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Mutter Martha

Jedes Jahr im Frühsommer lädt Martha Argerich ihre große Musikerfamilie ins italienische Lugano: zum Proben, Konzertieren und Pizzaessen. Das Label EMI hat die farbigsten musikalischen Momente des Argerichschen Kammermusikfestivals auch in diesem Jahr auf CD festgehalten.

Von Maja Ellmenreich |
    Mutter Juanita soll bereits fürsorglich und durchsetzungsstark gewesen sein. Sie erwirkte Mitte der 50er bei Argentiniens Präsident Péron die Versetzung der Diplomatenfamilie Argerich ins ferne Wien: Vater, Mutter und die Kinder verließen daraufhin das heimatliche Buenos Aires Richtung Europa. Warum? Tochter Martha sollte die denkbar beste Klavierausbildung zuteilwerden, bei Friedrich Gulda in Wien.

    Längst ist Martha selbst Mutter: von drei Töchtern dreier Väter. Sie ist Großmutter. Sie ist Ziehmutter zahlreicher Pianistensprösslinge. Und sie ist das fürsorgliche und durchsetzungsstarke Familienoberhaupt einer großen Musikersippe, die sie Jahr für Jahr im Frühsommer ins schweizerische Lugano lädt: zum Proben und Konzertieren, zum familiären Beisammensein und nächt-lichen Pizzaessen.

    "Progetto Martha Argerich" – so technisch-bürokratisch der Name dieses Familienfestes, so emotional-musikalisch das künstlerische Ergebnis. Das Beste aus drei Festivalwochen erscheint stets im Folgejahr auf CD. Auch dieses Mal: "Martha Argerich and friends. Live from Lugano 2012". Unsere neue Platte - oder genauer gesagt: unsere drei neuen Platten im Deutschlandfunk an diesem Pfingstmontagmorgen.

    Mariano Mores: Taquito military
    Martha Argerich, Klavier; Ale Petrasso, Klavier


    Am Anfang war das Klavier: Es stand im Kindergarten ihrer Geburtsstadt Buenos Aires. Marthita, die kleine Martha, klimperte nicht darauf wie andere Vierjährige, sie spielte fehlerfrei eine Melodie nach, die sie oft gehört hatte. Umgehend löste die Erzieherin Pianistenalarm aus, informierte die Mutter der kleinen Hochbegabten; und die wiederum setzte alles in Bewegung, das Talent der Tochter zu fördern. Fürsorglich und durchsetzungsstark: Mutter Juanita eben.

    Am Anfang war also das Klavier. Und es steht bis heute im Mittelpunkt. In Martha Argerichs Leben sowieso, aber auch bei ihrem Festival in Lugano. Dort ist Klavierbeteiligung obligatorisch – wohlgemerkt: Beteiligung, nicht bloß Begleitung. Entsprechend viele Pianisten sind geladen: ganz Große, aber auch Geheimtipps, aufstrebende Nachwuchsstars und die, die es noch zu fördern gilt. Für alle ist Platz unter dem großen Dach des Progetto und auf den Best-of-CDs.

    Beim aktuellen Jahrgang sind mit von der Partie so erlauchte Namen wie Maria João Pires und Nicho-las Angelich, Argerichs Lieblingsklavierpartnerin Lilya Zilberstein oder ihre Elevin Polina Leschenko. Und natürlich immer wieder auch Argerich selbst – allerdings nie allein. Besonders gerne zum Beispiel mit den Streicherbrüdern Capuçon: wie hier mit dem Cello-spielenden Gautier in Schumanns Stücken im Volkston.

    Robert Schumann: Fünf Stücke im Volkston, op. 102, II. Langsam
    Gautier Capuçon, Violoncello; Martha Argerich, Klavier


    "La Martha" oder Marthita. Die Urheber ihrer Beinamen sind erfinderisch, und besonders gern bemühen sie für Neuschöpfungen das Tierreich. Nicht zuletzt wegen der mittlerweile ergrauten Lockenmähne von Martha Argerich, aber auch wegen ihrer geradezu animalischen und doch do-mestizierten Spielweise wird sie oft "Die Königin der Tastenlöwen" genannt.

    Bleibt man im Bilde, muss man sie wohl ein Herdentier nennen. Denn seit Anfang der 80er betritt Martha Argerich die Konzertmanege nur noch äußerst selten allein: am liebsten im Kammermusikrudel, weitaus seltener als Solistin mit einer Horde Orchestermusiker. Der Grund? Sie fühle sich allein auf der Bühne wie ein "Insekt unter der Lampe". Das sagte Martha Argerich einmal in einem ihrer seltenen Interviews, denn Journalisten meidet sie lieber. Wie gesagt: Sie sucht die Nähe zu anderen Musikern. Im Begleitheft zur neuen Lugano-CD-Box wird sie mit den Worten zitiert: "Ich spüre, wie die Musiker sich bewegen. Ich sehe sie und bewege mich auch. Ich fühle mich unbefangener."

    Man mag Argerichs Abkehr vom solistischen Auftritt zutiefst bedauern, aber kann sich ebenso freuen über die Fülle ihrer Kammermusikaktivitäten. Was sich Juni für Juni in Lugano ereignet, dokumentiert RSI, der Rundfunk der italienisch-sprachigen Schweiz. Nicht alles ist für die Ewigkeit bestimmt; das bringt die Spontaneität eines Festivals, wie es das Progetto ist, einfach mit. Die Sternstunden aber bannt das Label EMI Classics seit Jahren auf CD: Füllhörner voller Entdeckungen an neuen Interpreten, ungewöhnlichen Besetzungen und selten gehörtem Repertoire. Die Mitschnitte aus dem Jahr 2012 etwa bieten Vertrautes von Mozart, Schumann, Brahms und Prokofjew, aber auch weniger Bekanntes von Komponisten wie Nikolai Medtner, Mariano Mores, Giuseppe Martucci oder eine Bearbeitung für drei Klaviere von Claude Debussys Orchesterwerk "La Mer".

    Claude Debussy: La Mer, II.Jeux de vagues
    Giorgia Tomassi, Klavier; Carlo Maria Griguoli, Klavier; Alessandro Stella, Klavier


    Ohne grummelnde Paukenwirbel, ohne schmetternde Bläserklänge – drei Pianisten an drei Klavieren ersetzen den großen Orchesterapparat, für den Claude Debussy Anfang des 20. Jahrhunderts die sinfonischen Skizzen "La Mer" geschrieben hat. Viele Konzertbesucher mögen es im Ohr haben, wie sich für gewöhnlich Bläser, Schlagwerker, Harfenisten und Streicher auf hohe See begeben, es sprudeln, schimmern, spritzen und wogen lassen.

    Jetzt also lediglich drei Pianisten. Einer von ihnen ist Carlo Maria Griguoli, auch ein pianistischer Stammgast in Lugano, der sich außerdem mehrfach bereits als Arrangeur hervorgetan hat. Wem also die Orchesterfassung von "La Mer" vertraut ist, dem dürfte die Klavierfassung beim ersten Hören vielleicht etwas spröde oder einfarbig vorkommen – aus reiner Gewohnheit aber auch nur. Denn beim genauen Hinhören brandet, brodelt und schäumt es auch unter den Händen von Giorgia Tomassi, Alessandro Stella und eben Carlo Maria Griguoli. Ihm ist es gelungen, mit dem Tasteninstrumentarium eine beeindruckende Tiefenschärfe zu produzieren: Am Meeresgrund herrschen kraftvolle Strömungen, in der Mitte überschlagen sich die Wellen und obenauf tanzen schillernde Schaumkronen.

    Claude Debussy: La Mer, II.Jeux de vagues
    Giorgia Tomassi, Klavier; Carlo Maria Griguoli, Klavier; Alessandro Stella, Klavier


    Bei guter Qualität gehen Wahl und Qual bekanntlich Hand in Hand – schließlich ist an diesem Pfingstmorgen die Sendezeit begrenzt. Jede Interpretation auf der dreiteiligen Lugano-CD-Box ist es wert, vorgestellt oder zumindest angespielt zu werden: etwa das Doppel der beiden Grandes Dames Argerich und Pires mit Mozart oder – noch mal Mozart – Argerich als Solistin beim C-Dur-Konzert, KV 503. Oder selten gehörte Smetana-Kompositionen für zwei Klaviere zu acht Händen.

    Aber warum nicht Kammermusik im herkömmlichen Sinne? Denn auch wenn beim Progetto Martha Argerich dem Klavier eine ganz besondere Bedeutung zukommt, kommen die Streicher nicht zu kurz und die Hörer auf ihre Kosten. So auch am 13. Juni 2012, als in Lugano die Pianistin Polina Leschenko, der Geiger Ilya Gringolts, der Bratschist Nathan Braude und der Cellist Torleif Thedéen Antonín Dvořáks Kla-vierquartett Es-Dur, opus 87, spielten. Für die vier gilt auch, was Martha Argerich einmal über ihre Musizierhaltung gesagt hat: Sie wolle sich nicht wiederholen. Also: Immer wieder neu, immer wieder anders, bloß nicht nach Schema F.

    Antonín Dvořák: Klavierquartett Es-Dur, op. 87, III. Allegro moderato, grazioso
    Polina Leschenko, Klavier; Ilya Gringolts, Violine; Nathan Braude, Viola; Torleif Thedéen, Violoncello


    Gut dreieinhalb Stunden Live-Kammermusik vom Feinsten: Die Aufnahmen vom "Progetto Martha Argerich 2012" aus Lugano, jüngst erschienen bei EMI Classics auf drei CDs in einer Box.

    Musik:
    Martha Argerich and friends live from Lugano 2012
    Martha Argerich und Freunde
    Emi Classics
    LC: 06646
    EAN-Nr.: 5099972111925