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Naher Osten
"Funktionierende Staaten stärken"

Funktionierende Staaten wie Saudi-Arabien und der Iran müssten zusammenarbeiten, damit nicht die komplette Region im Chaos versinke, forderte Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, im Deutschlandfunk. Deutschland könne sie dabei unterstützen - aber man müsse sich auch der Grenzen dieses Einflusses bewusst sein.

Volker Perthes im Gespräch mit Doris Simon | 10.08.2015
    Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
    Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. (Imago / Stefan Zeitz)
    Ohne Saudi-Arabien und ohne den Iran und deren Kooperation ließen sich die Spannungen nicht beilegen. Es sei einfacher, mit funktionierenden Staaten zu kooperieren als einen Failed State (gescheiterter Staat) wieder aufzubauen, sagte Perthes. Saudi-Arabien sei zwar in vielerlei Hinsicht Teil des Problems für den Nahen Osten, das gelte gerade auch für die ideologische Komponente, für die Verbreitung des radikalen Islams. Aber gleichzeitig müsse es auch Teil der Lösung werden, sagte Perthes im Deutschlandfunk.
    Deutschland könne in den Gesprächen mit Saudi-Arabien betonen, dass eine echte Zusammenarbeit nicht möglich sei, solange Menschen, die keinerlei Gewalt ausübten, ausgepeitscht würden. Man könne noch ein wenig bewegen in der Region, man solle das aber nicht überschätzen. Die Rolle lokaler Staaten sei deshalb so wichtig, man könne diese unterstützen. Aber man müsse sich der Grenzen des Einflusses bewusst sein.
    Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier wird heute seinen saudischen Amtskollegen Adel Jubair in Berlin treffen.

    Das Interview in voller Länge:
    Doris Simon: Es ist ein Arbeitsbesuch. Der saudische Außenminister Adel Jubair trifft sich heute in Berlin mit Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier. Routine einerseits; andererseits hat sich Saudi-Arabien mithilfe der Öl-Milliarden zu einem der einflussreichsten Länder der Region entwickelt und man versteht sich dort als Hauptgegenspieler des Iran - in religiöser Hinsicht, aber auch politisch und zunehmend militärisch, wie zuletzt im Jemen und in Syrien. Das in zwölf mühsamen Verhandlungsjahren ausgehandelte Atomabkommen des Westens mit dem Iran kam daher für die Saudis als eine Art angekündigter Schock.
    Volker Perthes, der Leiter der Stiftung Wissenschaft und Politik, fordert in seinem neuen Buch, gerade erschienen, "Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen", die Europäer dazu auf, Saudi-Arabien auf der einen und den Iran auf der anderen Seite dabei zu unterstützen, Misstrauen gegeneinander abzubauen, damit am Persischen Golf ein rudimentäres Sicherheitssystem entstehen kann. Volker Perthes ist jetzt am Telefon. Guten Morgen.
    Volker Perthes: Schönen guten Morgen, Frau Simon.
    Simon: Die Saudis, Herr Perthes, die haben jetzt, wenn der Iran wieder salonfähig wird und an sein Geld herankommt, Angst vor einem Machtverlust in vielen Ländern und Konflikten der Region. Was sollte Frank-Walter Steinmeier da seinem saudischen Kollegen sagen oder anbieten?
    Perthes: Ich werde Frank-Walter Steinmeier nicht übers Radio beraten. Aber ich denke mal, dass er von sich aus ansprechen wird, dass ein funktionierender Staat wie Saudi-Arabien und ein funktionierender Staat wie Iran in dieser Situation im Nahen und Mittleren Osten einfach zusammenarbeiten müssen, wenn sie nicht riskieren wollen, dass tatsächlich die gesamte Region im Chaos versinkt. Bisher tun das einige Länder, aber wir haben gerade im Jemen gesehen, dass so eine Situation, wie wir sie in Syrien haben, auch in anderen Staaten der Region möglich ist, und ohne Saudi-Arabien und ohne Iran beziehungsweise deren Kooperation, was immer wir für Probleme mit diesen Staaten haben, ohne deren Kooperation wird sich der Bürgerkrieg in Syrien nicht beilegen lassen, werden sich die Spannungen in der Region nicht beilegen lassen.
    Simon: Herr Perthes, das ist ja eine der Thesen in Ihrem neuen Buch, europäische Politik soll mit den funktionierenden Staaten in der Region kooperieren, "auch mit solchen, die unseren politischen Vorstellungen nicht entsprechen". Das wäre ja bis vor ein paar Jahren auch Syrien gewesen. Jetzt also Saudi-Arabien und der Iran?
    Perthes: Ich bin auch vor ein paar Jahren der Ansicht gewesen, dass wir mit Syrien kooperieren sollen. Da gibt es Grenzen, da hat es immer Grenzen gegeben, aber es ist im Zweifelsfall immer leichter, mit einem funktionierenden Staat zu kooperieren, als einen failed state, wie es heute heißt, einen gescheiterten Staat wieder aufzubauen. Da sind wir ja auch nicht besonders gut drin, siehe Afghanistan, siehe die Amerikaner im Irak. Ja, Saudi-Arabien ist in vieler Hinsicht Teil der Probleme im Nahen Osten. Das gilt gerade für die ideologische Komponente, die Verbreitung dieses besonders radikalen konservativen Islam. Aber gleichzeitig - und das ist kein Widerspruch, sondern das ist politische Realität - muss es Teil der Lösungen im Nahen und Mittleren Osten werden.
    Perthes: Deutsche Politiker sprechen über Menschenrechtsverletzungen
    Simon: In Ihrem Buch, Herr Perthes, gehen Sie auch darauf ein, wie wenig sich der gelebte Wahhabismus in Saudi-Arabien ideologisch und auch im Ton unterscheidet von dem, was zum Beispiel der selbst ernannte IS-Kalif al-Baghdadi verbreitet. Das geistige Fundament ist sehr ähnlich bis gleich. Wir hier im Westen unterstützen den Kampf gegen den IS. Warum glauben Sie, dass wir uns trotzdem an Saudi-Arabien halten sollten?
    Perthes: Nun, erstens - ich sagte das -, weil Saudi-Arabien funktioniert. Saudi-Arabien ist ein Staat, der seine eigenen innenpolitischen Probleme hat, die wir vor allem wahrnehmen als Verletzung von Menschenrechten, und die gibt es ganz sicher. Auch in Saudi-Arabien gibt es aber Teile der politischen Elite, die wissen, dass sie das Land verändern müssen, dass sie ihren Bürgern Inklusion, Teilhabe anbieten müssen, auch den zehn Prozent Saudis, die schiitischer Konfession und nicht sunnitischer Konfession sind. Und es braucht in dieser, ich will mal sagen, ideologischen Leere im Nahen und Mittleren Osten, wo die Staaten keine echte Identität anbieten, wo, was es früher gab, der arabische Nationalismus keine Identität anbietet. Wenn man nicht will, dass dieser Islamische Staat diese ideologische Leere füllt, dann müssen vermutlich die konservativen sunnitischen Staaten die Führung übernehmen. Von einer Grundlage heraus, der ideologischen Grundlage des Wahhabismus, die uns nicht gefällt, können auch Reformen ausgehen und müssen auch Reformen ausgehen. Und ein funktionierender Staat, der seine Bürger mitnimmt, ist im Zweifelsfall dann wichtiger als die Frage, ob wir hier auch aus Saudi-Arabien noch eine Reihe von Klerikern haben, deren Rhetorik sich tatsächlich in keiner Weise unterscheidet von dem, was der sogenannte selbst ernannte Kalif in Mossul predigt.
    Simon: Sie haben eben ganz vornehm von innenpolitischen Problemen in Saudi-Arabien gesprochen. Das Land verfolgt wie auch der Iran seine Kritiker, peitscht sie aus, foltert sie, bringt sie um. Wie sollte die deutsche Politik denn damit umgehen?
    Perthes: Deutsche Politiker sprechen das regelmäßig an, manchmal öffentlich, manchmal, was häufig mehr wirksam ist, nicht öffentlich, indem sie direkt mit den saudischen Verantwortlichen reden und sagen - und das ist wahrscheinlich das Argument, was die Saudis heute am meisten überzeugt -, wir können in Deutschland keine echte Unterstützung für eine Zusammenarbeit mit Saudi-Arabien aufbauen, wenn bei euch Menschen, die keinerlei Gewalt anwenden, die nicht einmal das Regime stürzen, verändern wollen, wenn die, wie Sie das geschildert haben, im Fall des Bloggers Raif Badawi ausgepeitscht werden.
    Simon: Sie beschreiben ja in Ihrem Buch ausführlich, wie wenig der Nahe Osten noch dem entspricht, was wir uns darunter vorstellen, dass auch viele der Länder in der Region nicht wirklich begreifen, was sich da gerade verändert. Europa - das sagten Sie ja eben - hat Ihrer Meinung nach einen Fehler begangen, als es sich in manchen Ländern im Nahen Osten für den Regimewechsel eingesetzt hat. Der Vertrauensverlust ist da. Können Deutschland und die EU da überhaupt noch was bewegen im Nahen Osten?
    Perthes: Ja, wir können ein wenig bewegen. Aber wir sollten nicht überschätzen, was wir bewegen können, und deshalb - darüber haben wir ja ganz am Anfang unseres Gesprächs gesprochen - ist die Rolle von lokalen Staaten, von Staaten in der Region, die noch funktionieren, so wichtig. Die können wir ermutigen, die können wir unterstützen. Wir können auch nicht staatliche Akteure wie die Kurden im Irak unterstützen, wenn sie ein funktionierendes Gemeinwesen aufbauen. Wir können Staaten wie Jordanien, wie Tunesien unterstützen, die ein bisschen einen anderen Weg versuchen darzustellen als das, was auf der einen Seite Saudi-Arabien tut, oder was auf der anderen Seite in zerfallenden Staaten wie Syrien geschieht. Aber wir müssen uns der Grenzen unserer Einflussmöglichkeiten bewusst sein. Das ist sicher der große Fehler vor allem der Amerikaner, aber ein Stück weit auch der Europäer gewesen, 10, 15 Jahre rückwärts gesehen, als man gedacht hat, man könnte von außen neue Regime, bessere Regime installieren in der Region.
    Perthes: Können uns nicht von den Probleme des Nahen Ostens abschotten
    Simon: Sie schildern ja den Zerfall jeglicher regionalen Ordnung im Nahen Osten in Ihrem Buch so anschaulich, dass man ziemlich ratlos zurückbleibt. Wie groß schätzen Sie die Gefahr ein, dass diese völlige Unübersichtlichkeit im Nahen Osten mit allen dazugehörigen Fallen dazu führt, dass sich der Westen komplett abwendet von der Region, weil es einfach zu komplex ist?
    Perthes: Die Gefahr ist da, weil das die Tendenz ist, die viele Politiker und Akteure haben, zu sagen, wenn die Probleme groß genug sind, dann möchten wir am liebsten nichts damit zu tun haben, und wir bauen, wenn eben möglich, Mauern. Die Türkei fängt an, ganz physisch Mauern zu bauen an der Grenze zu Syrien. Viele haben die Flüchtlingspolitik der Europäer im Mittelmeer als den Versuch angesehen, dort eine Art Mauer zu bauen. Man möchte sich ganz gerne abschotten und das ist ein Stück weit eine Lehre aus zu starkem Engagement, vor allem der Amerikaner im Irak, die das Land immerhin besetzt und dabei weitgehend die Strukturen dieses Landes zerstört haben, wo man sagt, das wollen wir jetzt nicht mehr tun. Aber die Lehre, die man ziehen wird, spätestens in einigen Jahren, ist: Abschotten geht nicht, denn wenn man versucht, den Blick ganz abzuwenden von dieser Region, sich nicht zu engagieren, dann werden die Probleme der Region auf andere Weise zu uns kommen.
    Simon: Volker Perthes war das, der Leiter der Stiftung Wissenschaft und Politik, über den heutigen Arbeitsbesuch des saudischen Außenministers in Berlin und sein eigenes neues Buch "Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen". Vielen Dank, Herr Perthes.
    Perthes: Vielen Dank, Frau Simon.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.