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Neue Ruheständler
Baby-Boomer gehen in Rente

Ab 2020 gehen jährlich ungefähr eine Million Menschen in den Ruhestand. Den neuen Lebensabschnitt gestaltet die aktuelle Babyboomer-Generation aber deutlicher fitter, länger und aktiver als die Generation vor ihr.

Von Ingeborg Breuer | 02.07.2020
Großmutter und Enkelin lachen sich an draußen im Garten.
Die heutige Rentnergeneration habe eine längere und aktive Phase des Ruhestands vor sich (www.imago-images.de)
"Ich hab im Januar aufgehört zu arbeiten und dann gedacht, jetzt guck ich mal, was kommt. Und da hab ich mich zu einer ehrenamtlichen Arbeit als Hospizhelferin ausbilden lassen"
Früher war der Eintritt in den Ruhestand nahezu gleichbedeutend mit dem Ausscheiden aus dem gesellschaftlichen Leben. Der Rentner werkelte in Haus oder Garten, versank in seinem Fernsehsessel und entkam allenfalls auf Kaffeefahrten seinem grauen Alltag. Heute dagegen ist von Kompetenzen und Potentialen dieser Gruppe die Rede. Einer Gruppe, die immer größer wird. Denn die Babyboomer stehen an der Schwelle zum Rentenalter. Die Alterung der deutschen Bevölkerung wird sich damit noch einmal beschleunigen.
Die Babyboomer wollen im Ruhestand noch gebraucht werden
"Man kann davon ausgehen, dass ab dem Jahr 2020 ungefähr eine Million Menschen jährlich ins Rentenalter wechseln werden. Wir haben im Moment ein Verhältnis von 37 Personen im Rentenalter zu 100 Personen im erwerbsfähigen Alter. Und das wird sich bis 2050 deutlich zu 50 Personen im Rentenalter zu 100 im erwerbstätigen Alter verschieben. Danach flacht sich das ab, aber das wird auch bis 2060 weiter steigen."
In einer groß angelegten Studie "Transition and old age potential: Übergänge und Alternspotentiale" hat Forschungsgruppenleiter Dr. Andreas Mergenthaler mit seinem Team am Wiesbadener Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung die Lebensumstände der Älteren untersucht. Am vergangenen Donnerstag wurden die Ergebnisse der repräsentativen Studie auf einer Online-Pressekonferenz präsentiert. Von 2013 bis 2019 hatten die Wissenschaftler Menschen der Jahrgänge 1942 bis 1958 dreimal dazu befragt:
"Wie ältere Menschen den Übergang in den Ruhestand gestalten, wie sie ihn erleben, wie sie sich an die Zeit danach anpassen. Das ist die eine Fragestellung. Die andere bezieht sich eher auf die Potentiale, die ältere Menschen haben. Und bei den Potentialen stehen dann in erster Linie die Partizipation in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen im Vordergrund. Das ist zum einen die verlängerte Erwerbstätigkeit, zum anderen verschiedene Formen des Ehrenamts, Formen der Freiwilligenarbeit. Aber auch so informelle Formen wie die Nachbarschaftshilfe, aber auch familiale Sorgearbeiten, also vor allem Pflegetätigkeit und Enkelbetreuung."
Soziologin: Erwartungshaltung an die alten Menschen steigt
Der gesellschaftliche Blick auf das Alter hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert, sagt die Soziologin van Dyk im Dlf. Doch das Armutsrisiko steigt, insbesondere für Frauen.
Ruheständler erfreuen sich guter Gesundheit – mit Einschränkungen
Seitdem die Politik die Möglichkeiten von Vorruhestand und Frühverrentung begrenzte, hat sich das Renteneintrittsalter nach oben verschoben. Nach den Daten der Deutschen Rentenversicherung liegt dieses aktuell durchschnittlich bei 64,1 Jahren für Frauen und bei 64 Jahren für Männer. Bezogen die Rentner und Rentnerinnen im Jahr 1960 durchschnittlich 10 Jahre Altersbezüge, sind es heute über 21 Jahre bei Frauen und 18 Jahre bei Männern. Über die Hälfte dieser Jahre können die Ruheständler noch mit guter gesundheitlicher Verfassung rechnen. Dr. Volker Cihlar, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung:
"Wir haben erfasst die gesundheitsbezogene Lebensqualität, also die subjektive Gesundheit, wenn die Menschen selbst ihre Gesundheit einschätzen. Und die Menschen, die ich mir angeschaut habe, sind 66 – 77 Jahre alt gewesen, das ist ein bestimmter Altersabschnitt, aber noch nicht der, in dem starke chronische Erkrankungen eintreten. D.h. das bleibt relativ stabil, über den Zeitverlauf hinweg, auch auf 'nem relativ hohen Niveau."
Allerdings nehmen die Einschränkungen im Bereich der sogenannten "funktionalen Gesundheit" mit zunehmendem Alter zu. "Wenn man guckt, sind die Menschen in der Lage, die Dinge, die sie tun möchten im Alltag auch zu tun, z.B. Treppen steigen, wenn sie mehrere Absätze steigen müssen, da haben wir schon vor drei Jahren gesehen, je älter die Menschen werden, dass sie stärkere Einschränkungen haben Die jüngere Gruppe, etwa ungefähr 15 Prozent sagen, das fällt mir sehr schwer, ich bin stark eingeschränkt und bei den Ältesten sind es über 30 Prozent."
Solche gesundheitlichen Einschränkungen sind allerdings abhängig von der Lebensführung wie auch dem Bildungsgrad der Befragten: "Je höher der Bildungsgrad ist, desto eher ist über den ganzen Lebensverlauf der Lebenstil ein gesünderer. Das geht über den Bereich der Ernährung, der körperlichen Aktivität, aber auch zur Nutzung von präventiven Angeboten. Da sehen wir auch, dass die niedrigste Bildungsgruppe die höchsten Einschränkungen in der funktionalen Gesundheit hat."
Zunahme von Erwerbstätigkeit im Ruhestand
Zweifellos freuen sich viele im Ruhestand auf mehr Freizeit, eine selbstbestimmte Tagesgestaltung oder mehr Zeit mit Partner oder Partnerin.
"Das war schon ne schöne Sache, dieses Loswerden von dem Zwang der Arbeit", erinnert sich auch Bernhard M., Psychologe an einer Beratungsstelle für Schulabgänger, der mit 62 wegen einer Schwerbehinderung in den Ruhestand ging. Er genoss die neue Freiheit, plante den ganzen Garten neu, legte Gemüsehochbeete an. Bis er allmählich merkte, dass auch die Gartenarbeit zur Routine wurde und damit ihren Reiz verlor. Er half bei der Betreuung der Enkelkinder mit. Und dann suchte er sich einige ziemlich anspruchsvolle Nebenjobs:
"Für meinen früheren Arbeitgeber programmiere ich Datenbanken, ziemlich umfangreich, ich betreue Websites und hab vor eineinhalb Jahren eine große Übersetzung aus dem Persischen angefangen und inzwischen beendet. Und wenn die Anforderungen nicht wären, dann könnt ich mir schon vorstellen, dass ich dann den ganzen Tag vor dem Fernseher hinge oder so was."
Eine Rentnerin hält ihren Rentenbescheid in der Hand.
Arbeitswissenschaftler: Babyboomer wollen früher in Rente
90 Prozent der zwischen 1955 und 1969 Geborenen wollen nicht das gesetzlich vorgegebene Rentenalter abwarten. Dabei arbeiteten die sogenannten Babyboomer gerne, sagte der Arbeitsforscher Hans Martin Hasselhorn im Dlf.
Seit gut 20 Jahren verzeichnen Wissenschaftler, dass die Zahl derer, die über das Rentenalter hinaus einer Erwerbstätigkeit nachgehen, steigt. Die Beschäftigungsquote im Rentenalter betrug in Deutschland im Jahr 2018 bei den Männern zehn Prozent und bei den Frauen fünf Prozent.
"Im Bereich Erwerbstätigkeit ist in Deutschland ein ganz großer Anstieg zu beobachten, wenn man sich die Altersgruppe 65+ anschaut, dass doch ein regelrecht neuer Arbeitsmarkt entstanden ist seit ungefähr 20 Jahren. Das ist bei Männern ausgeprägter als bei Frauen. Männer sind häufiger tätig als Frauen. Wir beobachten da sehr viel Teilzeitarbeit. Wir haben in unserer Studie ungefähr einen Schnitt von 15 – 13 Wochenstunden, in dem die Menschen da noch erwerbstätig sind."
Aber was motiviert Menschen über das Rentenalter hinaus zu arbeiten? Ein wichtiger Grund ist natürlich, etwas – zu den manchmal mageren – Renten hinzuzuverdienen, vorzubeugen gegen Altersarmut. Aber nicht nur.
"Das sind zum Teil finanzielle Anreize. Aber häufiger werden tatsächlich individuelle Motive genannt, also Freude an der Arbeit, Kontakt zu anderen Menschen, noch eine Herausforderung zu haben. Wir beobachten auch so etwas wie Generativität, also die Weitergabe von Erfahrung an jüngere Menschen als ein Motiv, das auch im Altersverlauf häufiger genannt wird."
Trend zum Ehrenamt – nicht in allen sozialen Schichten
Aber auch jene, die keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgehen, ziehen sich immer seltener aus dem sozialen Leben zurück. Die jungen Alten heute sind aktiver und engagierter als in früheren Jahren, stellten die Wiesbadener Wissenschaftler fest. Traditionell gehört die Betreuung von Enkelkindern und die Pflege kranker Angehöriger zu den Sorgearbeiten älterer Menschen. Doch eine zunehmend wichtige Rolle spielt auch das freiwillige Engagement im öffentlichen Bereich – in einem Verein, einer Initiative oder im Rahmen von Nachbarschaftshilfe.
"Für die letzten drei Jahrzehnte können wir einen positiven Trend feststellen, ein Beispiel auf der Grundlage der Daten des SOEP sind die Engagementquoten in der Gesamtbevölkerung zwischen 1990 und 2017 von rund 27 Prozent auf 32 Prozent gestiegen. Gerade bei Rentnern hat es da starke Zuwächse gegeben", erläutert Frank Micheel, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden. Warum?
"Die Gründe dieses positiven Trends sind die beiden zentralen Faktoren Gesundheit und Bildung. Hier kann man erfreulicherweise feststellen, dass sowohl die Gesundheits- als auch die Bildungsverläufe bei den älteren Menschen heute günstiger sind als vor 20 oder 30 Jahren. Nicht zuletzt können wir auch einen normativen Wandel in der Gesellschaft erkennen. Es geht vor allem um die Einstellung zum Aktivsein, zum Produktivsein im Alter, auch hier hat es deutlich positive Entwicklungen gegeben."
Allerdings verteilt sich auch das bürgerschaftliche Engagement nicht gleichmäßig über alle Ruhestandsgruppen: "Es sind eher Männer als Frauen und eher Jüngere als Ältere engagiert. Überwiegend sind die Personen in sehr guter Gesundheit, sie weisen einen hohen Bildungsgrad auf, überwiegend sind es Westdeutsche, die engagiert sind. Des Weiteren zeigt sich, dass Ehrenamtliche auch sozial sehr gut eingebunden sind."
Renteneintritt genau planen
"Die Umstellung war schon riesengroß", sagt Gisela V., Hausfrau, über die erste Zeit, als ihr Mann Karl-Heinz in Rente war. "Ich war zwar froh, dass er da war, aber der ganze Tagesablauf … Karl-Heinz konnte das nicht so nachvollziehen, wie ich das organisiere, aber ich mach das schon Jahre so und da hab ich mich nicht von abbringen lassen."
"Es gibt natürlich dieses Bild, dieses Papa-Ante-Portas-Thema", der Klassiker sozusagen, wie Dr. Laura Konzelmann vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung erläutert: "dass der Mann nach vielen Jahren der Erwerbstätigkeit nach Hause kommt und in Bereiche der Frau vordringt, in denen er vorher nicht unterwegs war. Das hängt von der Erwerbskonstellation ab, die vorher bestand. Wenn die Frau vorher viele Jahre schon zu Hause war und er kommt dann in den Ruhestand hinzu, ist das eine andere Situation, als wenn beide gearbeitet haben und einer dann in den Ruhestand geht."
Mittlerweile hat aber die Zahl der Zweiverdienerpaare beträchtlich zugenommen. Immer mehr Männer wie auch Frauen sind bis zur Rente erwerbstätig. Und so stellt sich zunehmend die auch sozialpolitisch relevante Frage, ob und wie Paare gemeinschaftlich ihre Ruhestandsübergänge planen und gestalten.
Allerdings, so Laura Konzelmann, ist der Partner im Durchschnitt 3,5 Jahre älter als die Partnerin: "Paare mit einem sehr großen Altersabstand werden es gewöhnlich nicht hinkriegen, das gemeinsam zu gestalten, wo hingegen Paare mit 'nem geringen Abstand gar nicht so groß planen müssen, solange beide das reguläre Eintrittsalter haben und beide auch arbeiten wollen und können. Und für Paare mit einem moderaten Altersabstand gibt es die Möglichkeit sich aufeinander zuzubewegen, dass z.B. der jüngere Partner, das ist häufig die Frau, etwas früher aus dem Erwerbsleben aussteigt oder der ältere bleibt oder eine Kombination aus beidem."
Aber wie wichtig ist Paaren überhaupt der gemeinsame Einstieg in den Ruhestand? "Für ein Drittel der Paare ist es für beide Seiten wichtig, das zusammen zu gestalten und bei 'nem weiteren Drittel ist es nur bei einem wichtig und beim letzten ist es für keinen der beiden wichtig. Selbst bei Paaren mit 'nem relativ großen Altersabstand findet man, dass das beide wichtig finden, dass sie das diskutieren und dass es durchaus auch Möglichkeiten für diese Paare gibt, das umzusetzen."
Mit dem Ruhestand fängt nicht das Alter an
Immer weniger, so ein Fazit der Wiesbadener Studie, fällt der Eintritt in den Ruhestand mit der Lebensphase "Alter" zusammen. Vielmehr verlängert sich oft das mittlere Lebensalter in die frühe Phase des Ruhestands hinein, indem sozusagen 'produktive' Rollen aus früheren Lebensabschnitten fortbestehen.
"Wir sprechen von einer hybriden Lebensphase. Vor allem bei den Personen, die noch weiterhin erwerbstätig sind, die noch weiterhin aktiv sind, auch in der Zivilgesellschaft teilnehmen. Wir denken, dass sich der Eintritt in den Ruhestand nicht mehr wirklich mit der Altersphase - das ist es in den meisten Fällen nicht, dazu haben die Leute noch zu viele Potentiale, sind noch zu fit."
Aber ist das Bild des fitten, aktiven, ja 'produktiven'Alten nicht auch trügerisch? Werden da nicht jene stigmatisiert, die statt auf die Potentiale auf die Grenzen des Alters stoßen? Und drohen nicht die gerühmten "Potentiale" von Ruheständlern gerade angesichts der demografischen Alterung der Gesellschaft schnell zu der Forderung zu führen, dass die langlebigen, aktiven Silver Ager sich doch bitte noch gesellschaftlich nützlich machen sollten, statt unproduktiv ihre Dauerfreizeit zu genießen?
"Es gibt eine große Ambivalenz im Begriff der Potentiale. Also einerseits ist es erfreulich, dass Menschen länger leben, sich der Gesundheit erfreuen und an der Gesellschaft partizipieren können. Andererseits ist es genau dieser Aspekt, dieses Normative, eine gesellschaftliche Erwartung, die Älteren sind fit und jetzt sollen sie sich einbringen. Das sehen wir nicht so, diesen normativen Aspekt. Wir versuchen eher die Wege aufzuzeigen, wie Ältere selbstbestimmte Ruhestandsphase verbringen können, von im Sinne, es gibt dort noch ein Potential im Sinne einer noch nicht wirklich genutzten Möglichkeit des Sicheinbringens. Und wenn Menschen wollen und dies ihren Lebenszielen entspricht, dann sind auch Barrieren abzubauen, um es Älteren auch zu ermöglichen, das zu tun. Und das ist eher unsere Perspektive darauf."