühzeit zurück, man kann sie bis in die allerersten Verästelungen hinein verfolgen. Das Bändchen mit dem Titel "Mädchenleben", das der 92-jährige Autor in diesen Tagen vorlegt, zieht einen großen Bogen zu seinen Tagebüchern aus den Jahren 1951 bis 1962. Schon hier tauchen Skizzen zur Figur eines besonderen Mädchens auf, das sich seiner Umwelt entzieht und in andere Sphären hinüberzugleiten scheint, und diese Skizzen hat er jetzt wieder aufgenommen und zu einem assoziativen, fragmentarischen Bändchen ausgeweitet.
Jene frühen veröffentlichten Tagebücher Walsers fallen dadurch auf, dass vom privaten, alltäglichen Leben kaum die Rede ist. Es geht um den Stoff zum Schreiben, um diverse literarische Anläufe. Das Leben scheint sich im Idealfall fast vollständig im literarischen Prozess aufzulösen, in fiktiven Situationen, Dialogen und Personenbeschreibungen. Diese obsessive Schreibhaltung lässt sich bei Walser in all den vielen und höchst unterschiedlichen Phasen seines literarischen Lebens beobachten. Durch das schriftliche Festhalten und Durchdringen eines Moments scheint so etwas wie Transzendenz möglich zu sein, ein Aufgehobensein in etwas Höherem, das Leben wird auf diese Weise wie fieberhaft ausgekostet.
Lebenshungrige Alterstexte
Anfang der sechziger Jahre entwarf sich Walser auf diese Weise eines seiner Alter Egos, den Immobilienmakler Gottlieb Zürn, aus dem sich aber zusehends auch ein Philosoph und Privatgelehrter herausschälte. Er tritt in Romanen wie "Das Schwanenhaus" und "Jagd" hervor, und in neuerer Zeit hat ihn Walser in einem seiner diversen, verzweifelt lebenshungrigen und lebensgierigen Altersromane noch einmal auftreten lassen, mit dem bezeichnenden existenziell-ironischen Titel "Der Augenblick der Liebe". Dieser Zürn hatte in den ersten Tagebuchskizzen auch eine Tochter, deren Konturen Walser im Folgenden nicht weiter geschärft hat. Diese Tochter jedoch steht jetzt im Mittelpunkt einer "Legende", wie es im Untertitel heißt. Ursprünglich hörte sie auf den Namen Gerlinde, wie es der Atmosphäre der fünfziger Jahre entsprach. Aber auf ihren vehement vorgebrachten Wunsch hin wird sie jetzt nur noch Sirte genannt. Und diese Sirte wird zu einer Phantasmagorie des Walserschen Zugriffs auf die Welt an sich, vor allem in ihren eigenen Tagebuchtexten, die immer mal wieder zitiert werden.
"Sie, die mich anschauen, können sich kein Urteil erlauben über mich. Meine Augen, mein Mund – darauf kam es mir an. So schön. Und so verschwiegen. Geben Sie zu: Wer sich so ins Schöne verschließt, der hat etwas mitgemacht. Die zeitgenössische Kränkung, die habe ich als Schönheitsschild gemalt. Die übliche zeitgenössische Kränkung. Die Anmaßung derer, die das Sagen haben."
Es geht hier natürlich um eine Projektion, und der Autor macht auch gar keinen Hehl daraus: der Schriftsteller schlüpft in die Weltsicht eines pubertierenden Mädchens, weil hier ein Absolutheitsanspruch ausgedrückt wird, der zwangsläufig zurückgewiesen werden muss. Diese "zeitgenössische Kränkung" erlebt der Schriftsteller genauso wie das Mädchen. Das Ungenügen an der Welt teilen beide, die Kritiker und die Mitmenschen sind in dieser Perspektive dasselbe. Sirte unterzeichnet deshalb auf Zetteln, die im Buch verstreut wiedergegeben werden und gegen Ende immer mehr zunehmen, ganz konsequent als "die Künstlerin". Sie reflektiert so über Kunst, dass man die Stimme Martin Walsers problemlos dahinter erkennen kann.
"Ich hatte nur das Malen. Ich habe mich so schön gemalt, dass keiner mehr mir zu nahe kommen kann. Allerdings, durch diese Abstandsgewinnung gestehe ich alles, was ich doch eben durch diese Abstandsgewinnung verbergen will. Aber anders als der größte mögliche Widerspruch zu sich selbst ist Kunst nicht denkbar."
Ein Untermieter des Lebens
Das Mädchen ist zwar noch sehr jung und arbeitet noch angestrengt an dem Verhältnis zwischen sich und der Welt, aber das macht nichts. Denn die gesamte Szenerie ist in ein ganz bestimmtes Licht getaucht, das sie entrückt und auch vom landläufigen Realismus entfernt. Walsers Text hat mit einer Abbildung von Wirklichkeit nicht im geringsten Sinn etwas zu tun. Er ist aber zweifellos die Abbildung einer inneren Wirklichkeit, ein Traumgebilde, und nur als solches ist die Personenkonstellation erkennbar. Sirte lebt noch bei ihren Eltern, Vater Zürn wird dabei ironisch-sarkastisch als die frühe Figur Martin Walsers vorgeführt und entlarvt. Das Entscheidende ist jedoch der Untermieter mit dem Namen Anton Schweiger, der schon wegen dieses Namens in Raum der Literatur anzusiedeln ist. Er ist der Erzähler dieses kleinen Buches, doch wir erfahren von ihm fast nichts – außer, dass er dem Mädchen Sirte auf eine geheimnisvolle Weise verfallen ist und von ihr ab und zu Zettel zugesteckt bekommt, die er mit einer gewissen Verzückung wiedergibt.
Es handelt sich also um ein literarisches Spiel, das Walser mit sich selber treibt. Der Untermieter und Erzähler Anton Schweiger ist ein Untermieter des Lebens schlechthin. Und er spricht vom traumhaft-grotesken Leben der Familie Zürn und ihrer Umgebung, surreale und komische Szenen ereignen sich wie auf einer Theaterbühne. Das Mädchen Sirte, das sich eine eigene bizarre Lebenswelt schafft und zum Beispiel einen Rabenvogel herbeilockt, dressiert und zum Sprechen bringt, erlebt mit der Zeit ungeahnte religiös-ekstatische Momente. Schon zu Beginn sagt Vater Zürn zu seinem Untermieter Schweiger, dass Sirte heiliggesprochen werden müsste, und der Text Schweigers ist denn auch diese Heiligsprechung Sirtes. Er kulminiert in einer nahezu biblisch anmutenden Szene: Sirte trifft auf einer Parkbank eine Frau an, von der sie auf seltsame Weise angezogen wird. Sie folgt ihr und stellt fest, dass diese Frau von ihrem brutalen Alkoholiker-Ehemann ständig geschlagen wird. Voller Erbarmen stellt sich Sirte dann selbst zur Verfügung, lässt sich eine Zeitlang anstelle der Frau von deren Ehemann schlagen, bis dieser plötzlich reumütig wird und eine Bekehrung erfährt.
Religiöses und Erotisches
Walser wäre nicht Walser, wenn diese religiöse Dimension nicht untrennbar mit einer erotischen und einer literarischen zusammenfallen würde. Wie schon in seinen letzten Büchern finden sich auch in "Mädchenleben" auf vielen Seiten kurze, einfache Notate, die wie Aphorismen wirken, letztlich aber keine sind: Banales, Kitschiges, Satirisches, Philosophisches und Altmännerphantastisches stehen hier direkt nebeneinander, zusehends verbunden durch religiöse Fragen, ab und zu mischt sich auch ein kindlich gereimter Vierzeiler darunter. Es sind Zettel, die Sirte dem Untermieter des Hauses feierlich überreicht, mit Sätzen wie zum Beispiel:
"Der Schmerz ist ein Schrank, in den ich gesperrt bin.
Der Inbegriff der Gottheit ist die Nichtansprechbarkeit.
Jeder Tänzer hinkt, wenn er nicht tanzt."
Dazwischen findet sich aber auch ein Notat, das den Schreibimpuls Walsers wie selbstironisch zu konterkarieren scheint:
"Jetzt frag ich mich, was ich anhabe. Schwarzer Lederrock, schwarze Strümpfe, graue, matte Bluse. Seide."
"Mädchenleben", das ist also ein weiteres Zeugnis des sich nach Leben und Liebe verzehrenden Schriftstellers Martin Walser, der zwischen Trivialem und Höchstem nicht mehr zu unterscheiden braucht und der Kategorien wie Peinlichkeit oder Scham längst hinter sich gelassen hat. Manisch und rauschhaft notiert er Sätze, um die Welt festzuhalten, und er stellt sie in einen zwischen Traum und Wirklichkeit umherschweifenden formalen Zusammenhang, der sich gar nicht mehr den Anschein gibt, artistisch beglaubigt sein zu müssen.
Martin Walser: "Mädchenleben oder Die Heiligsprechung. Legende"
Rowohlt Verlag, Hamburg. 90 Seiten, 20 Euro