Dienstag, 19. März 2024

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Nach Mays Rücktritt
"Ungeregelter Brexit ist die wahrscheinlichste Lösung"

Nach dem Rücktritt von Theresa May rechnet Gerhard Dannemann vom Großbritannien-Zentrum an der Berliner Humboldt-Universität nicht mit Neuwahlen. Für die Torys wäre das eine Sackgasse, weil sie wieder auf ein Parlament ohne Mehrheiten hinauslaufen würden, sagte er im Dlf.

Gerhard Dannemann im Gespräch mit Mario Dobovisek | 25.05.2019
Elisabeth Tower in London
Zurzeit könne niemand die Folgen eines ungeregelten Brexit für Großbritannien wirklich absehen, sagt Gerhard Dannemann (picture alliance / Daniel Kalker)
Mario Dobovisek: Am Telefon begrüße ich Gerhard Dannemann, an der Humboldt-Universität in Berlin leitet er das Center for British Studies. Guten Morgen, Herr Dannemann!
Gerhard Dannemann: Guten Morgen, Herr Dobovisek!
Dobovisek: Theresa May geht. Wird das Brexit-Chaos in Großbritannien sich damit jetzt etwas sortieren?
Dannemann: Nein, es wird sich personell noch mal einiges sortieren, aber die Fragen sind ja dieselben, die Mehrheiten im Parlament sind dieselben. Wer immer Theresa May beerben wird, wird ein neues Kabinett aufstellen und vielleicht innerhalb der Regierung etwas weniger Konflikte haben, aber was immer beschlossen als der neue Plan wird, der wahrscheinlich wieder einer der alten sein wird, muss wieder durch das Parlament durch, sollte es jedenfalls. Und da hat sich überhaupt nichts geändert. Die Haltung der EU hat sich ja auch nicht geändert.
Dobovisek: Großbritannien bleibt also in der, sagen wir, parlamentarischen Sackgasse?
Dannemann: Ja. Also es wird wieder einen Kampf geben um die Tagesordnung des Parlaments. Wer immer Theresa May beerbt, wird versuchen, möglicherweise da rumzukommen. Es wird noch mal einen Versuch geben. Ich würde mal denken, wer immer Theresa Mays Nachfolger wird, wird versuchen, noch mal das Abkommen minus den Backstop durch das Parlament durchzukriegen und anschließend bei der Europäischen Union damit auflaufen, und dann wäre die Gefahr natürlich sehr, sehr groß, dass es auf einen harten Brexit rausläuft.
"Ein Rennen zwischen zwei Brexitern"
Dobovisek: Wer könnte denn aus Ihrer Sicht, Herr Dannemann, Nachfolger von Theresa May werden?
Dannemann: Ja, es wurden schon in dem Bericht eine Reihe von Namen genannt, Boris Johnson gilt eben halt als der aussichtsreichste, aber da wurde auch ganz richtig zu gesagt, dass es die halt sehr oft nicht werden. Anders als Grant Shapps in ihrem Beitrag glaube ich eher, dass es auf ein Rennen zwischen zwei Brexitern rauslaufen wird, also nicht Leute, die früher für Remain gestimmt haben. Denn im Endeffekt entscheidet über, wer von den Zweien es wird, die Parteibasis der Torys, und die Parteibasis ist sehr euroskeptisch gewesen, und Konvertiten werden es da schwierig haben. Es ist auch bezeichnend, dass also die aussichtsreichste moderate Politikerin Amber Rudd schon gleich gesagt hat, dass sie nicht antreten wird.
"Der Bewegungsspielraum ist nicht größer geworden"
Dobovisek: Wir dürfen dabei auch nicht vergessen, dass May seit 2017 eine Minderheitsregierung führt, geduldet von der nordirischen DUP. Hätte ein Brexit-Hardliner wie Johnson überhaupt noch eine Mehrheit im Parlament, oder läuft dann ohnehin alles auf Neuwahlen hinaus?
Dannemann: Also die DUP hätte sicher nichts gegen Johnson, vor allem ist gerade der erste Finanzierungszyklus für diese Unterstützung ausgelaufen und die DUP hat ein sehr großes finanzielles Interesse daran, noch mal ein großes Stück von dem Kuchen abzukriegen. Ich glaube, an der Unterstützung der DUP für die Torys wird es nicht scheitern. Es könnte aber auch wieder daran scheitern, dass die DUP, was immer dabei raus kommt, inhaltlich nicht übernehmen will. Es ist also der Bewegungsspielraum einfach nicht größer geworden.
"Neuwahlen wären eine Sackgasse für die Torys"
Dobovisek: Wird der Bewegungsspielraum denn größer mit Neuwahlen?
Dannemann: Das würde er, aber das wird, wer immer Theresa May beerbt, vermeiden wie der Teufel das Weihwasser. Weil die Brexit-Partei so schnell hochgekommen ist und so stark geworden ist, wäre das mit großer Sicherheit eine Sackgasse für die Torys, die dann wahrscheinlich nicht mal mehr größte Partei wären. Das könnte dann Labour werden, aber es würde mit großer Wahrscheinlichkeit wieder auf ein Parlament ohne Mehrheiten rauslaufen.
Dobovisek: Also nach wie vor kein Parlament mit klaren Mehrheiten für den Deal oder gegen den Deal, auf der anderen Seiten die Europäische Union, die nicht mehr bereit ist, das große Paket aufzuschnüren, höchstens über Details zu sprechen.
Dannemann: Ja.
"Die Chance für einen ungeregelten Ausstieg ist gestiegen"
Dobovisek: Wird er denn dann am Ende tatsächlich kommen, der ungeregelte Brexit?
Dannemann: Die Chance ist wieder mal größer geworden, es ist jetzt die wahrscheinlichste Lösung. Das heißt nicht, dass genau das passieren wird, wie gesagt, es wird noch einen Machtkampf geben zwischen Regierung und Parlament für diesen Fall, mit unsicherem Ausgang. Aber die Chance für einen ungeregelten Ausstieg ist wieder gestiegen.
Dobovisek: Die Frage wurde ja schon oft gestellt in der Vergangenheit, aber sehr unterschiedlich beantwortet, deshalb frage ich auch Sie, Herr Dannemann: Wen würde der Brexit ohne Deal denn härter treffen, die EU oder Großbritannien?
Dannemann: Großbritannien, ohne jeden Zweifel.
Dobovisek: Das bedeutet?
Dannemann: Das bedeutet eine völlige Auseinander-Dividierung dieser Wertschöpfungsketten in der Autoindustrie, in der Flugzeugindustrie, beim Verkehr, Zoll, Versorgung des Landes mit Lebensmitteln, Arzneimitteln, europäischer Flugverkehr ist erst mal geregelt, aber nicht dauerhaft geregelt. Also wir könnten jetzt noch eine Viertelstunde hier zusammensitzen und einzeln durchgehen, was da alles beeinträchtigt wird, es ist eine riesige Liste. Es ist nicht mehr ganz so schlimm, wie es im April gewesen wäre, weil im Hintergrund weitere Vorbereitungen gemacht worden sind für den Fall, dass es zum harten Ausstieg kommt, aber das wäre erst mal eine sehr schwierige Phase für alle, aber am Schlimmsten für Großbritannien.
"Politikmüdigkeit in Sachen Brexit ist verständlich"
Dobovisek: Und trotz all dieser möglichen Folgen, ich habe in den letzten Wochen und Monaten immer wieder von Briten gehört, von Bekannten, Freunden, die eigentlich gegen den Brexit waren, für Remain gestimmt hatten, basta, jetzt reicht es, lass uns mit einem harten Brexit aussteigen, bevor wir weiter von der Regierung in London an der Nase herumgeführt werden. Das ist ein sehr subjektiver Sinneswandel, den ich dann wahrnehme, aber kann man den auch objektiv, wissenschaftlich nachvollziehen?
Dannemann: Es ist einfach so viel über Brexit geredet worden, es hat so sehr das Denken und die Medien und die Politik beherrscht, dass man inzwischen müde geworden ist. Das kann man durchaus nachvollziehen. Und viele wünschen sich lieber ein Ende mit Schrecken als Schrecken ohne Ende, wobei eben halt auch keinem wahrscheinlich ganz klar sein wird, was dieses Ende mit Schrecken bedeuten wird. Ich denke, diese Politikmüdigkeit in Sachen Brexit ist sehr gut verständlich. Sie ist natürlich in der Sache nicht hilfreich.
Dobovisek: Wer trägt aus Ihrer Sicht, aus Ihrer Beobachtung heraus daran die Hauptschuld?
Dannemann: Die britische Regierung, auch unter Theresa May, hat eine lange Phase ungenutzt gelassen und hat es zugelassen eben halt, dass diese roten Linien sich so verhärtet haben und die Erwartungen gleichzeitig so hochgeschaukelt worden sind, dass da nachher nichts mehr Vernünftiges bei rauskommen konnte. Das war, glaube ich, die kritische Phase zwischen dem Referendum und der Austrittserklärung nach Artikel 50, wo man keinen Plan hatte und einfach nur alle Wahlversprechen noch mal hochgekocht hat, die miteinander unvereinbar waren. Also wenn man die Brexiter vor dem Referendum gefragt hätte beispielsweise, ob sie mit einer Zollunion gut leben können, hätten wahrscheinlich 95 von 100 gesagt, prima, und heute gilt es manchen schon als Landesverrat, darüber nachzudenken.
"Labour hat keine rühmliche Rolle gespielt"
Dobovisek: Zuletzt war es Labour, zuletzt waren es die Sozialdemokraten, die die Gespräche mit May und ihrer Regierung abgebrochen hatten. Welche Rolle spielen die im Brexit-Chaos?
Dannemann: Ja, hat auch keine rühmliche Rolle gespielt, Labour. Labour war natürlich genauso zerrissen, tendenziell eine europafreundlichere Partei, aber die Mehrzahl der Wahlkreise, die Labour vertritt und zu verteidigen hat, liegen in Gebieten, in der die Mehrheit für den Brexit gestimmt. Und deswegen konnte auch Labour zu keiner eindeutigen Position finden. In der letzten Unterhauswahl 2017 konnten sie das noch richtig gut machen, da haben sie zwar Brexit versprochen, aber den weichsten, und deswegen sind sie auch von vielen Remainern noch gewählt worden. Aber das geht nicht noch mal gut. Also die Rolle von Labour war auch nicht erfreulich. Sie tragen natürlich damit an zweiter Stelle auch Verantwortung dafür, für das, was schiefgelaufen ist.
Dobovisek: Zum Schluss dann vielleicht die größte der Glaskugeln an diesem Morgen: Werden wir am 31. Oktober einen Brexit erleben und wenn ja, welchen?
Dannemann: Genau. Also ich kann wahrscheinlich keinen versuchen, abzustecken. Ich würde mal denken, dass sowohl die Europäische Union als auch die britische Bevölkerung die Geduld tatsächlich verloren hat und dass die Wahrscheinlichkeit eines Ausscheidens Großbritanniens zum 31. Oktober damit relativ hoch ist und dass unter den Lösungen, die sich jetzt im Moment noch anbieten, ein harter Brexit das Wahrscheinlichste ist, was aber noch nicht heißt, dass es kommen wird.
"Keiner kann alle Folgen absehen"
Dobovisek: Glauben Sie, dass Großbritannien aber auch die Europäische Union genug auf einen harten Brexit vorbereitet sind?
Dannemann: Soweit man das tun kann. Also ich denke, dass keiner alle Folgen bis ins letzte Detail absehen kann. Ich denke, dass diese Verlängerungszeit insofern sehr, sehr nützlich war, dass man schon mal einen Probelauf hatte und verschiedene Sachen ausprobieren konnte, und dass damit also ein harter Brexit deutlich erträglicher wäre, als er es noch Anfang April gewesen wäre.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.