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Néhémy Pierre-Dahomey „Die Zurückgekehrten“
Wenn die Flucht scheitert

Néhémy Pierre-Dahomey schreibt in seinem preisgekrönten Debütroman „Die Zurückgekehrten“ über Armuts-Migranten, die nie in einer besseren Welt ankommen. Kaum angelandet in Florida, wird seine Heldin gleich wieder zurückgeschickt: in ihr völlig verarmtes Heimatland Haiti.

Von Cornelius Wüllenkemper | 29.10.2018
    Buchcover: Néhémy Pierre-Dahomey: „Die Zurückgekehrten“
    "Die Zurückgekehrten" erzählt von Flüchtlingen ohne Chance auf ein besseres Leben (Buchcover: Nautilus Verlag, Foto: dpa / Benjamin J. Myers)
    Zehn Jahre ist es her, dass Belliqueuse Louissaint gemeinsam mit vierzig anderen Haitianern die Überfahrt nach Florida wagte. Das altersschwache Segelboot geriet in ein Unwetter, und in einem Anfall von Panik im Angesicht des Todes warf Belliqueuse ihren kleinen Sohn über Bord, ein Trauma, das sie bis zu ihrem Tode verfolgen wird.
    "Nur wenig später beruhigte sich das Meer, der Schiffbruch blieb aus. Die Überreste der Agwéton treiben in einer Stille aus Ungewissheit ab, bis die Coast Guards die Überlebenden bargen. Einer Logik folgend, die allein sie kannten, nahmen sie zwei oder drei illegale Exilanten auf, unter ihnen Sylvia, Bellis Tante. Die anderen wurden ohne gerichtliche Verhandlung weniger als eine Woche nach ihrer Irrfahrt in den maroden Hafen von Cité Soleil, Haiti, ausgewiesen, achtzehn Grad nördlicher Breite, zweiundsiebzig Grad westlicher Länge."
    Der 1986 in Port-au-Prince in Haiti geborene Pastorensohn Néhémy Pierre-Dahomey gibt seiner Protagonistin Belliqueuse, kurz "Belli", eine denkbar schwere Bürde mit auf ihren weiteren Lebensweg. Zehn Jahre nach der missglückten Überfahrt und nach dem Tod ihres kleinen Sohnes lässt er die eigentliche Handlung beginnen. Belliqueuse, was auf Deutsch "die Kämpferische" bedeutet, lässt sich nicht entmutigen und entscheidet, zusammen mit Nènè, einem gutmütigen Tischler mit einer ausgeprägten Schwäche für Alkohol und Frauen, erneut eine Familie zu gründen. Zurückgekehrten Boatpeople wie Belli stellt der Bürgermeister des Hauptstadt-Slums Cité Soleil dafür ein Grundstück in einem abgelegenen Randviertel zur Verfügung, ein "unbewohnter, weil unbewohnbarer Landstrich" namens "Rapatriés"
    "Bei ihrer Ankunft in Rapatriés suchte Belli vergebens nach etwas, was einem Haus ähnelte. Nènè [...] bemühte sich, die Bestürzung zu verbergen, die ihm beim Betreten des Viertels stets überkam. Von diesem Abend an lebte Belliqueuse Louissaint klag- und fraglos in Rapatriés, mit all der Courage, die ihr Mann von ihr kannte. 'Wenn ich mich hier schlafen lege', gab sie allerdings zu, 'geschieht es in der Hoffnung, dass wir eines Tages ein echtes Haus haben werden. So wirst du beweisen, dass du Verantwortung für Frau und Kinder übernehmen kannst.' Dieser eigentlich einfache Satz wirkte auf Nènè wie eine fürchterliche Drohung."
    Adventisten im Kampf gegen den Voodoo-Glauben
    Von dieser Baracke in Rapatrié aus nimmt Bellis Schicksal seinen Lauf, das Néhémy Pierre-Dahomey in seinem Roman über einen Zeitraum von 25 Jahren verfolgt. Ihr Ehemann Nènè baut ihr zwar tatsächlich ein Haus, aber als Familienvater ist er mitnichten zu gebrauchen. Acht Monate nach der Geburt ihrer zweiten Tochter lässt Nènè Belliqueuse mit den drei gemeinsamen Kindern allein zurück.
    Belli hält sich und ihre Familie zunächst mit dem Verkauf von Krimskrams auf einem nahegelegenen Markt mehr schlecht als recht über Wasser. Der drohende Untergang, die fehlende Sicherheit und Planbarkeit des Lebens, familiäre Zerrüttung, materieller Mangel und die chronische Abwesenheit des Staates aber sind omnipräsent in diesem Roman. Pierre-Dahomey lässt seinen Figuren dabei kaum Luft zu atmen, bevor sie das nächste Unheil ereilt. Als Marine, Bellis ältere Tochter, mit zehn Jahren unvermittelt an Tuberkulose stirbt, erfährt die Mutter einen ersten Zusammenbruch. Dem Trauerzug durch ihr Armenviertel Rapatriés darf sie sich nicht anschließen, weil sie keine Angehörige der Adventisten ist, jener radikalprotestantischen Erweckungsprediger, die seit einigen Jahrzehnten in Haiti ihr missionarisches Unwesen im Kampf gegen den Voodoo-Glauben treiben.
    Respektvoll wohnte Rapatriés diesem Aufmarsch bei, aus dem erst mit dem Megafon die frohe Botschaft vom Frieden verkündet und anschließend das Haus mit sehr inbrünstigen Gebeten gepanzert wurde, um Gottes Reich abzustecken und Satan den Teufel fernzuhalten. Der Pastor und sein Prediger nutzten die Gelegenheit, um Belli und Nènè ihre Übertrittsangebote zu unterbreiten, gespickt mit mehr oder minder subtilen bis heftigen Drohungen. Die beiden willigten ein, um nicht zu widersprechen, ohne jedoch den Herrn aus Nazareth von jetzt auf gleich zu ihrem persönlichen Retter zu machen.
    Geheucheltes Mitgefühl der Ersten für die Dritte Welt
    Obwohl oder gerade weil er selbst als Sohn eines adventistischen Pastors aufwuchs, untersucht der Autor Néhémy Pierre-Dahomey die Rolle der protestantischen Kirche in Haiti äußerst kritisch. Dem seelischen Abgrund kommt seine Protagonistin Belli ein weiteres Stück näher, als sie sich in ihrem Kummer der adventistischen Kirche anvertraut und den Rat des Pastors befolgt, ihre beiden Töchter zur Adoption freizugeben. Das Interesse des Pastors aber ist ein rein pekuniäres: Gemeinsam mit einer dubiosen Kinderkrippe, verkauft die Kirche haitianische Kinder an Ehepaare aus dem Westen. Damit thematisiert Pierre-Dahomey in seinem Roman ein weiteres Kapitel der bigotten Beziehung der Ersten zur Dritten Welt.
    "Die Sorglosigkeit von Pastor Joël, obwohl Gott erst eine Woche Bedenkzeit gehabt hatte, all das nährte ihre Zweifel. Trotzdem ließ sie ihre Kinder dort und kehrte mit zwei Kieselsteinen anstelle eines Herzens nach Hause zurück. Dort verkündete sie allen, die es hören wollten: 'Ich habe sie weggegeben. Sie sind jetzt nicht mehr meine Töchter, sie sind jetzt kleine Weiße.'"
    Mit feiner Ironie und auch mit unverhohlenem Sarkasmus zeichnet Pierre-Dahomey ein düsteres, wenngleich realistisches Bild des Lebens in Haiti, einem der ärmsten Länder der westlichen Erdhalbkugel. Das liest sich aufrüttelnd und zum Teil sogar atemberaubend, zumal der 32jährige Autor die sprachliche Klaviatur zwischen dokumentarischer Genauigkeit und poetischer Metaphorik virtuos beherrscht. Der Leser lernt viel über Haitis jüngste Geschichte und seine Gegenwart, man bekommt es mit einer Vielzahl an Figuren zu tun – die allerdings zum größten Teil Statisten bleiben in einem vom Autor allzu exemplarisch inszenierten Szenario des Schreckens.
    Eine exzentrische Adoptivmutter aus Frankreich
    Dass die Adoptivmutter von Bellis zweiter Tochter Belial eine exzentrische Französin namens Pauline ist, die ausgerechnet am Kampf gegen das Unrecht der Welt psychisch und sozial zugrunde geht, wirkt hier nur noch wie eine bitter-sarkastische Fußnote. Bellis Sohn Fedner entwickelt sich von einem schüchternen Teenager zum Gangsterboss im Dienste des früheren Präsidenten Bertrand Aristide. Als dann 2010 das Erdbeben in Haiti große Teile der Hauptstadt Port-au-Prince in Schutt und Asche legt, das Land von Katastrophentouristen überschwemmt und Belli ihr Frankreich-Visum zum Besuch ihrer Tochter verweigert wird, ist das Leidensmaß dieser Mutter-Courage der Dritten Welt schließlich voll.
    Eine Wahrheit, die seit einiger Zeit in ihr geschlummert hatte und gegen die sie verzweifelt angekämpft hatte, gewann die Überhand: Belli war verrückt geworden. Sie stürzte aus dem Sattel und verlor in aller Öffentlichkeit den Verstand. Sie unterbrach das Gespräch mit Pauline, die am anderen Ende der Leitung wütete, schimpfte und fluchte und sagte bloß: "Ich kann nicht mehr!" Dann warf sie alles hin: den Hörer, die Träume, die Wünsche, sich selbst.
    Eine Mutter Courage der Dritten Welt
    Es geht nicht gut aus mit Belli, denn die Welt im Dauerkriegszustand zwischen Arm und Reich hat sich gegen die tapfere Stehauffrau aus Haiti verschworen. Ebenso wie auch auf dem chronisch gebeutelten Haiti bis heute ein Fluch zu liegen scheint. Néhémy Pierre-Dahomeys in Frankreich preisgekrönter Roman hinterlässt trotz seiner eindringlichen Erzählpassagen insgesamt einen zwiespältigen Eindruck: Dass der Autor großes Talent besitzt, steht außer Zweifel. Und doch nimmt er seinem Text selbst die literarische Wucht, indem er die Schreckensbilder, die in der Ersten Welt über seine Heimat kursieren, nicht nur bestätigt, sondern auch bedient.
    Pierre-Dahomeys Geschichte über eine Zurückgekehrte ist in ihrer Handlungskonstellation und in der voraussagbaren Tragik der Figuren allzu demonstrativ. Dieser Roman über das Schicksal von Menschen, die ihrer Armut zu entfliehen versuchen, erinnert streckenweise dann doch etwas allzu sehr an ein dokumentarisches Panoptikum klischierter haitianischer Elendsfiguren.
    Néhémy Pierre-Dahomey: "Die Zurückgekehrten".
    Aus dem Französischen von Lena Müller.
    Verlag Edition Nautilus, Hamburg, 160 Seiten, 19.90 Euro.