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Nach Todesfällen in Behinderteneinrichtung
Debatte über Gewalt und Abhängigkeit

Im Potsdamer Oberlinhaus, einer christlichen Betreuungseinrichtung, kamen Ende April vier hilfsbedürftige Menschen ums Leben, eine weitere Person wurde schwer verletzt. Tatverdächtig ist eine Mitarbeiterin. Inklusionsaktivisten kritisieren Machtmissbrauch in Heimen unter dem Deckmantel der Fürsorge.

Von Christoph Richter | 06.05.2021
Eine Frau betrachtet vor dem Thusnelda von Saldern Haus der Einrichtung Oberlinhaus die Blumen und Beileidsbekundungen. In der diakonischen Einrichtung waren am 28.04.2021 vier Leichen und eine schwer verletzte Person gefunden worden.
Nach Potsdamer Gewalttat (Picture Alliance / dpa-Zentralbild / Soeren Stache)
Vor dem Thusnelda-von-Saldern-Haus der Oberlin-Lebenswelten in Potsdam-Babelsberg – ein "vollstationäres Wohnangebot für Menschen mit körperlicher und/oder geistiger Beeinträchtigung", wie es offiziell heißt – ist ein Blütenmeer zu sehen. Menschen stehen in Gedanken, sind versunken, legen Blumen ab.
"Als Zeichen des Daran-Denkens was hier passiert ist und als Zeichen, dass man in Gedanken bei allen ist, die hier arbeiten, die hier Angehörige verloren haben."
Der Vorfall habe sie erschüttert, sagt eine 30-jährige Potsdamerin. Jemand hat ein Pappschild aufgestellt: Stille Trauer.

"Zu uns kam niemand von außen rein"

Er könne die Anteilnahme verstehen, sagt Alexander Ahrens. Doch das reiche nicht aus, ergänzt der 40-jährige Mann. Er sitzt im Rollstuhl, kennt die Pflegeeinrichtung, die Stiftung Oberlinhaus. Er wünscht sich eine ganz grundsätzliche Diskussion über Machtverhältnisse in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Er erinnert sich:
"Wir können offen darüber sprechen. Ich war damals auch Schüler im Oberlinhaus, bis 1994. Dort 50 Meter hinter dem Gebäude, wo sozusagen die Gewalttaten passiert sind. Zu uns kam niemand von außen rein. Und wenn wir mal draußen waren, dann immer nur in der Gruppe."
Soweit seine persönlichen Erfahrungen. Im Thusnelda-von-Saldern-Haus, wo sich die Gewalttat ereignet hat, sind nach Angaben des Oberlinhauses 74 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für 65 Pflege-Bewohner zuständig. Über die Fluktuation des Pflegepersonals könne man keine konkreten Aussagen machen, der Personalschlüssel ist stabil, sagt eine Sprecherin des Hauses.

Die Debatte stößt auf Unverständnis

Matthias Fichtmüller, der theologische Vorstand des Potsdamer Oberlinhauses, wirkt sichtlich bedrückt, kann es immer noch nicht verstehen, was letzte Woche am Oberlinhaus passiert ist.
"Nach so einer Tat muss man weitermachen, nicht wie bisher. Jeder Mensch geht mit so einer Gewalttat, mit dem Erlebten anders um. Aber wir haben immer noch 61 Bewohnerinnen und Bewohnerin, die Assistenz brauchen, die Betreuung brauchen. Die Kolleginnen und Kollegen können sich aus dem Tagesgeschäft überhaupt nicht herausziehen. Und sie können nicht mal der Trauer nachgehen, wie es angemessen wäre. Wir leben in einer Zeit, in der wir durch eine Erschütterung aus unserer Umlaufbahn geworfen sind."
Denkschrift gegen die NS-Euthanasie - Der mutige Protest des Paul Gerhard Braune
Im Herbst 1939 starteten die Nationalsozialisten ihre grausame "T4"-Aktion: Menschen mit Behinderung wurden als "unwertes Leben" zu Tausenden in Euthanasieanstalten vergast. Ein Pastor protestierte.
Fichtmüller ist aber auch irritiert, dass die Geschehnisse in seiner Einrichtung nun den Anlass für eine allgemeine Debatte über den Umgang mit Menschen mit Behinderung bieten sollen. Das könne man nicht alles miteinander vermischen, sagt er. Generell sei das Thema Gewalt in Heimen wichtig, darüber könne man vielleicht in einem Jahr mal sprechen. Jetzt sei man im Oberlinhaus bei der Trauerbewältigung und Aufklärung. Zudem wehre er sich gegen Einmischungen von außen.
"Was ich nicht verstehen kann, dass eine Diskussion passiert, ohne auch nur ansatzweise zu wissen, was in diesem Haus abläuft. Ich warne vor schnellen Antworten."

"Das kann auch Gewalt sein, auch wenn es nicht böse gemeint ist"

Alexander Ahrens dagegen ist der Ansicht, gerade jetzt sei der richtige Moment, um über den Potsdamer Fall hinaus über Gewalt in Heimen zu sprechen. Ahrens kommt aus dem brandenburgischen Falkensee, hat an der FU Berlin Publizistik, Film- und Kommunikationswissenschaften studiert. Jetzt ist er der Geschäftsführer der "Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben". Ein etwa 4.000 Mitglieder großer Verband, der sich um die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung kümmert. Ahrens sagt, ganz allgemein würden Bewohnerinnen und Bewohner durch institutionalisierte Abhängigkeitsverhältnisse in unterschiedlichster Form Gewalt erleben.
"Es gibt eine Heimleitung, es gibt eine Pflegeleitung. Und dann geht es ganz hierarchisch von oben nach unten durch. Am Ende steht der Bewohner, die Bewohnerin im Heim. Wo die Reinigungskraft mehr zu sagen hat, als der Bewohnende."
Die Gewalterfahrungen fingen im niedrigschwelligen Bereich an, ergänzt Raul Krauthausen, Inklusionsaktivist, Blogger, Podcaster, demnächst Moderator im mdr. Er sitzt im Rollstuhl, hat die Glasknochenkrankheit, ist kleinwüchsig. Menschen mit Behinderungen würden systematisch diskriminiert, seien Erfahrungen ausgesetzt, die sich kein Mensch ohne Behinderung gefallen lassen würde.
Raul Krauthausen sagt: "Es kann als gewaltvoll empfunden werden, wenn, so wie ich es erlebt habe, der Kühlschrank abgeschlossen ist, man das Pflegepersonal darum bitten muss, den Kühlschrank zu öffnen, damit ich einen Joghurt bekomme. Es kann als Gewalt empfunden werden, wenn – obwohl die Tür zu ist – plötzlich jemand reinkommt, ohne anzuklopfen. Es kann als Gewalt empfunden werden, das kenne ich aus Gesprächen mit anderen Menschen, dass beim Toilettengang oder so das Pflegepersonal sagt, ja, ich rauche noch kurz zu Ende. Das kann auch Gewalt sein, auch wenn es nicht böse gemeint ist."

Menschen mit Behinderung werden häufiger Opfer von Gewalt

All das passiere unter dem Deckmantel der Fürsorge, der Nächstenliebe. Schnell werde vom "aufopferungsvollen Dienst" an der Gesellschaft gesprochen. Krauthausen rollt mit den Augen.
"Ist es ein Dienst an den Menschen mit Behinderung, dass sie ein selbstbestimmtes, erfülltes Leben haben oder ist es ein Dienst an der Mehrheitsgesellschaft, die Behinderten aus unser aller Augen zu halten? Diese Frage müssen wir stellen. Menschen mit Behinderung gehören in die Mitte der Gesellschaft und nicht in solche Einrichtungen."
Raul Krauthausen
Raul Krauthausen ist mit dem Pflegesystem unzufrieden (picture alliance / Soeren Stache / dpa)
In einer Bachelorarbeit der Hochschule Merseburg ist vom "Hochrisikobereich Wohn-und Förderstätten" die Rede. Eine 2013 veröffentlichte Studie des "Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend" belegt, dass Frauen mit geistiger Behinderung deutlich häufiger Opfer von sexualisierten Gewalttaten werden. Die Rate ist in etwa zwei- bis dreimal höher, es wird eine deutlich höhere Dunkelziffer vermutet. In einer Untersuchung der Uni Bielefeld aus dem Jahr 2013 ist zu lesen, dass Männer mit Behinderungen und Beeinträchtigungen körperlicher und psychischer Gewalt deutlich häufiger ausgesetzt sind, als Männer im Bevölkerungsdurchschnitt.

Ist die Prävention ausreichend?

Die Gewalttat am Potsdamer Oberlinhaus habe ihn nicht erstaunt, sagt Raul Krauthausen, sie sei mutmaßlich kein Einzelfall, das habe offenbar Struktur. Und er erinnert an einen aktuellen Fall in Nordrhein-Westfalen, dort ermittelt die Staatsanwaltschaft Bielefeld.
Matthias Fichtmüller, der theologische Vorstand des Potsdamer Oberlinhauses warnt davor, die Geschehnisse in Potsdam mit denen in Nordrhein-Westfalen zu vermischen. Man unternehme alles, damit es am Oberlinhaus nicht zur Gewalt komme, beteuert er. Es gebe Fallberatungen, Coachings, Supervisionen würden regelmäßig durchgeführt.
Fichtmüller: "Wir haben regelmäßige Mechanismen der Qualitätskontrolle. Übrigens nicht nur in dem Haus…"
Reporter: "Was heißt regelmäßig?"
Fichtmüller: "Das heißt, dass Supervisionen regelmäßig, dass Fallbesprechungen, dass Auswertungen, dass Überprüfungen von Kolleginnen und Kollegen, stattfinden. Um zu überprüfen, ob die Qualitätsstandards eingehalten werden."
Doch wie regelmäßig? In welchen Abständen? Wann fand die letzte Supervision statt? Darauf gibt es derzeit keine Antworten. Auch nicht vom Träger, dem Diakonischen Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, das sich auf Anfrage des Deutschlandfunks nicht äußern will.

"Es muss der Grundsatz lauten: Ambulant vor stationär"

Theologe Matthias Fichtmüller vom Oberlinhaus Potsdam verweist auf eine Untersuchung der "Aufsicht für unterstützende Wohnformen" vom Brandenburger Landesamt für Soziales und Versorgung, früher "Heimaufsicht" genannt. Nur einen Tag vor der Gewalttat wurde das Haus untersucht, Mängel seien keine festgestellt worden. Fichtmüller liest aus dem Bericht vor:
"Mit Datum vom 28. April, also ein Tag nach der Begehung des Hauses, schreibt das Landesamt für Soziales und Versorgung, was alles gemacht worden ist in diesem wirklich gut protokollierten und dokumentierten Prozess der Qualitätsüberprüfung. Am Ende heißt es: 'Bitte haben Sie Verständnis, dass im Rahmen des schriftlichen Prüfberichtes nicht auf die vielfältigen Erfolge in der von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Ihres Hauses geleisteten Arbeit eingegangen werden kann.' Das ist ein formaler Bericht, und die Würdigung dessen, was da an schwerstbehinderten Menschen passiert in der Begleitung, kann in so einem funktionalen Bericht nicht gewürdigt werden. Das ist ein Satz, der in einem Dokument des Landes Brandenburg an uns geschickt worden ist."
Kritik am Teilhabestärkungsgesetz - Zu wenig drin für Menschen mit Behinderung
Von Chancengleichheit im Arbeitsleben sind Menschen mit Behinderung weit entfernt. Nur jeder Dritte findet überhaupt einen Job.
Das reicht Inklusionsexperte Alexander Ahrens nicht aus. Er fordert eine gesetzliche Pflicht zur Veröffentlichung von Zwangsmaßnahmen in Einrichtungen der Behindertenhilfe, also auch im Oberlinhaus.
Was man jetzt brauche, sei neben der Debatte über Gewalt in Behinderteneinrichtungen aber auch ein Diskurs über die Teilhabe der Menschen mit Behinderung in Pflegeeinrichtungen. Ahrens kritisiert, dass im Aufsichtsrat des Oberlinhauses kein Bewohner des Hauses, kein Mensch mit Behinderung sitze.
Letztlich müssten die Heime abgeschafft werden. Dass Menschen ihr ganzes Leben – vom Internat bis zum Altenheim – an einer Adresse verbringen, damit müsse Schluss sein, ergänzt Alexander Ahrens.
"Solche Einrichtungen sind nicht mehr zeitgemäß. Wir müssen davon wegkommen. Es muss immer der Grundsatz lauten: Ambulant vor stationär.