Samstag, 20. April 2024

Archiv

Maya Angelou: "Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt"
Von Rassentrennung, Resignation und Rebellion

Der erste Teil von Maya Angelous Autobiografie beschreibt ein Aufwachsen in strikter südstaatlicher Rassentrennung, einen traumatischen Missbrauch und die identitätsstiftende Kraft von Musik und Literatur. Ein literarisches Mahnmal – leider immer noch.

Von Tilman Winterling | 11.02.2019
    Buchcover: Maya Angelou: "Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt"
    Das autobiographische Buch von Maya Angelou, in den USA eine Ikone der Bürgerrechtsbewegung, ist in Deutschland bislang nur wenig bekannt. (Buchcover: Suhrkamp Verlag, Foto: Stock.XCHNG)
    Maya Angelou wurde als Marguerite Annie Johnson 1928 in St. Louis geboren. Nach dem Scheitern ihrer wilden Ehe schickten die Eltern sie im Alter von drei Jahren zusammen mit ihrem damals nur ein Jahr älteren Bruder Bailey nach Stamps in Arkansas zur Großmutter. Mit dieser Reise beginnt "Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt", der erste Teil der Autobiographie von Maya Angelou.
    Stamps selbst ist eine "muffige, alte Stadt" in den Südstaaten. Dort ist die Großmutter "Momma" als Eigentümerin eines Gemischtwarenladens glimpflich durch die Weltwirtschaftskrise gekommen. Maya und Bailey wachsen daher, zumindest finanziell, relativ behütet auf. Ganz anders geht es da den schwarzen Handlangern und Hausmädchen, vor allem aber den Baumwollpflückern. Die versorgen sich während der Saison schon frühmorgens bei Momma. Maya sieht sie fröhlich zur Arbeit auf dem Feld aufbrechen und abends geschunden heimkehren. Schon das Kind realisiert, dass die Arbeiter so wenig verdienen, gleich wieviel sie pflücken, dass es doch nie reichen wird, um auch nur die Schulden bei Momma zu tilgen.
    Eine Kindheit in strikter südstaatlicher Rassentrennung
    Auch Maya leidet, trotz finanzieller Sorglosigkeit, unter der Diskriminierung: "Wären sie nicht überrascht, wenn ich eines Tages aus meinem hässlichen schwarzen Traum erwachte und meine wirklichen Haare, die lang und blond waren, die Stelle der gekräuselten Masse einnehmen würden, die zu glätten Momma mir nicht erlaubte? Dann würden sie verstehen, weshalb ich nie den Akzent des Südens angenommen hatte und nicht den üblichen Slang sprach. Weil ich in Wirklichkeit weiß war und eine böse Märchenstiefmutter, die verständlicherweise eifersüchtig auf meine Schönheit war, mich in ein zu großes schwarzes Mädchen verwandelt hatte, mit breiten Füßen und solchen Abständen zwischen den Zähnen, dass ein Bleistift bequem dazwischengepasst hätte."
    Angelous Rückschau wird dabei nicht aus der völligen Distanz der Erwachsenen erzählt, sondern bedient sich durchaus Gestaltungen von kindlichen Schilderungen ohne sprachlich aufgesetzt zu sein. Das Mädchen hat früh gelernt, dass Weiße anders sind, dass man sie fürchten muss. Menschen im Wortsinn sind für Maya nur ihre Nachbarn, ihre Freunde, andere Schwarze: "Die andern, die seltsamen bleichen Kreaturen, die ihr fremdes Unleben lebten, waren keine Menschen. Sie waren Weiße.
    Demütigungen durch zerlumpte weiße Kinder
    Als besonders hart und verstörend beschreibt Angelou dann das Aufeinanderprallen dieser Wirklichkeiten, wenn Mitglieder der weißen Unterschicht auf die geliebte, nicht immer einfache, Großmutter treffen. Selbst zerlumpte Kinder können eine erfolgreiche Geschäftsfrau durch das bloße Ausspielen der gesellschaftlichen Gegebenheiten vor der Enkelin demütigen. Hilflos beobachtet Maya eine solche Szene. Ihr bleibt unverständlich, wie die von ihr verehrte Großmutter die Demütigung stoisch entgegennehmen und sogar noch höflich gegenüber ihren kindlichen Peinigern bleiben kann.
    "Ich explodierte. Wie ein Kracher am Vierten Juli explodierte ich. Wie konnte Momma sie Miz nennen? Diese schäbigen, widerlichen Dinger. Warum konnte sie nicht in den süßen, kühlen Laden kommen, als wir sie den Hügel herunterkommen sahen? Was hatte sie bewiesen? Und dann, wo sie doch schmutzig, schäbig und unverschämt waren, warum musste sie sie Miz nennen?"
    "Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt" hat viele solcher Schlüsselszenen, etwa das Einfallen der Eltern in Stamps und der Umzug zurück zur leiblichen Mutter nach St. Louis. Besonders traumatisch wirkt dort nicht das Neuerleben von Rassentrennung, nun in der Stadt, statt auf dem Land, sondern der sexuelle Missbrauch durch den Lebensgefährten der Mutter.
    Das Verbrechen selbst nimmt nur wenige Sätze ein. Doch diese legen sich bleiern über die gesamte Erzählung. Die Achtjährige verstummt ob dieses Traumas. Aus dem selbstgewählten Schweigen taucht Maya erst wieder auf, als eine Bekannte ihrer Großmutter sie mit Literatur in Verbindung bringt. Mit Dickens, Thackeray und vor allem Shakespeare findet Maya ihre Sprache wieder.
    Maya zwischen Resignation und Rebellion
    Neben kleinen Akten der Rebellion prägt vor allem die kindliche Hilflosigkeit angesichts der Rassentrennung das Heranwachsen von Maya. Edward Donleavy, ein Bürokrat, der auf der Abschlussfeier von Mayas Schule eine Lobrede auf die Verbesserungen in der Ausbildung hält, führt allen Anwesenden vor, dass hierdurch eigentlich nur das Vorankommen der sowieso privilegierten Weißen vereinfacht wurde. Jedem Absolventen weist Donleavy seinen Platz in der Gesellschaft zu: Während weiße Jugendliche die Chance haben, Galileos und Madame Curies zu werden, dürfen die schwarzen Jungen lediglich versuchen, Jesse Owens oder Joe Louis zu werden, die Mädchen sind ganz aus dem Spiel. Alle Versammelten erstarren und sind beschämt. Die Freude über den ersehnten Festtag ist vergällt. Und auch Maya ist zunächst entsetzt.
    "Wir waren Mägde und Bauern, Handlanger und Waschfrauen, und es war albern und vermessen, Höheres anzustreben. Schwarz zu sein, nicht über das eigene Leben bestimmen zu können, war schrecklich. Jung zu sein, aber schon gewohnt die Vorurteile über die eigene Hautfarbe still und widerspruchslos anzuhören, war brutal. Besser, wir wären alle tot. Alle, eine Leichenpyramide: unten die Weißen, dann die Indianer mit ihren verrückten Tomahawks, Wigwams und Verträgen, dann die Schwarzen mit ihren Schrubber, Rezepten, Baumwollsäcken und Spirituals, die ihnen zum Hals raushingen."
    Erst jener Musterschüler, der die Abschlussrede unter dem Motto "Sein oder Nicht sein" halten soll, durchbricht die Fassungslosigkeit des Publikums. Außerplanmäßig stimmt er die "afroamerikanische Nationalhymne" "Lift Ev’ry Voice and Sing" an und gibt allen Anwesenden die in Minuten zerstörte Identität zurück.
    Identitätsstiftende Kraft von Musik und Literatur
    An dieser wie an vielen Stellen feiert Angelou die Kraft von Worten, Musik und Literatur.
    "Ihr bekannten und unbekannten Dichter. Ihr habt eure Leiden preisgegeben, und wie oft habt ihr uns aufgerichtet. Wer zählt die einsamen Nächte, die eure Lieder weniger einsam, die leeren Töpfe, die eure Erzählungen weniger leer gemacht haben."
    "Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt" endet, bevor die abenteuerliche berufliche Laufbahn der Autorin beginnt und eine Biographie wie keine zweite geprägt wird. Mit dem Buch setzt sie Mitgliedern ihrer Familie ein literarisches Denkmal und schreibt wie beiläufig eines der größten Memoirs über die Rassentrennung und über die Selbstbehauptung einer jungen, schwarzen Frau. Dabei sollte, abgesehen von den literarischen Qualitäten, die Selbstverständlichkeit, mit der Rassismus bis heute in unserer Gesellschaft verankert ist, Angelous Werk zur Pflichtlektüre in Schulen werden lassen. "Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt" ist ein literarisches Mahnmal – leider immer noch. Richtig und wichtig daher, dass der Suhrkamp Verlag dieses grandiose Buch in der Übersetzung von Harry Oberländer neu aufgelegt hat.
    Maya Angelou: "Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt", aus dem amerikanischen Englisch von Harry Oberländer, Suhrkamp Verlag, Berlin, 321 Seiten, 12 Euro