Dienstag, 19. März 2024

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Nahost-Experte Lüders zum Libanon
"Mischung aus Feudalstaatlichkeit und mafiösen Strukturen"

Durch das betrügerische Bankensystem habe die politische Elite die Menschen im Libanon in die Armut getrieben, sagte Nahost-Experte Michael Lüders im Dlf. Jahrelang habe die Jugend versucht, das politische System zu verändern. Die Explosion in Beirut könnte den Machthabern jetzt aber das Genick gebrochen haben.

Michael Lüders im Gespräch mit Dirk Müller | 05.08.2020
Der Publizist und Nahost-Experte Michael Lüders
Der Libanon befinde sich aufgrund einer Verquickung aus Politik, Wirtschaft und mafiösen Strukturen in einer dramatischen Lage, so der Publizist Michael Lüders (imago / allefarben-foto)
Die Explosionen im Hafen Beiruts am 04.08.2020 mit mindestens 100 Toten und mehr als 4.000 Verletzten haben international für Bestürzung gesorgt. Die genaue Ursache ist noch unklar. Rund 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat sollen in einer ungesicherten Lagerhalle Feuer gefangen haben und explodiert sein. Regierungschef Hassan Diab kündigte an, die Verantwortlichen würden "zur Rechenschaft" gezogen. Einen Anschlag schlossen die libanesischen Behörden aus.
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"Nach allem was wir bislang wissen, ist es in der Tat so gewesen, dass es sich hier nicht um einen Anschlag handelt, sondern um die Entzündung einer gewaltigen Menge von Ammoniumnitrat", sagte der Nahost-Experte Michael Lüders im Dlf.
Der Skandal bestehe darin, dass diese gewaltige Menge nicht sachgemäß gelagert wurde - und das schon seit 2013. "Das war den Behörden auch bekannt", so Lüders, aber sie hätten nicht reagiert. Man habe offenbar die Kosten für die Entsorgung nicht tragen wollen.
Unzufriedenheit und Proteste im Libanon
"Viele Libanesen werfen der Regierung vor, dass diese Gleichgültigkeit gegenüber einem gegebenen Problem, charakteristisch sei für ihre gesamte Regierungsführung, die vor allem darauf konzentriert war, das eigene Vermögen zu mehren und sich nicht um die Interessen der Libanesen zu kümmern", so Lüders weiter.
Nicht ohne Grund sei die Wirtschaft des Libanon in einer dramatischen Lage. "Das ist das Ergebnis einer unglücklichen Verquickung aus Politik, Wirtschaft und mafiösen Strukturen, die hier zusammenwirken."
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Der Libanon steckt in der größten Wirtschafts- und Schuldenkrise seiner Geschichte. Politische Machtkämpfe erschweren die Suche nach Lösungen. Für die Bevölkerung wird es immer schwieriger, sich zu versorgen.
Seit Monaten herrscht im Libanon Unzufriedenheit. Viele Menschen gingen auf die Straße und forderten politische und wirtschaftliche Veränderungen.
Die Regierung könne im Grunde nicht reagieren, denn sonst müsse sie kollektiv zurücktreten und sich selber ins Exil begeben, so Lüders: "Die politische Führung im Libanon ist eine, die eine merkwürdige Mischung darstellt aus Feudalstaatlichkeit und mafiösen Strukturen. Dieselben Politiker, die das Land wirtschaftlich in den Abgrund geführt haben, haben zuvor Krieg gegeneinander geführt von 1975-1990. Keiner ist jemals dafür zur Rechenschaft gezogen worden."
Es habe nie eine Aufarbeitung der Vergangenheit gegeben, "denn dann würden die Politiker, die wir heute kennen im Libanon nicht mehr an der Spitze des Staates stehen, weil sie alle in den Krieg involviert waren."
Missbräuchliche Nutzung des Bankensystems
Der Libanon habe keine eigene Volkswirtschaft, sondern sei eher ein Finanzplatz im Nahen Osten. "Die Banken sind im Besitz von mächtigen Clan-Familien, die gleichzeitig auch die Vorsteher religiöser Gemeinschaften sind", sagte Lüders.
Der entscheidende Punkt, der den Libanon jetzt in den Abgrund gebracht habe, sei die missbräuchliche Nutzung dieses Bankensystems, das keinerlei Kontrolle unterliege. Im Herbst 2019 sei dieses betrügerische System kollabiert, die Wirtschaft sei in kürzester Zeit zusammengebrochen - die Geldentwertung liege derzeit bei 80 Prozent.

Das Interview in voller Länge:
Dirk Müller: Die Regierung betont, die Detonation hat keinen politischen Hintergrund, die Detonation ist kein Anschlag, sondern die Explosion großer Mengen von Ammoniumnitrat Ist das glaubwürdig?
Michael Lüders: Nach allem, was wir bislang wissen, ist es in der Tat wohl so gewesen, dass es sich hier nicht um einen Anschlag handelt, sondern um die Entzündung einer gewaltigen Menge von Ammoniumnitrat. Der Skandal besteht darin, dass diese gewaltige Menge nicht sachgemäß gelagert wurde, und das schon seit September 2013 [*]. Das war den Behörden auch bekannt.
Libanesische Zeitungen haben heute berichtet, dass es wiederholt seitens der Hafenbehörde Schreiben gab an das zuständige Ministerium wie auch am Ende an das höchste Gericht im Libanon, endlich etwas zu unternehmen, um diese gewaltige Menge an hochexplosivem Material aus dem Hafen herauszubekommen. Aber die Behörden haben nicht reagiert, man hat das alles sich selber überlassen – ein Laissez-faire, wie es charakteristisch ist in vielen Bereichen der libanesischen Politik. Das Ganze hätte Geld gekostet, um diese Menge zu entsorgen, das wollte man offenbar nicht ausgeben. Ja, und die Quittung kam dann gestern in Form dieser gewaltigen, verheerenden Explosion.
Der verwüstete Hafen von Beirut.
Einen Tag nach den Explosionen zeigt sich das Ausmaß der Schäden in Beirut (AFP / ANWAR AMRO)
Gleichgültigkeit ist charakteristisch für Regierungsführung
Müller: Das ist jetzt auch teilweise im Internet nachzulesen, also die Behörden, die da informiert waren, das heißt also die Behörden, wenn wir das jetzt übersetzen, dass auch "selbstverständlich", in Anführung, die Regierung darüber Bescheid wusste.
Lüders: Nach allem, was wir wissen, haben zumindest die mit dem Hafen in Beirut befassten Behörden Bescheid gewusst, aber nichts unternommen, weil man eben offenbar darauf spekuliert hat, dass sich das Problem selber löst. Auf jeden Fall wollte man kein Geld in die Hand nehmen, um diese Menge an hochexplosivem Material zu entsorgen oder sachgemäß so zu lagern, dass es nicht zu einer verheerenden Explosion dieser Sorte kommen kann.
Viele Libanesen werfen der Regierung vor, dass dieses Verhalten, diese Gleichgültigkeit gegenüber einem gegebenen Problem charakteristisch sei für ihre gesamte Regierungsführung, die vor allem darauf konzentriert war in den letzten Jahren, das eigene Vermögen, das eigene Wohlergehen zu mehren, aber sich nicht um die Interessen der Libanesen zu kümmern. Nicht ohne Grund ist ja die libanesische Wirtschaft in einer dramatischen Lage, und das ist eben das Ergebnis einer unglückseligen Verquickung aus Politik und Wirtschaft, mafiöse Strukturen, die hier zusammenwirken und sich nicht darauf verständigen können, etwas zu tun für die Entwicklung des Libanon.
Müller: Herr Lüders, bevor wir da weitergehen an dem Punkt, vielleicht noch einmal ganz kurz zurück: Sie haben das gerade beschrieben, dass auch die zuständige Hafenbehörde, die Hafeninstitution, die es da gegeben hat, eben diese Meldungen weitergegeben haben an die Sicherheitsbehörden, Verkehrsministerium oder wie auch immer, die Regierung vermutlich auch davon wusste. Jetzt noch einmal meine Frage, wir können das nur spekulativ beantworten, aber diese Fragen werden ja gestellt: Zufällig ereignet sich neben dieser Lagerhalle eine kleine Explosion, die dann die große Explosion auslöst.
Lüders: Ja, so sieht es aus. Nach allem, was wir bislang wissen – das hat ja auch der Korrespondent eben berichtet –, ist zusätzlich noch ein Lager mit Feuerwerkskörpern in die Luft geflogen. Man muss sich vor Augen führen, dass Ammoniumnitrat eine sehr leicht entzündliche Substanz ist, mit einer niedrigen Entzündungstemperatur. Die Tagestemperaturen in Beirut liegen jetzt bei 35, 36 Grad, und in so einem Hangar kann sich das natürlich noch sehr viel mehr aufheizen. Wenn da jemand achtlos seine Zigarette wegwirft, dann kann es wirklich sehr schnell zur Katastrophe kommen.
"Der Libanon hat ja keine wirkliche eigene Volkswirtschaft"
Müller: Reden wir über das Land, reden wir über die Wirtschaft, über die Proteste, über diese massive Unzufriedenheit, die die Bevölkerung seit vielen, vielen Monaten artikuliert: Warum reagiert die Regierung nicht?
Lüders: Ja, gute Frage. Sie kann im Grunde genommen nicht reagieren, dann müsste sie kollektiv zurücktreten und sich selber ins Exil begeben. Die politische Führung im Libanon ist eine, die eine merkwürdige Mischung darstellt aus Feudalstaatlichkeit und mafiösen Strukturen.
Dieselben Politiker, die das Land wirtschaftlich in den Abgrund geführt haben in den letzten Jahren, haben zuvor Krieg gegeneinander geführt in den Jahren 1975 bis 1990. Keiner von den damals verantwortlichen Warlords und Politikern ist jemals dafür zur Rechenschaft gezogen worden für die zahlreichen Massaker, die es damals gegeben hat. Es hat nie eine Aufarbeitung der Vergangenheit gegeben, weil dann würden die Politiker, die wir heute kennen im Libanon, nicht mehr an der Spitze des Staates stehen, weil sie alle in diesen Krieg involviert waren. Sie sind danach ins zivile Leben gewechselt und sind reich, immens reich geworden dadurch, dass sie sich das Bankensystem im Libanon untertan gemacht haben.
Der Libanon hat ja keine wirkliche eigene Volkswirtschaft, sondern lebt davon, Finanzplatz im Nahen Osten gewesen zu sein, und die Banken unterliegen anders als in Deutschland oder in Europa keiner wie auch immer gearteten Kontrolle. Die Banken sind in der Regel im Besitz von mächtigen Clanfamilien im Libanon, die gleichzeitig auch die Vorsteher sind der jeweiligen religiösen Gemeinschaften – also von Christen, von Sunniten oder von Drusen.
Müller: Wenn Sie mich da mal einhaken lassen, Herr Lüders, was Sie da gerade analysiert haben: Es gibt ja viele, die sagen, für das, was passiert ist – Sie haben das gerade noch einmal genannt, einen Bürgerkrieg mit Tausenden, Zehntausenden von Toten, mit entsetzlicher Gewalt –, dafür ist es im Libanon dann hinterher recht stabil geworden, und die Religionsgemeinschaften haben einen Konsens, einen Ausgleich, ein friedliches Miteinander gefunden. Ist dem gar nicht so?
Lüders: Na ja, der friedliche Ausgleich bestand vor allem darin, dass alle Kriegsparteien müde waren und erkannt haben, dass keine der jeweiligen ethnischen oder religiösen Gruppierungen den jeweils anderen den eigenen Willen aufzwingen kann. Man musste sich dann auf einen Kompromiss verständigen, hat erkannt, dass man mit Waffengewalt einander nicht die Macht entreißen kann. Insoweit gab es schon einen Konsens, aber die Bevölkerungsgruppen, die jeweiligen religiösen Gruppen, leben weitgehend nebeneinander her. Es passiert nicht so sehr häufig, dass in schiitischen Wohnvierteln auch Christen leben oder umgekehrt. Es ist schon ein Land, das sich aufteilt in die verschiedenen religiösen Gruppierungen, aber …
"Die Leute wurden in die Armut getrieben"
Müller: Der Frieden ist ja schon mal was.
Lüders: Der Frieden ist schon mal viel wert, aber leider muss man sagen, ist dieser Frieden nicht genutzt worden, um das Land konstruktiv weiterzuentwickeln. Die Oligarchie, die in diesem Land das Sagen hat, also vielleicht fünf Prozent der Bevölkerung, einer Bevölkerung von sieben bis acht Millionen Menschen, die genaue Zahl kennt keiner … Es hat seit 1943 keine Volkszählung mehr gegeben im Libanon, aus politischen Gründen nicht, denn der Parteienproporz richtet sich nach der religiösen Zugehörigkeit. Damals, als der Libanon unabhängig wurde, hatten die Christen die Mehrheit der Bevölkerung und dementsprechend auch die meiste Macht, bis heute, aber die Schiiten haben mächtig aufgeholt, stellen heute mehr Teile der Bevölkerung als die Christen. Das schafft große Probleme, weil mit der Hisbollah, der "Partei Gottes", mag man im Libanon nicht so gerne kooperieren.
Der entscheidende Punkt aber, der entscheidende Punkt, der den Libanon jetzt in den Abgrund gebracht hat, ist die missbräuchliche Anwendung des Bankensystems. Dieses Bankensystem, das keinerlei Kontrolle unterliegt, hat so eine Art Ponzi-Schema betrieben, eine Art Schneeballsystem über Jahre und Jahrzehnte hinweg. Vor allem hat man Kunden gelockt, die vielen Auslandslibanesen – es gibt ja mehr Libanesen, die in Lateinamerika oder in Westafrika leben als im Libanon selbst –, die haben bis zu zehn Prozent Zinsen bekommen für Dollar- oder Euro-Einlagen, also sehr viel Geld.
Das Geld hat man aber verspekuliert beziehungsweise in die eigenen Taschen gewirtschaftet, und im September/Oktober vorigen Jahres ist dieses betrügerische Banken- und Finanzsystem kollabiert. Der künstliche Wechselkurs – 1 US-Dollar gleich 1.500 Libanesische Lira – war nicht mehr aufrechtzuerhalten, die Wirtschaft ist in kürzester Zeit kollabiert, die Banken hatten schlichtweg kein Geld mehr. Das bedeutet, dass innerhalb von gerade mal neun Monaten die Geldentwertung im Libanon 80 Prozent beträgt und die Leute in die Armut getrieben wurden, in einem Umfang, wie es das nie gegeben hat zuvor in der libanesischen Geschichte und wahrscheinlich auch weltweit relativ einmalig...
Müller: Die dann ja massiv auf die Straße gegangen sind – ich möchte Sie das jetzt auch noch fragen: Wir haben häufig ja auch über die Wahlen im Libanon berichtet, das war auch immer fragil, das war immer heikel. Es ist ja meistens – mit Blick auf Gewalt, haben wir schon besprochen – gut gegangen. Reden wir im Libanon über eine Demokratie?
Lüders: Na ja, formal ist der Libanon auf jeden Fall ein demokratisches Land – jetzt nicht im westlich-parlamentarischen Sinne, aber für arabische Verhältnisse muss man sagen, es ist eine Demokratie mit Einschränkungen, man muss eben wissen, dass die Machtelite nicht mit sich spaßen lässt. Es sind die reichsten Familien in den jeweiligen religiösen und ethnischen Communities, die über die politische und die wirtschaftliche Macht verfügen.
Parallel dazu hat die Jugend im Libanon seit Jahren immer wieder versucht, dieses politische System zu verändern, wegzukommen aus diesem ganzen Proporzdenken, aus religiöser und ethnischer Zugehörigkeit, aber diejenigen an den Schalthebeln der Macht, überwiegend ältere Männer, sind nicht bereit, die Macht zu teilen mit der Jugend des Landes. Dementsprechend hat es massive Proteste gegeben der Zivilgesellschaft, die jetzt durch COVID-19 ausgebremst worden sind – sehr zur Freude der Machthaber –, die aber möglicherweise, diese Explosion von gestern, das Genick gebrochen haben könnte. Das Land ist bankrott, und es gibt keine Möglichkeit, einfache Lösungen zu finden. Der Libanon ist auf dem besten Weg in ein Venezuela des Nahen Ostens.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Anmerkung der Redaktion: In der ursprünglichen Interviewtranskription war hier versehentlich ein falsches Jahr angegeben. Wir haben die Jahreszahl korrigiert.