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Neue Biografien über Otto von Bismarck
Unbestritten umstritten

War Otto von Bismarck ein kluger Stratege - oder war er mit dem politischen System, das er mitgestaltete, selbst überfordert? Bis heute gibt der "Eiserne Kanzler" ein schillerndes Bild ab. Auch die neuen Biografien der Historiker Christoph Nonn und Hans-Christof Kraus sowie des Publizisten Norbert F. Pötzl bilanzieren sein Wirken zwiespältig.

Von Michael Kuhlmann |
    Zeitgenössisches Porträt des deutschen Staatsmanns Otto von Bismarck (1815-1898).
    Kaum eine andere historische Gestalt ist heute so umstritten: Otto von Bismarck (picture alliance / Bibliographisches Institut & F.A)
    Nur über einen Politiker gibt es nach Christoph Nonns Beobachtung mehr Bücher als über Otto von Bismarck: über Adolf Hitler. Bismarck war wohl der wichtigste Deutsche des 19. Jahrhunderts. Und Hans-Christof Kraus zollt ihm Respekt.
    "Bismarcks Größe als Politiker ist gewiss auch darin zu sehen, dass es ihm fast immer gelungen ist, gerade die besonders wichtigen Persönlichkeiten, die regierenden Monarchen, in ihrer jeweiligen Eigenart wahrzunehmen, sie zutreffend einzuschätzen."
    Allerdings: Keine andere historische Gestalt, so stellt Christoph Nonn fest, ist heute so umstritten. War Bismarck ein kluger Stratege? Oder war er mit dem politischen System, das er mitgestaltete, selbst überfordert? Otto von Bismarck war eine Kämpfernatur, er war machtbewusst –, und er wollte die Interessen der preußischen Monarchie durchsetzen: nach außen wie nach innen. Bei dem „wie" war er flexibel, verbündete sich je nach Bedarf auch mit vormaligen liberalen Gegnern und brach mit konservativen Freunden. Von einer Liberalisierung des Systems allerdings wollte Bismarck nichts wissen. Christoph Nonn stellt freilich klar, dass man davon ohnehin keine Wunderdinge hätte erwarten können:
    "Die 'englische Alternative' eines liberalen Ministeriums hätte wahrscheinlich keine Demokratisierung Preußens ausgelöst. Das ungleiche Dreiklassenwahlrecht zum Abgeordnetenhaus wäre wohl auf absehbare Zeit bestehen geblieben, das allgemeine Männerwahlrecht zum Reichstag 1867/'71 nicht eingeführt worden. Ein nach englischem Vorbild liberal regiertes Preußen ohne Bismarck wäre zwar sicher stärker parlamentarisch geprägt aber gerade deswegen nicht demokratischer gewesen."
    Kontrafaktische Gedanken wie diese sind charakteristisch für Nonns Biografie; sie ist im Ganzen das anregendste der drei Bücher. Alle drei möchten Bismarck zugleich entmystifizieren und entdämonisieren. Sie bestätigen den gängigen Befund, dass Bismarck nicht der große historische Macher war, sondern dass er nur im Gange befindliche Dinge lenkte – wenngleich zeitweise mit großem taktischem Geschick. Auch ohne Bismarck hätte es wohl die Reichsgründung gegeben – sie wäre nur anders verlaufen; wahrscheinlich langsamer. In diesem neuen Reich war Bismarck keineswegs allmächtig. Den Kulturkampf gegen die katholische Kirche verlor er; seine Gesetze gegen die Sozialdemokratie verfehlten ihr Ziel. Und seine de facto rassistische Germanisierungspolitik gegen die polnische Minderheit im Osten heizte dort antideutsche Ressentiments an. Auch der tendenziell wohlwollende Kraus bilanziert:
    "Alle drei politischen Fehlleistungen – wenn man sie denn so nennen kann – resultieren bei näherem Hinsehen aus der Überzeugung des Kanzlers, bestimmte Entwicklungen und Ziele unter Einsatz harter Zwangsmaßnahmen gegen den überwiegenden Willen der Bevölkerung durchsetzen zu können. Bismarck scheint tatsächlich davon überzeugt gewesen zu sein, dass sein unerbittlicher Wille und der harte Druck so etwas wie eine langfristige Gesinnungsänderung der Betroffenen herbeiführen konnten. Aber da täuschte er sich gewaltig – ja, er erreichte in allem nur das Gegenteil."
    Ureigenes Vertragssystem
    Nonn hebt hervor, dass die europäischen Mächte keineswegs gegen die Reichsgründung eintraten. Ausgenommen Frankreich – und das wurde durch die Wegnahme Elsass-Lothringens zum Erzfeind. Bismarck begriff es viel zu spät. Schon früher muss ihm aufgegangen sein, dass die Kräfte im neuen internationalen System schwer zu beherrschen waren. Der Kanzler versuchte es schließlich mit einem ureigenen Vertragssystem – über das Norbert F. Pötzl in seiner Biografie scharf urteilt:
    "In der geradezu paranoiden Furcht, die anderen europäischen Staaten könnten sich gegen das Reich verbünden, gab Bismarck rundherum Zusagen – teils offen, teils geheim –, die sich wechselseitig wieder aufhoben. Bismarck gefiel sich in der Rolle des Artisten, der mit seinen Partnern wie mit Glaskugeln jonglierte. In Bismarcks Amtszeit musste das Spiel mit den fünf Kugeln seine Solidität nur deshalb nicht beweisen, weil keine der europäischen Mächte ernsthaft einen Krieg riskieren wollte."
    Anders Hans-Christof Kraus. Er zollt Bismarck Respekt. Denn der Kanzler habe sein Bündnissystem auf einen guten Zweck ausgerichtet.
    Auf die Bewahrung des Friedens unter allen Umständen. Deshalb dienten Bismarcks späte Verträge nicht nur Deutschland, sondern auch Europa. Hierin wird man – nach der großen Friedensvermittlung im Rahmen des Berliner Kongresses – ohne Frage die zweite herausragende außenpolitische Leistung Bismarcks in den beiden Jahrzehnten nach der Reichsgründung erkennen können.
    Allerdings hatte schon jener Berliner Kongress 1878 – wie Christoph Nonn betont – sein langfristiges Ziel verpasst: Er brachte keinen echten Frieden auf dem unruhigen Balkan. Im Westen taktierte der Kanzler mit noch weniger Erfolg: Anfangs suchte er die Nähe Englands, weil er um die weltpolitischen Unstimmigkeiten zwischen London und Paris wusste. Dann aber sah er im freiheitlichen England einen Verbündeten der verhassten Liberalen in Deutschland. Um die zu schwächen – so vermutet Christoph Nonn –, wollte er bewusst deutsch-britische Spannungen schaffen. Und das ging am besten, indem er für Deutschland Kolonien erwarb. Die waren eigentlich vollkommen wertlos – und Bismarck wusste das –, aber um sie zu schützen, baute Deutschland eine Schlachtflotte – und damit machte es sich England zum Feind. Im Ganzen liegt der Schluss nahe, dass Bismarcks Außenpolitik eben doch ihre Schwächen hatte. Christoph Nonn.
    Immer mehr Widersprüche
    Schon früher hatten sich die Folgen seines Handelns seiner Kontrolle weithin entzogen. Das war ihm auch sehr wohl bewusst gewesen. Nun aber überblickte er selbst die Voraussetzungen, unter denen er operierte, kaum noch. Im Gegensatz zu manchen seiner Zeitgenossen erkannte er die Folgen der Intensivierung von Wirtschaftsbeziehungen für die Diplomatie offenbar nicht. Seine Außenpolitik verblieb in traditionellen Bahnen. Nicht zuletzt deshalb verhedderte er sich zusehends in Widersprüche – und war am Ende seiner Amtszeit mit dem Versuch gescheitert, die Stellung des Reiches mitten in Europa dauerhaft zu sichern.
    Auch auf seine späte Innenpolitik fällt ein Schatten. Denn zum Ende der Achtzigerjahre hin dachte Bismarck ernsthaft über einen großen Schlag nach, um seine Gegner im Parlament mattzusetzen: einen glatten Verfassungsbruch, für den er aber einen rechtlichen Hebel zu haben glaubte. Norbert F. Pötzl:
    "Nach seiner Auffassung war das Reich kein souveräner Zusammenschluss des deutschen Volkes, sondern eine Union von Fürstenstaaten. Diese könnten – so Bismarcks Vorstellung – die Reichsverfassung aufkündigen, den Reichstag auflösen und durch eine Versammlung anderer Art ersetzen – die willfährig die Politik des Kanzlers unterstützen würde."
    Ein Argument gegen jene Apologeten, die noch heute von der starken Stellung des Parlaments im Kaiserreich und vom fortschrittlichen Wahlrecht schwärmen. Die Bürger an der Politik beteiligen wollte Otto von Bismarck nur solange, wie es den Interessen der Monarchie diente. Die Bilanz seines Wirkens als Machtpolitiker fällt im Detail auch in diesen drei Büchern zwiespältig aus. Während Norbert F. Pötzl kritische Töne anschlägt und Hans-Christof Kraus seinen Protagonisten eher in Schutz nimmt, beschreitet Christoph Nonn einen Mittelweg. Ausgespart haben alle drei Autoren allerdings die Tabu-Frage, ob jene Reichsgründung von 1871 – gleich, wer sie bewerkstelligte – der Stabilität in Europa letztlich gutgetan hat. Der einstige US-Außenminister Henry Kissinger hat diesen Punkt in seinem Bismarck-Porträt 1968 angedeutet: Das fein austarierte System des lockeren Deutschen Bundes von 1815 war eine Stütze des Friedens in Europa gewesen. Aber gerade diesem metternichschen System hatte Otto von Bismarck den Kampf angesagt.
    Hans-Christof Kraus: Bismarck. Größe - Grenzen - Leistungen,
    Verlag Klett-Cotta, 330 Seiten, 19,95 Euro
    ISBN: 978-3-608-94861-5
    Norbert F. Pötzl: Bismarck. Der Wille zur Macht,
    Propyläen Verlag, 304 Seiten, 16,99 Euro
    ISBN: 978-3-549-07451-0
    Christoph Nonn: Bismarck. Ein Preuße und sein Jahrhundert,
    C. H. Beck Verlag, 400 Seiten, 24,95 Euro
    ISBN: 978-3-406-67589-8