Dienstag, 21. Mai 2024

Sicherheitspolitik
Der NATO-Gipfel und die Ukraine

Krieg in der Ukraine, Schutz der Ostflanke, der Beitritt Schwedens – beim Gipfel des westlichen Militärbündnisses in Vilnius gab es viel zu besprechen. Zu einer Beitrittseinladung an die Ukraine konnte sich die NATO nicht durchringen.

13.07.2023
    Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, spricht auf der Pressekonferenz während des NATO-Gipfels im litauischen Ausstellungs- und Kongresszentrum LITEXPO in Vilnius am 12. Juli 2023.
    Erst enttäuscht, dann angeblich zufrieden: Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj beim NATO-Gipfel in Vilnius. (Getty Images / NurPhoto / Beata Zawrzel)
    Wird die Ukraine NATO-Mitglied – und wenn ja, wann? Diese Frage stand im Mittelpunkt der öffentlichen Debatten rund um den zweitägigen Gipfel der „North Atlantic Treaty Organization“ (NATO) im litauischen Vilnius. Aber auch andere wichtige Sicherheitsfragen wurden vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs beraten. Die wichtigsten Fragen und Antworten zu den Gipfel-Ergebnissen.

    Was sind die Ergebnisse des NATO-Gipfels?

    Monatelang hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Druck gemacht, dass sein Land in Vilnius von der NATO für die Zeit nach dem Krieg eine offizielle Einladung zum Beitritt bekommt. Doch US-Präsident Joe Biden hatte schon vor dem Gipfel klargemacht, dass es keine substanziellen Beschlüsse und keinen Zeitplan zu einem NATO-Beitritt der Ukraine geben würde. Er stellte der Ukraine aber Sicherheitsgarantien nach dem Vorbild Israels in Aussicht. Im Einklang mit Biden positionierte sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Beide betonen immer wieder die Risiken einer direkten militärischen Konfrontation zwischen NATO und Russland. Auch Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) sagte in der ARD, eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine vor einem Frieden könnte „quasi sofort“ den Bündnisfall auslösen. Vor allem Vertreter der osteuropäischen NATO-Staaten zeigten sich offener für einen Beitritts-Zeitplan zugunsten der Ukraine.
    Auf dem NATO-Gipfel in Litauen: Der britische Premierminister Rishi Sunak (l-r), US-Präsident Joe Biden, Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg begrüßen Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine
    Auf dem NATO-Gipfel in Litauen: Der britische Premierminister Rishi Sunak (l-r), US-Präsident Joe Biden, Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg begrüßen den ukrainischen PräsidentenWolodymyr Selenskyj (picture alliance / dpa / Kay Nietfeld)
    In der offiziellen Erklärung der NATO zum Gipfel hieß die Kompromissformel dann: „Die Zukunft der Ukraine ist in der Nato.“ Eine Einladung sei aber erst möglich, „wenn die Verbündeten sich einig und Voraussetzungen erfüllt sind“. Als Beispiele werden Reformen „im Bereich der Demokratie und des Sicherheitssektors“ genannt.  Zugleich signalisiere die NATO an die Adresse des russischen Präsidenten Wladimir Putin, dass er nicht darauf hoffen kann, dass die Alliierten müde werden, der Ukraine Waffen, Munition und Geld zur Verfügung zu stellen. Deutschland schnürte zum Beispiel ein weiteres militärisches Unterstützungspaket im Wert von fast 700 Millionen Euro. Geschaffen wurde in Vilnius auch ein NATO-Ukraine-Rat - ein neues Forum für Beratungen und Treffen in Notfallsituationen.
    Neue Verteidigungspläne sollen die NATO auf das Szenario eines russischen Angriffs an der Ostflanke des Bündnisses vorbereiten. Kritische Orte im Bündnisgebiet wollen die Mitgliedsstaaten durch Abschreckung schützen und im Ernstfall verteidigen. Dafür wird definiert, welche militärischen Fähigkeiten notwendig sind. Neben Land-, Luft-, und Seestreitkräften sind auch Cyber- und Weltraumfähigkeiten eingeschlossen.
    Ein zentrales Ergebnis des Gipfels ist auch die Zusicherung aller NATO-Staaten, mindestens zwei Prozent ihres jeweiligen Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben zu wollen. Zu der Vereinbarung gehört allerdings auch, dass nicht gesagt wird, bis wann die bislang unter zwei Prozent liegenden NATO-Staaten das neue Ziel erfüllen müssen. Deutschland will im nächsten Jahr mithilfe eines Sondervermögens auf die zwei Prozent kommen. Wie das Ziel dauerhaft erreicht werden soll, ist allerdings noch unklar.
    Ein weiteres wichtiges Thema: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan stimmte bei einem Treffen mit dem schwedischen Regierungschef Ulf Kristersson zu, das für die Aufnahme Schwedens nötige Beitrittsprotokoll so bald wie möglich dem türkischen Parlament zur Zustimmung vorzulegen. Schweden könnte demnach bereits im Herbst das 32. Bündnismitglied werden. Die Türkei ist neben Ungarn das einzige der 31 Nato-Länder, dessen Parlament die Beitrittsakte Schwedens zu dem Militärbündnis noch nicht ratifiziert hat.

    Was bedeutet der Gipfel für die Ukraine?

    Der ukrainische Präsident Selenskyj lobte am 12.07.2023 die Ergebnisse des Gipfels, an dem er als Gast teilgenommen hatte – unter anderem bei der ersten Sitzung des NATO-Ukraine-Rats. Man bringe einen „Sicherheitssieg für die Ukraine mit nach Hause, für unser Land, unsere Menschen, unsere Kinder“, sagte Selenskyj. „Das Wichtigste ist, Ergebnisse zu haben, damit wir konkrete Schritte sehen, die uns der Nato näher bringen“, fügte er hinzu. Er lobte zudem die Zusage von neuen Waffenlieferungen. Tags zuvor hatte Selenskyj den Verzicht der NATO-Staaten auf einen Zeitplan für den Beitritt der Ukraine in einem Tweet noch als „absurd“ bezeichnet.
    Selenskyj habe versucht, das Maximum zu erreichen, sagte der Journalist Juri Durkot im Dlf. Den Gipfel von Vilnius müsse er nun als Erfolg verkaufen. In den ukrainischen Medien werde die „Unentschlossenheit“ der NATO kritischer gesehen. Eine Einladung der NATO an die Ukraine wäre ein Zeichen gewesen, dass der Westen keine Angst vor dem Aggressor habe. Was die NATO jetzt gemacht habe, sieht Durkot eher als Zeichen von Schwäche.

    Wie reagiert Russland?

    Nach dem Gipfel in Vilnius warf Russland der NATO vor, zum Kalten Krieg zurückzukehren. Der Westen versuche, seine globale Hegemonie zu schützen und habe sich Russland als Hauptziel seiner aggressiven Politik auserkoren, hieß es in einem Schreiben des Außenministeriums in Moskau. "Zusätzlich zu den bereits getroffenen Entscheidungen werden wir die militärische Organisation und das Verteidigungssystem des Landes weiter stärken."
    Außenminister Sergej Lawrow warnte vor einer direkten militärischen Auseinandersetzung zwischen der NATO und Russland. Dies könnte katastrophale Folgen haben, sagte Lawrow einem russischen Internetportal. Besonders bedenklich sei die geplante Lieferung von F-16-Jets an die Ukraine, die potenziell mit Atomwaffen bestückt werden könnten.

    Wie positioniert sich die NATO zu China?

    Neben dem Krieg in der Ukraine war auch der Umgang mit China Thema des Gipfels. Als Gefahr wird laut NATO-Erklärung insbesondere gesehen, dass die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt versucht, „Schlüsselbereiche der Technologie- und Industriesektoren, kritische Infrastruktur sowie strategisches Material und Lieferketten unter ihre Kontrolle zu bringen“. Zudem prangerten die Mitgliedsstaaten böswillige Cyberoperationen, eine konfrontative Rhetorik und Desinformation an. In Reaktion soll nun die Abwehrbereitschaft für den Fall einer Eskalation der aktuellen Konflikte erhöht werden, unter anderem durch einen Ausbau des gemeinsamen Lagebilds.

    Wie ist der Gipfel zu bewerten?

    Dass der ukrainische Präsident Selenskyj sich zwischenzeitlich enttäuscht zeigte, ist verständlich, meint Dlf-Sicherheitsexperte Marcus Pindur. Eine vage Einladung ohne Terminzusage oder einen Zeitplan – das ist aus der Sicht der Ukraine ernüchternd. Das war aber kaum anders zu erwarten. Der wichtigste Grund ist, dass die USA in der jetzigen Lage zu weiteren Zusagen in Bezug auf eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine nicht bereit sind. Vor der Präsidentschaftswahl in den USA werde nichts passieren, so Pindur. Damit war das Thema de facto schon lange vor dem NATO-Gipfel in Vilnius vom Tisch.
    Unter den gegebenen Umständen sei es richtig, keine Bedingungen und keinen Zeitpunkt für einen Beitritt festzulegen. Ein Beitritt noch während des Krieges ist ausgeschlossen. Niemand in der NATO will in einen laufenden Krieg mit Russland eintreten, so Dlf-Sicherheitsexperte Marcus Pindur.
    Die Sicherheit der NATO beruhe auf ihrer Bündnissolidarität und der daraus resultierenden Abschreckungswirkung. Wenn die NATO der Ukraine Sicherheitsgarantien gäbe, die sie militärisch am Boden nicht einlösen könnte oder wollte, dann wäre die Beistandszusage nach Artikel 5 des NATO-Vertrages entwertet, und somit die Bündnissolidarität innerhalb der NATO. Das hätte eine unabsehbare, erschreckende, und mit globalen Konsequenzen versehene Destabilisierung zur Folge.

    Welche Länder sind in der NATO?

    Das Militärbündnis hat derzeit 31 Mitglieder: Albanien, Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Frankreich, Finnland, Griechenland, Island, Italien, Kanada, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Montenegro, Niederlande, Nordmazedonien, Norwegen, Polen, Portugal, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechische Republik, Türkei, Ungarn, Vereinigtes Königreich, USA.

    dpa, Reuters, AP, Dlf, Marcus Pindur, tei