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Merkel-Auftritt
"Zynische Doppelmoral der Kanzlerin"

Die Linken-Politikerin Sevim Dagdelen wirft Bundeskanzlerin Merkel Zynismus vor. Es reiche nicht aus, zu predigen "Wir schaffen das", ohne die Voraussetzungen für gelungene Integration zu schaffen, sagte Dagdelen im DLF. Dafür müsse man Geld in die Hand nehmen - auch, um den sozialen Frieden in Deutschland zu erhalten.

Sevim Dagdelen im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 28.07.2016
    Die Abgeordnete der Partei Die Linke, Sevim Dagdelen, spricht am 05.06.2014 im Deutschen Bundestag in Berlin zur Debatte um Staatsangehörigkeit.
    Die Linken-Abgeordnete Sevidm Dagdelen wirft der Kanzlerin "zynische Doppelmoral" vor. (dpa / picture-alliance / Wolfgang Kumm)
    Damit die Integration von Flüchtlingen gelingen könne, müsse man in preisgünstige Wohnungen, soziale Mindeststandards, Arbeits- und Ausbildungsplätze und Bildungswesen investieren, sagte Dagdelen im Deutschlandfunk. Auch Polizei müsse finanziert werden. Diejenigen, die sich seit Jahren für eine gute Wohnung abstrampelten, dürften nicht das Gefühl bekommen, das alles nur für die Flüchtlinge da sei und für sie nichts. "Wir brauchen eine Sozialoffensive", so die Linken-Abgeordnete.
    Der CSU warf Dagdelen Rechtsbruch vor. Die Partei habe als Reaktion auf die Anschläge in Würzburg, München und Ansbach "aberwitzige Vorschläge" gemacht, so schrecklich die Taten auch gewesen seien. Niemand dürfe in ein Land abgeschoben werden, in dem sein Leben bedroht sei, betonte die Linken-Politikerin. Das wisse auch die CSU, "und trotzdem macht sie Vorschläge, die verfassungsfeindlich sind". Dagdelen stellte klar: "Auf Terror darf man nicht mit Rechtsbruch reagieren."

    Das komplette Interview zum Nachlesen:
    Jürgen Zurheide: Die CSU hat sich zu einer Klausur am Tegernsee getroffen, obwohl es da beschaulich ist, war das Thema: Sicherheit durch Stärke.
    - Das Ganze wollen wir bewerten und dazu begrüße ich am Telefon Sevim Dagdelen von der Linken. Zunächst einmal sage ich schönen guten Abend!
    Sevim Dagdelen: Ja, schönen guten Abend, Herr Zurheide!
    Zurheide: Wie sehen Sie das? Die Kanzlerin sagt auch – zwar nicht so ganz direkt, aber mindestens nimmt sie das Wort in den Mund – Krieg. Sind wir im Krieg mit dem IS?
    Dagdelen: Na, ich würde sagen, spätestens da, als der Bundestag gegen die Stimmen der Linken beschlossen hat, sich am Bombenkrieg in Syrien mit zu beteiligen durch den Tornado-Einsatz, durch eine Fregatte, durch die Betankungskapazitäten für die anderen Militärjets der Allianz der Willigen unter der Führung der USA, ist natürlich auch Deutschland an diesem Bombenkrieg gegen Syrien beziehungsweise gegen den IS auch mit beteiligt.
    Zurheide: Wobei man den Eindruck hat, dass das Wort Krieg hier in erster Linie benutzt wird nicht bezogen auf das, was im Nahen Osten passiert, sondern bezogen, was hier bei uns passiert. Ist das eine zutreffende Beschreibung oder wie würden Sie das im Moment bezeichnen?
    Dagdelen: Also, es gibt eine Erklärung des IS schon eben im Rahmen dieser Bundestagsentscheidung, dass, wenn die Bundestagsentscheidung kommt, dass es dann auch zu erwarten wäre sozusagen, dass der IS auch Anschläge in Deutschland verüben wird oder auch steuern wird, organisieren wird, dass Deutschland damit zu rechnen hat. Es gibt diese Videos, wo die führenden Funktionäre des IS das auch angekündigt haben. Insofern würde ich sagen, dass man auch hier im Krieg beteiligt ist. Das spiegelt sich doch sowieso wider, dieser insgesamte Krieg gegen den Terror, der seit über 15 Jahren weltweit geführt wird, der hat ja mit dazu geführt, dass es eben auch gerade in den westlichen Staaten solche Anschläge gegeben hat von Terrororganisationen. Ob das jetzt der IS ist neuerdings oder eben früher durch die Al Kaida, das war schon immer so. Jeder Bombenkrieg, jeder Ölkrieg oder Gaskrieg im Nahen, Mittleren Osten hat auch natürlich Terrorattacken wieder möglich gemacht oder, sagen wir so, hervorgerufen zumindest.
    Zurheide: Die Kanzlerin hat gesagt: Wir schaffen das. Wie gefällt Ihnen dieser Satz?
    Dagdelen: Na ja, also, ich finde das wirklich eine zynische Doppelmoral der Bundeskanzlerin, mit der sie "Wir schaffen das" predigt, ohne selbst aber die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass eine Integration tatsächlich gelingen kann. Weil es reichen eben keine warmen Worte aus, auch kein wohlfeiles Lob einer Willkommenskultur meiner Meinung nach, das weiß ich auch aus persönlicher Erfahrung. Preisgünstige Wohnungen insbesondere in Großstädten, das ist nötig, Arbeits- und Ausbildungsplätze, soziale Mindeststandards, die auch Lohndumping verhindern. Wir brauchen eine öffentliche Infrastruktur, Bildungswesen, Gesundheitswesen, aber auch Polizei. Das allein wurde in den letzten Jahren immer weggespart. Also, der Sozialstaat wurde gekürzt und da müssen wir halt ran jetzt, sowohl um die Flüchtlinge, die man ja aufgenommen hat und denen eine menschenwürdige Behandlung natürlich auch wir schulden, aber auch um den sozialen Frieden in Deutschland zu erhalten. Damit viele, die seit Jahren für eine gute Wohnung ja sich abstrampeln oder im Gesundheitswesen oder im Bildungsbereich nicht weiterkommen, damit die nicht das Gefühl haben, dass alles für die Flüchtlinge da ist, aber für sie selbst nicht. Deshalb brauchen wir wirklich eine Sozialoffensive, um alles zu schaffen. Allein "Wir schaffen das" zu sagen, aber nicht zu sagen, wie man das schafft, und beispielsweise auch nicht das notwendige Geld in die Hand zu nehmen, das ist meiner Meinung nach wirklich zynisch.
    Zurheide: Auf der anderen Seite, die Debatte geht im Moment ja weniger um diese Themen, die Sie da gerade ansprechen, als vielmehr um die Sicherheitsfrage. Und da geht es eher um die Frage: Abschieben und möglicherweise auch in Krisengebiete? Wie sehen Sie das?
    Dagdelen: Auf Terror darf man nicht mit Rechtsbruch antworten
    Dagdelen: Nein, ich finde, diese Vorstellungen und Vorschläge beispielsweise jetzt von ganz rechts außen, also von der AfD, dass man jetzt das Asylrecht für Muslime einschränken will, das finde ich völlig abwegig und nicht geeignet für einen ernsthaften politischen Dialog, weil das einfach verfassungsfeindlich ist. Das Recht auf Asyl haben alle Menschen, unabhängig welcher Religion sie angehören. Und genauso sind diese aberwitzigen Vorschläge von der CSU zu werten. So schrecklich die Verbrechen in Würzburg, München und auch Ansbach in den vergangenen Tagen waren: Auf Terror darf man nicht mit Rechtsbruch antworten. Und die Vorschläge aus der CSU sind wirklich Rechtsbruch, weil, die Abschiebung von Flüchtlingen in Konfliktgebiete verstößt ganz klar gegen internationales Recht, gegen das Völkerrecht. Kein Mensch darf in ein Land abgeschoben werden, in dem sein Leben einfach gefährdet ist, das weiß auch die CSU. Und trotzdem machen sie einfach Vorschläge, die verfassungsfeindlich sind und auch am Thema vorbeigehen. Insofern kann man das so auf jeden Fall nicht schaffen. Man muss schon gewährleisten, dass die Menschen, die hierhergekommen sind, die auch hierher gerufen wurden teilweise, dass man sie menschenwürdig auch behandelt, das heißt, individuell natürlich auch prüft ihr Recht, ob sie bleiben können oder nicht bleiben können. Und wenn sie nicht bleiben können, dann muss man natürlich gucken, ob das eben rechtskonform geschieht sozusagen, die Zurückweisung, oder nicht.
    Zurheide: Na ja, es geht um Straftäter möglicherweise. Da ist die Frage, es sind etliche da, die aber einfach hier bleiben, weil die Abkommen nicht da sind. Das kann ja auch nicht sein. Dass Menschen sich darüber ärgern, können Sie das verstehen?
    Dagdelen: Natürlich verstehe ich diese Verärgerung darüber, dass irgendwelche Straftäter hier sind, die überhaupt keinen Grund haben sozusagen oder keine Berechtigung haben, in Deutschland zu sein, und trotzdem hier sind. Das ist natürlich auch insofern nachvollziehbar, diese Verärgerung. Aber nun gut, ich meine, wenn wir Straftäter aus Afghanistan haben, dann ist trotzdem für mich die Frage: Was wollen wir mit denen machen? Wollen wir Rechtsbruch begehen und sie nach Afghanistan schicken? Ich meine, das kann nicht die Lösung sein, weil, das ist halt einfach ein Rechtsbruch. Außer ich sage, der Rechtsstaat und alles, was unsere rechtsüblichen Normen sind, werden einfach außer Kraft treten. Das kann nicht meine Antwort sein, finde ich, auf so eine Situation.
    Zurheide: Na ja, man kann auch sagen, auch bei Flüchtlingen und Flüchtlingskonventionen zum Beispiel, dass man die Menschen eher in der Nähe ihrer Heimat unterbringt. Damit sind wir dann ziemlich schnell bei der Türkei und sagen, ja, so schwierig das jetzt gerade ist, deshalb will ich das offen fragen: Müssen wir der Türkei weiter helfen, dass die Flüchtlinge, die in die Türkei gegangen sind, trotz der schwierigen innenpolitischen Lage, dass sie da vernünftig untergebracht werden? Könnte ja sinnvoller sein, als die alle hierhin zu holen, die hier möglicherweise auch aus kulturellen Gründen kaum klarkommen.
    Dagdelen: Erdogan ist die personifizierte Fluchtursache
    Dagdelen: Na, also, ich bin immer dafür gewesen, dass die Bundesregierung anfangen sollte, endlich nicht nur über Fluchtursachenbekämpfung zu sprechen, sondern Fluchtursachen tatsächlich zu bekämpfen. Dazu gehört für mich aber nicht, der drittgrößte weltweite Waffenexporteur zu sein, sondern eben Waffenexporte zu stoppen, Freihandelsabkommen wie TTIP et cetera zu stoppen, weil das die Lebensgrundlagen von Millionen Menschen zerstören wird wegen der ungleichen Wirtschaftsordnung. Und dazu gehört aber auch, dass man aufhört, Diktaturen zu unterstützen. Und die Türkei ist de facto im Moment eine Diktatur und die türkische Regierung ist eine eigene Fluchtursache. Erdogan selbst, der türkische Staatspräsident ist eine personifizierte Fluchtursache durch die Verfolgung von Andersdenkenden im Moment. Und deshalb ist dieser ganze Deal sowieso zum Scheitern verurteilt. Aber ich bin dafür, dass man bei der Fluchtursachenbekämpfung eben die Aufnahmeländer auch unterstützt. Beispielsweise geben wir so viel Geld jetzt, sechs Milliarden, für die Türkei aus. Ich frage mich: Wieso geben wir nicht ansatzweise für die Aufnahmeländer wie Libanon aus, wie Jordanien aus oder die anderen Länder, die drum herum, Irak beispielsweise? Natürlich muss man alles tun, damit die Menschen nicht fliehen müssen, nicht ihre Heimat verlassen. Aber die Lebensmittelrationen werden immer noch sehr prekär ausgegeben, wir bezahlen hier Hunderte von Euro für einen Flüchtling im Monat und dort kostet eine Ration am Tag 45 Cent. Man könnte mit dem Geld, was man hier ausgibt, viel mehr den Leuten vor Ort helfen. Das wäre ein Ansatz.
    Zurheide: Okay, alles klar, ich bedanke mich ganz herzlich bei Ihnen, Sevim Dagdelen! Keine Hilfe für die Türkei, aber für andere, und ansonsten haben wir uns über die Kanzlerin unterhalten. Ich bedanke mich herzlich für das Gespräch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.