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Minna Rytisalo: "Lempi, das heißt Liebe"
Eine Frau, drei Geschichten

In dem Debütroman "Lempi, das heißt Liebe" schildert die finnische Autorin Minna Rytisalo eine Dreiecksbeziehung zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in Finnland. Lempi ist die rätselhafte Hauptfigur, deren Geschichte aus der Sicht ihres Ehemanns, ihrer Zwillingsschwester und einer Magd erzählt wird.

Von Jan Drees | 27.08.2018
    Buchcover: Minna Rytisalo: "Lempi, das heißt Liebe" und Nordlichter in Finnland
    Buchcover: Minna Rytisalo: "Lempi, das heißt Liebe" und Nordlichter in Finnland (Buchcover: Hanser Verlag, Hintergrund: picture alliance / dpa / Foto: Ismo Pekkarinen)
    Lempi, das heißt Liebe im Finnischen, so heißt auch die deutsche Übersetzung dieses Debüts, und die gleichsam an- wie abwesende Hauptfigur, eine rätselhafte Frau, die aufwächst im beschützten Lappland der 20er und 30er Jahre. Sie hat eine Zwillingsschwester, Sisko, die nicht nur elf Minuten nach ihr geboren, sondern Lempi auf immer neu variierende Arten und Weisen unterlegen ist: "Heutzutage wird viel über Gleichberechtigung gesprochen, und dass Frauen dieselben Rechte und Möglichkeiten haben wie Männer. Ich war damals noch nicht so weit. Du dagegen schon. Du warst die Mutigere von uns, die Erwachsene, ich eine im Wind trudelnde Feder."
    Verbündete im 2. Weltkrieg: Finnland und Deutschland
    Lempi, die Bewunderte, verliebt sich früh, sie heiratet, sie erlebt unbeschwerte Tage, doch dann bricht der Krieg gegen Russland aus, und Finnland kämpft auf Seiten der deutschen Waffenbrüder. – so viel in aller Knappheit. Minna Rytisalos Debütroman gestaltet aus drei Erzählperspektiven sein Panorama der Vergeblichkeit vorm Hintergrund eines hierzulande eher unbekannten politischen Konflikts, der im Nachwort der Übersetzerin Elini Kritzokat skizziert wird:
    "Jahrhundertelang zu Schweden gehörend, wurde Finnland 1809 Großfürstentum des russischen Zarenreichs, konnte sich jedoch im Zuge der Oktoberrevolution von Russland lösen und 1917 seine Unabhängigkeit erklären. Als Russland den kleinen Nachbarstaat gut zwei Jahrzehnte später im November 1939 angriff, um das strategisch wichtige Gebiet der Karelischen Landenge zu erobern, kam es zum Winterkrieg zwischen Finnland und Russland. Dieser wurde im März durch den Friedensvertrag von Moskau beendet. Dem kleinen Staat wurde schmerzhaft deutlich, dass er sich langfristig nicht allein gegen russische Angriffe würde verteidigen können, und er suchte die Nähe zu Deutschland."
    Individuelle Schicksale vor dem Hintergrund der Geschichte
    Auch ohne diesen Hintergrund ist der Roman nachvollziehbar, denn im Mittelpunkt stehen weniger die historischen als jene individuellen Schicksale, die mit Lempi verknüpft sind. Alle drei, der aus dem Krieg heimgekehrte Gatte, die Magd des Ehepaars und die sich unterlegen fühlende Schwester erzählen je ein Drittel der Geschichte; und langsam entsteht aus diesen Erinnerungen ein Bild der Figur, ein Bild des höheren Töchterchens Lempi, die beinahe zufällig an den Farmer Viljami gerät. - Zu Beginn kehrt eben dieser Viljami vom Schlachtfeld heim. Aus den Briefen der Magd Elli wurde ihm mitgeteilt, dass seine Frau gestorben, nur sein Sohn Aare und sein Ziehsohn Antero überlebt haben. Aus dem Lazarett entlassen, weil sein Leiden lediglich seelischer und nicht körperlicher Natur ist, sieht sich dieser gebrochene Mann vorm Nichts stehen:
    "Wenn ich wählen könnte, hätte ich lieber eine Verletzung. Eine Verletzung, die mich schwächt. Alles lieber als dieses Gefühl, das mich das Ende herbeisehnen lässt."
    In Trauer gefangen
    In diesem ersten Drittel des Romans wird eine große, scheinbar unbeschwerte Liebe zu Lempi heraufbeschworen: Viljami ist gefangen in einer Trauer, die er nicht vorbeigehen lassen will, weil dieses Vorbeigehen bedeutete, dass man ihren Grund vergisst. Beeindruckend, wie Rytisalos Text hier eine äußere wie seelische Landschaft der Melancholie entwirft, eine erste Vertreibung inszeniert aus dem, was einer für sein privates Paradies gehalten hat:
    "Mit jedem meiner Atemzüge wirst du ein wenig mehr Geschichte, entweichst in die Vergangenheit und entfernst dich von mir, und das ist falsch, nach all dem."
    Die Eifersucht der Magd
    Dass die Erinnerung trügt, dass er möglicherweise nur hereingefallen ist auf eine manipulative Frau, erzählt das zweite Drittel aus Sicht der eifersüchtigen Magd Elli. Sie sah sich bereits an der Seite Viljamis, wird dann aber ausgebootet. Sie hasst diese Frau, die ihr wie eine Nebenbuhlerin vorkommt, ob ihres höheren Standes und ihres exaltierten, ausbeuterischen Wesens:
    "Ja, ich wünschte dir den Tod. Ich betete. Gott, nimm diese nichtsnutzige Stadtgöre, diese verdammte Hure fort, diese an elektrisches Licht und Radio gewöhnte Samt-Saum-Schlampe, diese Nagelfeile."
    In Ellis Erzählung verwandelt sich Lempi in eine Schickse, die ihren Mann benutzt und die verbitterte Magd zurücklässt hat mit den beiden Jungs. Die Kinder und den Mann will Elli für sich allein, als der gebrochene Viljami auf den finnischen Hof zurückkehrt, mit dem Netz des körperlichen Begehrens will sie den Mann einfangen für immer, denn, so charakterisiert sie sich selbst: "ich bin eine brünstige Kuh, eine Katze, die im Frühling laut maunzt."
    Ein Blick zurück aus dem Heute
    Aus der Gegenwart unserer Zeit erinnert sich abschließend die greise Sisko, die elf Minuten jüngere Zwillingsschwester. Sisko sucht ihr Glück in Abgrenzung zu Lempi. Am Anfang des Krieges gegen Russland verlobt sie sich mit dem wohlerzogenen Wehrmachtsoffizier Max, sieht in ihm den Ausbruch in ein anderes Leben. Ist die Sexualität in Viljamis Beschreibungen von seiner Ehe mit Lempi geradezu keusch, bei der Magd liebesferne Naturgewalt, so wird sie für Sisko zum Ort des Schmerzes, den sie auszuhalten bereit ist:
    "Manchmal drückte er aus heiterem Himmel meinen Kopf nach unten, und ich hatte sofort mitzumachen, auch wenn mir dabei übel wurde, oder ich weinen musste, und hinterher verspottete er mich noch dafür."
    Lempi, die Projektionsfläche für drei Leben
    Sisko hält es aus, denn in Hamburg, nach dem Krieg, würde sich alles zum Guten wenden, sie ist sich sicher, in einem Bett würde es sich bequemer, weniger nach Turnen anfühlen. – Lempi wird von Sisko beäugt und beneidet, ob der verzauberten Blicke ihres Gatten, ihres Lebens mit Hof und Magd und ihres Kindes. Sisko wäre gern die Seelenverwandte von Lempi, deren Schwangerschaft sie selbst spürt im eigenen Körper, der gegenüber Max nur zum privaten Kriegsschauplatz wird – bis er sie am Ende verlässt. – Doch: wer ist Lempi, diese Frau, deren Name Liebe heißt? Sie ist augenscheinlich eine Projektionsfläche für jene Sehnsüchte, die ihre Mitmenschen haben; dabei zeigt sie sich niemals selbst, als eigenständiges Wesen.
    Dreimal ist Lempi Zielgebiet anderer Biographien, dreimal wird sie belastet mit den Zuschreibungen Anderer, dreimal ist sie An- wie Abwesende, eine Unberühr-, eine Unverstehbare. Ihr Erscheinen erinnert permanent an eine Epiphanie. Dass die Finnin Minna Rytisalo trotz des historischen Hintergrundes, des gewaltigen Anspielungsraumes und der Höhe der hier geschilderten Gefühle nie abrutscht im Kitsch-Klebrigen, sondern mit der Souveränität der literarisch Geschulten ihr stilles Debüt inszeniert, ist bemerkenswert und falsifiziert leichthändig alle Assoziationen, die der deutsche Titel und das viel zu weiche Hanser-Cover evozieren.
    "Lempi, das heißt Liebe" – es heißt aber auch: im Angesicht des Schmerzes überlebensfähig zu bleiben, komme was wolle, selbst wenn niemals das kommt, was man ersehnt und für sein Glück erwartet hat.
    Minna Rytisalo: "Lempi, das heißt Liebe"
    aus dem Finnischen von Elini Kritzokat
    Hanser Verlag, 221 Seiten, 21 Euro.