Freitag, 19. April 2024

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Neuanfang nach Ära Löw
Experte Marcel Reif: Trainer Hansi Flick wird keine schnellen Erfolge bringen

Fußball-Experte Marcel Reif sieht nach dem EM-Aus große Defizite bei der Nationalmannschaft der Männer. Vor allem bei der Sichtung und Ausbildung von Nachwuchs gebe es Probleme. Der neue Bundestrainer Hansi Flick könne diese Mängel nicht kurzfristig beheben. Von der Weltspitze sei man "ein ganzes Stück entfernt".

Marcel Reif im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 30.06.2021
Fußballbundestrainer Jogi Löw (rechts) mit seinem Wunsch-Nachfolger Hansi Flick
Hansi Flick (li.) folgt Joachim Löw als Trainer der Männer-Nationalelf nach. Löw hätte bereits nach der WM 2014 aufhören sollen, sagte der Fußballkommentator und -experte Marcel Reif im Interview mit dem Deutschlandfunk. (picture alliance/ dpa/ Sven Simon)
Die Niederlage der deutschen Fußballnationalmannschaft der Männer gegen England im Achtelfinale der Europameisterschaft (29.06.21) war für Joachim Löw das letzte Spiel als Bundestrainer. Zügig zog er sich nach dem Abpfiff in die Kabine zurück. "Er musste doch schon so ein bisschen durch die Hintertür raus", sagte Fußballkommentator Marcel Reif im Deutschlandfunk.
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"Nach 2014 deutliche Fehler"

Dabei gebe es in Löws Bilanz als Bundestrainer viele positive Aspekte: Er sei am so genannten "Sommermärchen" von 2006 sehr beteiligt gewesen, habe 2010 eine junge Mannschaft in Südafrika wundervollen Fußball spielen lassen und sie dann 2014 zum Titel geführt. "Das wäre doch ein klasse Punkt gewesen aufzuhören", sagte Reif. Diese Chance habe Löw verpasst und danach habe er als Trainer deutliche Fehler gemacht.

Reif: starke Stürmer und Abwehrspieler fehlen

Dass unter dem zukünftigen Bundestrainer Hansi Flick sofort alles besser werde, sei allerdings nicht zu erwarten, "das wird eine Durststrecke werden jetzt erst mal", sagte Reif. In der Ausbildung und Sichtung neuer Spieler habe man über viele Jahres einiges versäumt, das lasse sich so schnell nicht aufholen. Es fehle sowohl an echten Stürmern als auch an herausragenden Abwehrspielern, insbesondere die linke Abwehrseite sei nicht gut besetzt.
Der Sportkommentator Marcel Reif.
Der Sportkommentator Marcel Reif (imago/sportfoto/Defodi)

Das vollständige Interview im Wortlaut:

Tobias Armbrüster: Woran liegt es, dass wir, dass die Deutschen nicht gut genug sind?
Marcel Reif: Ja, es fehlt an überragenden Abwehrspielern, es fehlt an Stürmern im Vergleich zu England. Die Engländer waren ja nicht so viel besser, nur die hatten einen Sturm, der seinen Namen verdient, und haben dann halt die zwei Tore gemacht, die unsere nicht gemacht haben. Und wenn man sich die Vorrunde anguckt, das war ja nicht gestern irgendwie ein Zusammenspiel böser Mächte, sondern das war die fast logische Konsequenz dessen, was wir in der Vorrunde gesehen haben.
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Du hast ein gutes Spiel gegen Portugal abgeliefert, da haben aber die Portugiesen sportlichen Selbstmord begangen, taktisch in vielerlei Hinsicht. Gegen Frankreich chancenlos, zögerlich, zaghaft, aber mit gutem Grund, weil wir gegen sie auf sehr vielen Positionen einfach unterlegen waren. Und gegen die Ungarn, gegen eine Mannschaft mit bescheidenen Mitteln, die aber das Beste aus sich rausholen, hat sich die deutsche Mannschaft unsäglich schwer getan.
Also noch mal: Ich glaube nicht, dass die Engländer Europameister werden, aber für die deutsche Mannschaft hat’s gestern gereicht. Das heißt, es wird diesen großen Umbruch geben müssen, nur ich denke, das deutsche Fußballpublikum wird gut daran tun, sich daran zu gewöhnen, dass das dauern wird und dass man erst mal wirklich kleinere Brötchen backen muss. Von der Weltspitze ist der deutsche Nationalmannschaftsfußball ein ganzes Stück entfernt.

"Keine echten Stürmer mehr ausgebildet"

Armbrüster: Woran liegt das denn?
Reif: Ausbildung. Über viele Jahre hat man zum Beispiel keine echten Stürmer mehr ausgebildet, sondern sich über jeden gefreut, der individuelles Talent hat. Außenspieler in der Abwehr, die heute so wichtig sind, finden nicht statt. Wir haben ein Problem auf der linken Abwehrseite, das haben wir aber seit, weiß ich nicht, gefühlt zehn Jahren, und es ist nichts nachgekommen – nicht gut genug gesichtet, nicht gut genug ausgebildet.
Ja, und dann hat sich natürlich auch ein bisschen Mehltau auf das Ganze gelegt durch die letzten Jahre mit Jogi Löw. Der hat große Verdienste, aber was wir von ihm hätten verlangen wollen – und wir beide sind alt genug zu wissen, das ist die Königsdisziplin –, aufhören, wenn es am schönsten ist, auf der Höhe des Erfolgs und dann einen Neuaufbau andere machen lassen. Das hat er nicht getan, und deswegen ist das gestern ein schmerzlicher Abschied gewesen für ihn.
Armbrüster: Sie meinen, Jogi Löw war zu lange in diesem Job?
Reif: Im Nachhinein jetzt, wenn man einen Strich drunterzieht, hätte man ihm wünschen mögen, du bist Weltmeister geworden, mehr kann man nicht holen, sag tschüss und lass andere weitermachen.

"Das wird eine Durststrecke werden jetzt erst mal"

Armbrüster: Was muss sich denn jetzt ändern, wenn Hansi Flick kommt?
Reif: Erst mal, glaube ich, wieder ein bisschen eine optimistischere Herangehensweise, auch wenn das in Niederlagen mündet erst mal. Das heißt, Spiele spielen, um sie zu gewinnen und nicht nur, um sie nicht zu verlieren. Den Eindruck hatte man bei diesem Turnier bei Jogi Löw und dieser Nationalmannschaft. Man muss gucken im Nachwuchsbereich, wo sind wirklich Schwachstellen, wo hat man in die falsche Richtung ausgebildet. Man hat individuelle Stärken nicht… Die waren verdächtig eher, man wollte Mannschaftsspieler, da hat man aber festgestellt, aber du brauchst ja auch individuelle Qualitäten, oh ja, da haben wir was verpasst. Mittelstürmer, nee, die gibt’s doch eigentlich gar nicht mehr, oh doch, Lewandowski ist, glaube ich, einer, wird Weltfußballer, du brauchst gute Abwehrspieler – das muss früh anfangen.
Das wird eine Durststrecke werden jetzt erst mal. Dass jetzt Hansi Flick kommt, den Finger drauflegt – die Stimmung wird vielleicht eine andere sein drumrum und ein bisschen Aufbruch, aber dass die Erfolge gleich kommen, das sollten wir uns abschminken.
Armbrüster: Fehlt Deutschland so etwas wie so ein quirliger Spieler, der mal schnell nach vorne geht und dort versucht, Tore zu schießen, was man ja bei vielen anderen Mannschaften, auch bei dieser Europameisterschaft, wieder gesehen hat, was Deutschland irgendwie nie so richtig aufbringen kann?
Reif: Wir hatten und haben einen Leroy Sané, der die Qualitäten hat, wir haben Timo Werner, der das Tempo hat, wir haben einen Serge Gnabry, der schon gezeigt hat, dass er das kann. Bei diesem Turnier sind diese drei Spieler völlig untergegangen, und sie haben das, was sie können, ob das auch vom Trainer nicht genügend präzise eingesetzt wurde, lassen wir mal dahingestellt, aber diese Spieler selber haben es nicht gebracht. Die Engländer hatten einen Raheem Sterling, haben einen, haben einen Grealish, und das hat gereicht, um die deutsche Mannschaft zu schlagen. Das war nicht irgendwie… Noch mal, es taugt für keine Legendenbildung. Die Engländer waren, was das angeht, besser, und das hat gereicht.

"Löw hat eine Ära geprägt"

Armbrüster: Herr Reif, dann müssen wir trotzdem auch noch mal über Jogi Löw sprechen. Bei aller Kritik, die Sie hier äußern, was bleibt denn von dieser Ära?
Reif: Er war Weltmeister, und er hat diese Mannschaft zum Weltmeistertitel geführt, das kann ihm niemand nehmen. Und wenn sich der Pulverdampf ein bisschen gelegt hat, wird man das hoffentlich auch nicht ganz vergessen und abtun. Aber natürlich, er ist geblieben, er hat gesagt, ich gehe jetzt den nächsten Schritt wieder, er hat schlimme Fehler gemacht, also klare, deutliche Fehler gemacht – diese WM in Russland hat er mit in den Sand gesetzt durch irgendwelche Vorgaben, Titelverteidigung, statt einfach mal ein Turnier zu spielen.
2014: Torwarttrainer Andreas Koepke, Bundestrainer Joachim Löw und der damalige Assistenztrainer Hansi Flick fassen gemeinsam den Weltermeisterschaftspokal an.
2014 holte Joachim Löw (mitte) als Bundestrainer den Weltmeistertitel, damals war Hansi Flick (rechts) Co-Trainer. (picture alliance/dpa/Ges/Markus Gilliar)
Er hat genug Dinge auch falsch gemacht, aber wenn man eine Bilanz zieht, muss man auch die positiven Seiten sehen. Wenn er früher oder direkt nach dem WM-Titel, da, wo es am schönsten ist, ich sag’s gern noch mal, aufgehört hätte, hätte er sich diesen Weg erspart und auch diese Art Abschied. Er musste gestern doch schon so ein bisschen durch die Hintertür raus, das, finde ich, hat er nicht verdient. Ich hoffe, dass alle, die über ihn jetzt urteilen – und zwar nicht über den Menschen bitte, sondern wirklich über ihn in der Trainerbilanz –, dass die einmal kurz innehalten und sagen, pass auf, ja, das ja, das nein.
Insgesamt hat er sicher eine Ära geprägt, 2006 bei dem Sommermärchen war er sehr beteiligt, 2010 hat eine junge deutsche Nationalmannschaft unter seiner Führung einen wundervollen Fußball in Südafrika gespielt, und 2014 sind sie Weltmeister geworden. Jetzt, wo ich das aufzähle, fällt mir selber auf, so, das wäre doch ein klasse Punkt gewesen aufzuhören. Hat er nicht, und deswegen muss man leider auch die dunklen Seiten sehen.

Reif: Fußball hat gesellschafltiche Verantwortung

Armbrüster: Herr Reif, dann noch ganz kurz über Fußball und Politik, da haben wir eine Menge Zusammenhänge gesehen bei dieser Europameisterschaft bisher: die ganze Diskussion um Regenbogenfahnen am Münchner Stadion, dann gestern das gemeinsame Knien auf dem Rasen. Ist das möglicherweise manchmal auch ein bisschen zu viel Druck, der dann auf den Spielern lastet?
Reif: Ach ja, natürlich weil es in der Woche zwischen den Spielen diskutiert wird, intern wie auch von außen und immer wieder. Der Fußball kann eine Menge, und er kann sich seiner gesellschafltichen Verantwortung nicht entziehen, weil er eine so massive Rolle spielt, aber mir ist manches zu ritualisiert. Wissen Sie, ob das Stadion jetzt bei dem einen Spiel gegen Ungarn in Regenbogenfarben geleuchtet hätte, ob das wirklich die Welt so verändert hätte, weiß ich nicht, und da lässt sich vieles pro und gegen sagen.
Das Stadion des VfL Wolfsburg erstrahlt vor einem dunklen Himmel in Regenbogenfarben.
Mediale Regenbogen-Logos - Überlegenheit oder Überheblichkeit
Nachdem die Uefa verboten hat, dass die Münchner Arena zur Fußball-EM in den Regenbogenfarben beleuchtet wird, kam Protest von unterschiedlichen Seiten. Auch etliche Medienlogos wurden bunt umgestaltet – alles nur Marketing?
Und das Niederknien, ja, das ist ein schönes Zeichen, aber der Fußball wird diese Probleme allein nicht lösen können. Während so einer EM kriegt das natürlich eine mediale Wucht und wird rauf und runter dekliniert, aber das taugt nicht dazu, um zu sagen, die Spieler waren abgelenkt durch Dinge, die vielleicht für sie eine Nummer zu groß sind. Es sind auch junge Menschen, die auch in dieser Welt leben, die können auch nicht die Augen schließen vor den Dingen, die (Audio unverständlich), und jeder darf dann für sich selber entscheiden, wie weit er was mitmacht. Einen großen Druck aufbauen ständig und ständig was einklagen, ist nicht in Ordnung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.