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Migrationsgipfel in Paris
"Das Ende wertegeleiteter Politik"

Claudia Roth (Grüne) hat den Migrationsgipfel in Paris kritisiert. Er habe nur zum Ziel gehabt, zu verhindern, dass Geflüchtete überhaupt nach Europa kämen, sagte die Bundestagsvizepräsidentin im Dlf. Fluchtursachen würden damit nicht bekämpft - diese Politik sei damit das Gegenteil einer verantwortlichen Flüchtlingspolitik.

Claudia Roth im Gespräch mit Sarah Zerback | 29.08.2017
    Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Claudia Roth (Grüne), äußert sich am 30.05.2016 in Berlin zum Thema Rassismus.
    Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Claudia Roth (Grüne) (dpa)
    Sarah Zerback: Am Telefon ist jetzt Claudia Roth von den Grünen, Bundestagsvizepräsidentin ist sie auch. Guten Morgen, Frau Roth!
    Claudia Roth: Schönen guten Morgen, Frau Zerback.
    Zerback: Menschen davon abhalten, dass sie in klapprige Boote steigen – ein Schritt in die richtige Richtung?
    Roth: Ich finde, was wir erlebt haben mit diesem Minigipfel, bei dem sich Frau Merkel, Herr Macron, Herr Gentiloni aus Italien, Herr Rajoy aus Spanien zusammengesetzt haben mit Vertretern aus Niger, aus Tschad, aus Libyen, hatte nur ein einziges Ziel, und zwar zu verhindern, dass Geflüchtete bei uns in Europa überhaupt ankommen. Und zwar koste es was es wolle. Und wenn Sie sich die Zitate anhören, die Worte, die gefallen sind – ich zitiere: "Die humanitäre Verantwortung gebietet es, illegale Flüchtlingsrouten zu schließen." Wo sind denn, bitte schön, legale Routen, sagt Frau Merkel. "Verringern von Zahlen", einer der schlimmsten Ausdrücke von Frau Merkel. "Keine falschen Zeichen setzen, eindämmen, verringern, verhindern, dass Menschen überhaupt nach Europa kommen." Daraus spricht doch der ganze eiskalte Zynismus einer Politik, die sich in schöne Worte verkleidet, aber die mitnichten Fluchtursachen, sondern die Flüchtlinge bekämpfen will. Und das ist Gegenteil einer verantwortlichen Flüchtlingspolitik. Das ist das Gegenteil von humanitärer Schutzverantwortung. Und ich finde, es ist das Ende wertegeleiteter Politik.
    Zerback: Aber, Frau Roth! Entschuldigung, wenn ich Sie da unterbreche. Aber was ist es denn anderes als humanitär, wenn man Menschen davon abhält, sich auf diese gefährliche Fahrt zu begeben? Dann kann man doch auch nicht ertrinken oder in Schlepperhände fallen.
    Roth: Aber dann kann man sich doch, bitte schön, nicht ausgerechnet Partner suchen wie in Libyen. Libyen soll ja ein ganz entscheidendes Partnerland werden. Schauen Sie es sich an: Man hat sich jetzt in Paris getroffen mit Herrn al-Sarraj. Das ist einer der Präsidenten in Libyen, der sogenannten Präsidenten, der nur einen ganz kleinen Teil in Libyen kontrolliert. Der Osten wird von Haftar kontrolliert. Es ist kein Staat, es gibt keine staatlichen Strukturen. Es sind dort die Warlords, bewaffnete Milizen, Armee, Islamisten, Tuareg-Rebellen, die von sehr unterschiedlichen Unterstützern Hilfe bekommen: vom Westen, von islamischen Staaten, Türkei, Russland, China, USA, Europa. Man kann doch nicht davon sprechen, dass es dort Strukturen gibt, die es ermöglichen würden, Flüchtlinge dort in Hotspots, wie soll ich sagen, aufzunehmen, denn alle Menschenrechtsorganisationen, UN-Vertreter sprechen von der Hölle auf Erden, von Orten des Grauens. Deswegen führt kein Weg daran vorbei, dass es sichere Zugangswege zu uns nach Europa gibt, um den Schleusern das Handwerk zu legen, Menschenleben zu retten und Ordnung reinzubringen.
    Zerback: Aber, Frau Roth, dass die Situation da so schlimm ist, wie sie ist, das bestreitet ja keiner. Das bestreitet zum Beispiel auch nicht die Union. Ich darf da mal Norbert Röttgen zitieren. Der sagt, wir können uns doch unsere internationalen Partner aber nicht aussuchen.
    "Man baut einen militärischen Abschirmring"
    Roth: Wir können unsere internationalen Partner nicht aussuchen. Aber wir können doch nicht mit Warlords, mit Militanten, mit Verbrechern Deals abschließen mit nur einem Ziel, dass die verhindern, dass die Menschen überhaupt nach Europa kommen. Natürlich ist es richtig, Fluchtursachen zu bekämpfen. Ja, das ist richtig, mit einer richtigen Afrika-Politik, die Demokratie unterstützt, die versucht, die autokratischen Systeme zu überwinden, die aufhört, Rüstung zu liefern, die eine andere Handelspolitik macht von uns aus, denn diese Handelspolitik marginalisiert ja auch afrikanische Länder. Aber wie sieht heute der Paradigmenwechsel in der Entwicklungspolitik aus? Dass Entwicklungspolitik eingesetzt wird für militärische Aufrüstung, für Grenzsicherung, dass man Länder sogar erpresst und sagt, ihr bekommt nur noch Hilfe, wenn ihr verhindert, dass Menschen eure Länder verlassen können, wie Niger oder wie der Tschad. Das ist noch nicht eine Fluchtursachenbekämpfung im Kern. Das ist doch nicht etwas, wo wir zum Beispiel aus Europa aufhören würden, unsere billigen Massenüberreste von Nahrungsmitteln, die man hier nicht mehr verkaufen kann, billig auf regionale Märkte zu werfen, sondern das ist tatsächlich die Verlagerung, immer weiter die Verlagerung der europäischen Außengrenze nach Afrika. Man könnte auch sagen, wie es Pro Asyl sagt, man baut einen militärischen Abschirmring, und das ist für mich nicht eine verantwortliche Flüchtlingspolitik.
    Zerback: Oder man könnte sagen, wie Union und FDP es zum Beispiel tun, dass es jetzt wichtig wäre, die Situation, die ja unbezweifelt dramatisch ist in den Lagern in Libyen, dass man die verbessert. Wäre das nicht eine Lösung?
    Roth: Ja, natürlich. Aber zu behaupten, man könnte jetzt von heute auf morgen aus Libyen einen Ort machen, wo tatsächlich Geflüchtete Hilfe finden und Zuflucht finden, das ist wirklich völlig irreal. Das ist die vollkommene Verkehrung von den Realitäten. Jeder der sich auskennt weiß, was in Libyen los ist. Das sind rechtsfreie Räume. Diese Flüchtlingslager, das sind Orte des Grauens. Da wird vergewaltigt, da wird gemordet. Das ist die Hölle auf Erden. Und man hat ja mit Libyen, mit diesen Milizen, mit dieser sogenannten Küstenwache schon sehr eng zusammengearbeitet. Die libysche Küstenwache, die verfolgt ja nicht die Schlepper, sondern viele Berichte machen deutlich, dass sie im Kern mit den Schleppern zusammenarbeiten. Aber was sie tun: Sie bedrohen und verfolgen Nichtregierungsorganisationen, die Seenotrettung geleistet haben, wie zum Beispiel die deutschen Sea-Eye-Retter, die in der Vergangenheit 12.000 Menschen das Leben gerettet haben. Die werden jetzt bedroht von libyscher Küstenwache unter dem Applaus von Brüssel und von Berlin.
    Zerback: Das klingt ja alles einfach nach einer wahnsinnig dramatischen Situation. Jetzt würde mich mal interessieren: Was ist denn dann Ihr Lösungsvorschlag, Frau Roth? Sollen dann alle kommen?
    Flüchtlinge in Libyen "verschwinden einfach"
    Roth: Natürlich sollen nicht alle kommen. Da muss man auch mal aufhören. Denn von 67 Millionen Menschen auf der Flucht kommen gerade mal acht Prozent in die Länder, in denen es keine Kriege gibt, und drei Prozent etwa nach Europa. Man muss zum ersten alles dafür tun, dass das Sterben im Mittelmeer aufhört. Das tue ich aber doch nicht, wenn ich Milizen, libyschen Milizen die Aufgabe gebe und niemand, aber auch wirklich niemand weiß, was mit den Menschen, die nach Libyen zurückgeschickt werden, passiert. Die verschwinden einfach.
    Zerback: Aber wer soll denn dann kommen, noch mal nachgefragt?
    Roth: Erstens geht es darum, zu verhindern, dass Menschen ihre Heimat verlassen müssen. Das wäre Fluchtursachen bekämpfen, indem wir eine andere Afrika-Politik betreiben, indem wir tatsächlich ...
    Zerback: Aber, Frau Roth, das machen wir ja seit Jahrzehnten. Werden wir beide das noch erleben, dass das tatsächlich fruchtet?
    Roth: Nein! Entschuldigung! Das machen wir nicht seit Jahrzehnten, denn die agro-industrielle Politik der Europäischen Union trägt dazu bei, dass kleinbäuerliche Landwirtschaft in vielen Ländern kaputt gemacht wird. Unsere Klimapolitik beziehungsweise Nicht-Klimapolitik trägt dazu bei, dass es immer mehr Klimaflüchtlinge gibt. Rüstungsexporte, von der Bundesregierung vor Kurzem noch beschlossen, zum Beispiel nach Saudi-Arabien, tragen dazu bei, dass im Jemen Millionen von Menschen vertrieben und auf der Flucht sind. Das ist doch nicht Afrika-Politik. Afrika-Politik ist doch nicht eine Politik, die Entwicklungsgelder nicht dafür einsetzt, demokratische Strukturen zu fördern, sondern die sagt, ihr bekommt die Gelder nur, wenn ihr militärisch aufrüstet. Und das heißt, wir unterstützen im Kern Despoten, autoritäre Regime, anstatt tatsächlich eigenständige Möglichkeiten der Entwicklung zu schaffen.
    Zerback: Worauf ich hinaus will ist, dass das einfach dauern kann, Frau Roth. Und jetzt ist doch die Frage, was mit den ganzen Menschen ist, die teilweise einfach aus wirtschaftlichen Gründen und in großer Zahl ja aus wirtschaftlichen Gründen ihre Heimat verlassen möchten. Das ist die Mehrheit, die sich da vom afrikanischen Kontinent auf den Weg machen. Wollen Sie die alle nach Europa lassen?
    Roth: Noch mal: Ich will doch nicht alle Menschen in Europa lassen, sondern ich will, dass die aller-allermeisten Menschen in ihrer Heimat bleiben können. Was wir schon lange brauchen würden in Deutschland wäre, ...
    Zerback: Aber da bleiben sie ja nicht, Frau Roth.
    Einwanderungsgesetz "wurde systematisch blockiert"
    Roth: Moment! Was wir schon lange brauchen würden, wäre neben unserem Grundrecht auf Asyl, das natürlich keine Obergrenze kennt, eine Einwanderungspolitik, ein Einwanderungsgesetz, das dann tatsächlich nach Kriterien die legale Einwanderung zum Beispiel nach Deutschland ermöglicht, in den Arbeitsmarkt, zum Wissenschaftsstandort, zum Kulturstandort. Dieses Einwanderungsrecht, dieses Einwanderungsgesetz gibt es immer noch nicht. Es wurde systematisch blockiert.
    Zerback: Und vielleicht auch, weil – und das sind aktuelle Zahlen – sieben von zehn Deutschen eher ein härteres Vorgehen gegen Mittelmeer-Flüchtlinge fordern. Die fordern auch, dass die nach Libyen zurückgeschickt werden. Wie wollen Sie denen denn erklären, dass die Zahlen jetzt wieder steigen könnten?
    Roth: Man fragt sich ja, warum findet diese Minikonferenz jetzt statt. In Deutschland sind Wahlen, in Italien sind demnächst Wahlen, die Werte von Macron gehen nach unten, Rajoy fürchtet sich, dass nach Spanien Flüchtlinge kommen. Und man wundert sich nicht, dass gerade jetzt so ein kleiner Minigipfel passiert. Aber wenn es darum geht, in dieser Welt, die voller Kriege, voller Konflikte, voller Krisen ist, dass Europa zeigt, was eine wertegeleitete Politik ist, dass Europa zeigt, was humanitäre Schutzverantwortung ist, dann müssen wir doch dem Sterben im Mittelmeer etwas entgegensetzen – nicht, indem wir die Außengrenze nach Afrika verlagern, nicht, indem wir die Augen verschließen vor dem Elend, sondern mit einer Afrika-Politik, mit einer Entwicklungspolitik, die eigene Perspektiven eröffnet, aber auch mit der Aufnahme derer, die auf der Flucht sind und die Hilfe brauchen, und einer fairen Verteilung und einer eigenständigen europäischen Flüchtlingspolitik zeigen, was den Unterschied macht. Die Deals mit Herrn Erdogan sind keine Modelle und eine symbolische Politik der harten Hand, die nimmt in Kauf, dass Menschen sterben und dass wir sagen, Hauptsache wir sehen nicht mehr das Elend der Welt und wir schließen uns ein in unserer Insel der Seligkeit.
    Zerback: Aber sehen Sie nicht auch, dass es dafür keine einfachen Lösungen gibt, dass wir da tatsächlich auch als deutscher Staat in Deutschland in einem Dilemma stecken?
    "Es sind keine einfachen Aufgaben"
    Roth: Natürlich gibt es nicht einfache Lösungen. Es gibt überhaupt nicht einfache Lösungen. Aber der Papst sagt doch ganz richtig, es geht um das Retten von Menschenleben. Es geht um das Retten von Menschenleben. Es geht darum, dass diejenigen, die Hilfe und Zuflucht brauchen, diesen Ort auch finden. Und natürlich ist es richtig, wenn jetzt zum Beispiel behauptet wird, man würde eine Art Aufnahmeprogramm auch für Menschen ermöglichen, die tatsächlich Hilfe brauchen. Das gibt es aber schon lange und ich warte schon lange darauf, dass man sich beteiligt, Deutschland, aber auch Frankreich, andere, am Resettlement-Programm des UNHCR. Das heißt, der UNHCR sagt, die und die und die Geflüchteten brauchen sichere Orte, sollen aufgenommen werden. Das ist richtig. Aber da wird von Zahlen gesprochen, 20.000 in ganz Europa. Das ist nur der Tropfen auf den heißen Stein. Und wenn es ernst wäre mit dem Resettlement-Programm, wenn es ernst wäre, dass wir die Länder entlasten, die in absoluten Krisensituationen sind und die drohen zu kollabieren, wie Libanon, wie Jordanien, wie der Irak, dann hätte man das schon lange getan. Aber da gibt es ja diesen schäbigen Türkei-Deal.
    Noch einmal: Es sind keine einfachen Aufgaben. Es gibt keine einfachen Antworten. Ja, es dauert auch. Aber ich will nicht, dass jeden Tag unsere Werte und eine humanitäre Schutzverantwortung im Mittelmeer ertrinkt und wir die Verantwortung in Afrika ablagern.
    Roth: Claudia Roth war das, die Grünen-Politikerin, Bundestagsvizepräsidentin. Besten Dank für Ihre Zeit heute in den "Informationen am Morgen", Frau Roth.
    Roth: Vielen Dank, Frau Zerback.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.