Freitag, 19. April 2024

Archiv

Neuere und Neueste Geschichte
Das Ruhrgebiet - seit 200 Jahren permanent im Wandel

Das Ruhrgebiet mit fünf Millionen Einwohnern ist Schmelztiegel der Kulturen, Weltmeister in Sachen Integration. Beispielhaft steht dafür die Eingliederung der einstigen Ruhrpolen und der einstigen Gastarbeiter. Der Ballungsraum lebt seit Jahrhunderten den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel. Aber der "Ruhrpott" ist auch eine Region zwischen Depression und Hoffnung.

Von Alfried Schmitz | 16.06.2016
    Panorama der Innenstadt von Essen, Skyline vor Abendhimmel, vorne Kühlturmgerüste der Kokerei Zollverein
    Panorama der Innenstadt von Essen, Skyline vor Abendhimmel, vorne Kühlturmgerüste der Kokerei Zollverein (imago/Jochen Tack)
    "Es ist schon eine faszinierende Region, weil sie durch die Schwerindustrie, durch den Bergbau in ganz spezifischer Weise geprägt ist. Und auch eine Region, die seit 150, 200 Jahren einen ständigen Wandel durchlebt. Und das macht sie sehr, sehr faszinierend. Auch für Wissenschaftler."
    Privatdozent Dr. Christoph Seidel beschäftigt sich seit vielen Jahren wissenschaftlich mit dem Ruhrgebiet. Der Historiker hat sein Büro im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets, das von einer Stiftung betrieben wird, die durch einen Kooperationsvertrag eng mit der benachbarten Ruhruniversität verbunden ist. In dem alten Klinkerbau in der Bochumer Clemensstraße sind das Institut für soziale Bewegungen, die Bibliothek des Ruhrgebiets und das Archiv für soziale Bewegungen untergebracht. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der Erforschung der deutschen und europäischen Arbeiterbewegung, dem Entstehen von Gewerkschaften zum Beispiel.
    Erste Zuwanderungswelle 1830er-Jahre
    "Dieses Haus versteht sich so ein bisschen als Gedächtnis und als Ort der Geschichtskultur des Ruhrgebiets. Darüber hinaus werden hier an der Stiftung auch eigene Forschungsprojekte zur Geschichte des Ruhrgebiets und zur Geschichte des Bergbaus betrieben."
    Mit dem Bergbau, der die Region so nachhaltig prägte, wurde schon vor rund 500 Jahren begonnen. Die Steinkohleförderung im ganz großen Stil entwickelte sich mit Beginn der Industrialisierung Anfang des 19. Jahrhunderts. Schon in den 1830er-Jahren mangelte es an Arbeitskräften. Eine erste Zuwanderungswelle setzte ein. Vor allem aus dem Mindener Raum und aus dem nordhessischen Waldeck kamen viele Arbeiter und besiedelten die bis dahin unbewohnten Flächen rund um die Kohleminen. Der Wirtschaftsboom hielt jahrzehntelang an und sorgte für einen enormen Bevölkerungszuwachs in der westlichen Kohleregion, die damals übrigens noch nicht pauschal als Ruhrgebiet bezeichnet wurde. "Man spricht auch schon im 19. Jahrhundert vom Ruhrgebiet, damit meint man aber wirklich nur das Tal der Ruhr, das Ruhrtal."
    Um der riesigen und vielfältigen Industrielandschaft einen Namen zu geben, behalf man sich lange Zeit mit technokratischen Kunstbegriffen, wie Historiker Christoph Seidel sagt. "Rheinisch-westfälisches Industriegebiet oder auch Ruhrkohlenbezirk ist eine gebräuchliche Bezeichnung für die Region. Seit den 1920er-Jahren bürgert sich dann stärker der Begriff Ruhrgebiet ein."
    Sogenannte Polenzechen entstehen
    Das riesige Gebiet mit seinem unerschöpflichen Steinkohlevorkommen war für das Deutsche Reich von größter ökonomischer Bedeutung. Besonders als die Wirtschaft nach einer großen Flaute, der sogenannten Gründerkrise von 1873, wieder in Fahrt kam. Im Zuge der einsetzenden Wirtschaftskonjunktur wurden viele Arbeitskräfte in den Zechen benötigt. Die meisten Bergleute kamen mit ihren Familien aus den preußischen Ostprovinzen, wo überwiegend polnisch gesprochen wurde.
    "Die Siedlungsschwerpunkte für diese polnischsprachigen Zuwanderer haben vor allen Dingen im nördlichen Ruhrgebiet gelegen, in der Emscher-Zone. Dort entstehen riesige Zechen, Großzechen, riesige Betriebe für die damalige Zeit, mit zwei- bis dreitausend Arbeitskräften, sogenannte Polenzechen mit einer überwiegend polnischen Belegschaft."
    Fördertürme im Ruhrgebiet - die stummen Zeugen einer vergangenen Epoche: Der steinerne über 30 Meter hohe Malakoff - Förderturm des Steinkohle - Bergwerks "Zeche Prosper II in Bottrop (Nordrhein-Westfalen). Der unter Denkmalschutz stehende Förderturm aus dem Jahr 1873 wurde in den letzten Jahren aufwendig saniert und wird kulturell genutzt.
    Förderturm in Bottrop - stummer Zeuge einer vergangenen Epoche. (picture alliance / dpa / Horst Ossinger)
    Vor allem in Bottrop und Herne lag der Anteil der polnischsprachigen Arbeiter in den Zechen bei mehr als 60 Prozent. War es um 1830 bei der ersten Zuwanderungswelle aus deutschsprachigen, protestantisch geprägten Gebieten zu keinen großen Eingliederungsschwierigkeiten gekommen, waren es nun katholische Zuwanderer aus einem fremden Sprach- und Kulturraum. Bis 1914 waren fast eine halbe Million Menschen aus den preußischen Ostprovinzen an die Ruhr gekommen. Sie zu integrieren war aussichtslos, vielleicht gar nicht beabsichtigt und auch oft von den Neuankömmlingen gar nicht gewünscht. "In der Tat ist es so, dass es relativ abgeschlossene polnische Kolonien gegeben hat mit relativ wenig Kontakt zur Außenwelt und das war natürlich ein Integrationshemmnis."
    Viele Polen kehren in ihre Heimat zurück
    In diesen Kolonien wohnten die Zuwanderer aus dem Osten nicht nur in einem Familienverband, sondern sie lebten auch oft Tür an Tür mit den Menschen, die schon in der Heimat ihre Nachbarn gewesen waren. Sie betrieben Kleinviehhaltung, Obst- und Gemüseanbau. Es bildete sich eine autarke und autonome polnischsprachige Parallelgesellschaft. Eine der wenigen Möglichkeiten aus diesem in sich geschlossenen Mikro-Kosmos heraus Kontakte nach außen zu knüpfen, bot sich durch die Religionszugehörigkeit der polnisch-sprachigen Zuwanderer. Die im Ruhrgebiet existierenden katholischen Kirchengemeinden boten den ebenfalls katholischen Zuwanderern die Möglichkeit, "sich auch als Gruppe innerhalb dieser katholischen Kirchengemeinden zu integrieren. Aber im Zuge der antipolnischen preußischen Repressionspolitik sind solche Ansätze verschüttet worden. Der Einsatz der polnischen Sprache im Gottesdienst, die Möglichkeit, polnische Predigten zu hören, auf Polnisch die Beichte abzulegen, das war ein Konfliktstoff, der sich im ausgehenden 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert im Ruhrgebiet gebildet hat", sagt Christoph Seidel. Nach dem Ersten Weltkrieg verlassen zigtausende polnischsprachige Menschen das Ruhrgebiet und entscheiden sich für ein Leben im neugegründeten polnischen Nationalstaat. Nur etwa ein Drittel bleibt. Für diese stark reduzierte, geografisch nicht mehr konzentrierte, sondern auseinandergerissene Minderheit, beginnt ein sozialer Integrations- und Assimilationsprozess. Die sogenannten Ruhrpolen werden zum Bestandteil einer neuen Ruhrgebietsgesellschaft, die auch in den Folgejahren stark durch Zuwanderung geprägt wird. In den letzten Kriegsjahren und nach dem Zweiten Weltkrieg sind es die Flüchtlinge und Heimatvertriebenen. Ab 1955 kommen infolge der Anwerbeabkommen Gastarbeiter aus Italien, Spanien oder Griechenland.
    Anwerbeabkommen mit der Türkei
    1961 schließt die Bundesrepublik auch mit der Türkei ein Anwerbeabkommen. Bis 1973 bewerben sich daraufhin zweieinhalb Millionen Türken um eine Arbeitserlaubnis. Ein Viertel von ihnen darf schließlich für eine begrenzte Dauer einreisen. Im Ruhrbergbau sind es meist Arbeiter, die für ein oder zwei Jahre ins Ruhrgebiet gekommen sind und dort in den Ledigenheimen der Zechen gewohnt haben, also auf dem Zechengelände. Das hat sich in den 1970er-Jahren und vor allem mit dem Anwerbestopp der Bundesregierung geändert. Danach hat sich die Verweildauer deutlich verlängert. Und das Thema der Integration ist dann aufgekommen."
    Abendlicher Blick über die Stadt Gelsenkirchen. 
    Ein Blick über die Stadt Gelsenkirchen. (Imago / Jochen Tack )
    Eine Institution, die Ende der 1940er im Ruhrgebiet eigentlich für die Eingliederung der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge gegründet worden war, wird nun zum wichtigen Instrument für die Eingliederung der vielen türkischen Arbeiter und ihrer Familien. "Die Revierarbeitsgemeinschaft für kulturelle Bergmannsbetreuung, abgekürzt REVAG, die damals gegründet worden ist unter Beteiligung der Volkshochschulen, unter Beteiligung des Landes NRW, unter Beteiligung der Arbeitgeberseite und der Arbeitnehmerseite des Bergbaus. Und diese Organisation stand noch zur Verfügung Anfang der 1970er-Jahre, hatte aber faktisch keine Aufgabe mehr, weil es keine Heimatvertriebenen und Flüchtlinge mehr gab, beziehungsweise die dann längst integriert waren. Das war eine Organisation, die gewisse Erfahrungen auf dem Gebiet hatte und die sich dann, ganz zentral und fokussiert, mit den türkischen Bergarbeiterfamilien im Ruhrbergbau beschäftigt hat und weitblickende Integrationspolitik betrieben hat."
    Werkswohnungen für Integration genutzt
    Vor allem wollte man es vermeiden, dass es zu einer Gettoisierung der Zuwanderer kam. Ein großer Vorteil war, dass der Ruhrbergbau über ein riesiges Kontingent an Werkswohnungen verfügte. Bei der Vergabe dieser Wohnungen achtete man auf eine gesunde Durchmischung von türkischen und deutschen Mietern. Diese einzigartige Wohnungspolitik war überaus erfolgreich und wurde zu einer wichtigen Voraussetzung für die Integration.
    In einem zweiten Schritt ging die REVAG davon aus, und mit dieser Annahme sollten die Verantwortlichen auch recht behalten, dass die türkischen Männer durch ihr Arbeitsumfeld genügend Kontakte zu ihren deutschen Kumpel knüpfen würden und "dass sozusagen die besondere Solidargemeinschaft, vor allen Dingen der Untertage-Belegschaft, in der man sich aufeinander verlassen muss, angesichts der gefahrenvollen Arbeitsumwelt, in einem besonderen Maße die betriebliche Integration der türkischen Beschäftigten gefördert hat."
    Daher waren es vor allem die Kinder und Frauen der türkischen Bergleute, um die sich die REVAG mit damals zeitgemäßen Maßnahmen kümmerte. "Hausaufgabenhilfen. Also man hat versucht, die schulischen Probleme bei den Kindern anzugehen. Bei den türkischen Bergarbeiterfrauen waren es zentral Sprachkurse, aber es hat auch zahlreiche Handarbeitskurse gegeben, es hat auch Ausflugsprogramme speziell für türkische Frauen gegeben und die Königsdisziplin war es, wenn man einen Schwimmkurs für türkische Frauen oder türkische Mädchen zusammenbekommen hat." Dieses vom Ruhrbergbau betriebene Konzept galt in den 1970er-Jahren deutschlandweit als Vorzeigemodell für gelungene Integrationsarbeit.
    Fünf Millionen Menschen aus vielen Kulturkreisen
    Der Filmemacher und Regisseur Adolf Winkelmann, Jahrgang 1946, wuchs im Ruhrgebiet auf. Er war vierzig Jahre lang an der Fachhochschule Dortmund Professor für Film-Design, drehte zahlreiche Kinofilme über das Revier und seine Menschen. Auch er glaubt an die besondere Integrationskraft des Ruhrgebiets, einem Ballungsraum, wo heute fünf Millionen Menschen leben, die aus vielen verschiedenen Ländern, Regionen und Kulturkreisen zugewandert sind. "Anscheinend sind wir Weltmeister in Integration, denn diese fünf Millionen Menschen fühlen sich nicht als Zugereiste, sondern fühlen sich als Ruhries."
    Wie der Historiker Christoph Seidel sieht auch Adolf Winkelmann einen Grund für diese außergewöhnliche Ruhrgebiets-Assimilation in der speziellen Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Reviers. Dadurch ist nicht nur eine ganz besondere Gesellschaftsstruktur entstanden, sondern wegen der speziellen Arbeitssituation im Bergwerksstollen und am Hochofen auch eine eigene Sprache. "Die so eine trockene, kurze Signalsprache ist. Natürlich ausgehend vom Westfälischen. Da ist viel Westfälisches drin, aber auch ganz viele Einflüsse aus Polen, aus Weißrussland, aus der Türkei. Wir haben diese Sprache geformt und haben jetzt, ich würde fast sagen, das modernste Idiom der deutschen Sprache. Vergleichbar mit dem Englischen. Weniger Fälle, also so ein Dativ oder Genitiv sind nicht so angesagt bei uns. Auch Präpositionen muss man nicht unbedingt verwenden und muss man auch nicht so differenziert verwenden wie im richtigen Hochdeutsch."
    Das Revier wird zum Bildungsstandort
    Viele Künstlerinnen und Künstler aus dem Musik- und Kabarett-Bereich nutzen die Revier-Sprache für ihre Lieder und für ihre Bühnenprogramme. Sie sind die Protagonisten einer neuen Revier-Kultur und Wegbereiter für ein neues Ruhrgebiets-Image, das über hundert Jahre lang allein von der wirtschaftlichen Bedeutung der Region bestimmt war. "Und erst als dieses Merkmal verloren gegangen ist, ist das Ruhrgebiet stärker zur Identitätsregion geworden, mit der sich die Menschen, die hier leben, positiv identifizieren, indem man sich als Bürger des Ruhrgebiets oder als Ruhrgebietler positiv versteht. Das ist eine jüngere Entwicklung, die auch mit dem Sozialwandel in der Strukturkrise zu tun hat", sagt Dr. Seidel. Die Fördertürme der Schachtanlagen und die riesigen rauchenden Schlote der Kokereien und Stahlhütten hatten jahrzehntelang das optische Erscheinungsbild und das Image des Ruhrgebiets geprägt. Als die Zechen schlossen und es zu Massenentlassungen kam, musste sich das Ruhrgebiet neu erfinden. Durch die Gründung und den Bau von Hochschulen wurde das Revier zum Bildungsstandort, was einen gesellschaftlichen Wandel einleitete, wie der Ruhrgebiets-Historiker sagt. "Das hat sicherlich auch dazu beigetragen, dass es eine positive Identifikation mit dem Ruhrgebiet zunehmend gibt, denn Träger einer solchen Identität sind ja häufig eher die bürgerlichen Mittelschichten, die im schwer-industriellen Ruhrgebiet sehr stark unterrepräsentiert waren."
    Eine Luftaufnahme über den Campus der Ruhr-Universität Bochum (Nordrhein-Westfalen)
    Eine Luftaufnahme über den Campus der Ruhr-Universität Bochum (Nordrhein-Westfalen) (imago/blickwinkel)
    Der Dortmunder Regisseur Adolf Winkelmann, der nicht nur durch seinen Fernsehzweiteiler über den Contergan-Skandal, sondern vor allem auch durch seine Ruhrgebietsfilme "Jede Menge Kohle", "Die Abfahrer", "Nordkurve" oder sein neues Revierepos "Junges Licht" bekannt wurde, ist ein bekennender Ruhrgebietler, der zu seiner Heimatregion steht. "Ich lebe und arbeite hier, weil ich finde, dass das Ruhrgebiet die aufregendste und interessanteste Region der Republik ist."
    Universitäten werden gegründet
    Als langjähriger Professor für Film-Design an der Fachhochschule Dortmund, weiß Winkelmann wie wichtig die Entscheidung der Politik war, der Strukturkrise im Revier schon frühzeitig durch den Bau von Bildungsstandorten zu begegnen und damit den Strukturwandel einzuleiten. "Die Ruhruniversität oder die Hochschulen in Dortmund. Fast zehn Prozent der Dortmunder Bevölkerung sind Studenten. 50.000 Studenten. Das heißt, im Ruhrgebiet ist eine sehr kreative Atmosphäre. Nicht nur kreativ im künstlerischen Sinne, sondern auch im technischen Sinne und deshalb merkt man inzwischen einen Aufbruch."
    1962 war die Ruhruniversität Bochum, 1971 die Fachhochschule Dortmund eröffnet worden. Spätere Neugründungen von Fachhochschulen im Ruhrgebiet fielen in die Amtszeit von Jürgen Rüttgers, der von 2005 bis 2010 NRW-Ministerpräsident war und der heute unter anderem als Lehrbeauftragter am Institut für politische Wissenschaft und Soziologie an der Universität Bonn arbeitet. Auch Rüttgers beobachtet interessiert die gesellschaftliche Entwicklung im Revier. "Dass man sagt, auch im Ruhrgebiet gibt es die Chance, mit den jungen Menschen, die im Ruhrgebiet studieren, eine Start-up-Szene aufzubauen und ihnen zu zeigen, dass es sich lohnt, im Ruhrgebiet zu bleiben, nicht nur vom Job her, sondern auch von den Wohnmöglichkeiten, den Sportmöglichkeiten, den Kulturmöglichkeiten, dann hat das etwas mit dieser Entwicklung zu tun."
    Ruhrgebiet wird europäische Kulturhauptstadt
    2010 wurde zu einem wichtigen Jahr für das Ruhrgebiet. Der Ballungsraum mit seinen fünf Millionen Menschen wurde europäische Kulturhauptstadt. Eine der spektakulärsten und symbolträchtigsten Veranstaltungen fand am 18. Juli 2010 auf dem Ruhrschnellweg statt, der das Ruhrgebiet von Duisburg bis Dortmund durchschneidet. Dafür wurde die Fahrbahn für den Autoverkehr gesperrt und zu einer Bühne für Alltagskultur. Auf einer Länge von 60 Kilometern fanden verschiedene Programme von Gruppen, Vereinen, Familien, Nachbarschaftsgemeinschaften oder Institutionen aus der Ruhr-Region statt. Ein Multikulti-Festival zu dem drei Millionen Besucher kamen.
    "Da hat sich gezeigt, dass es eine Ruhrgebietsgesellschaft gibt, die man aktivieren kann, die auch bereit ist, solidarisch einzustehen füreinander." Erinnert sich der damalige NRW-Ministerpräsident Dr. Jürgen Rüttgers an das außergewöhnliche Kulturereignis.
    Ein Mann geht in Bochum über eine blau beleuchtete Basaltlavaplatte mit Namen von Europäern. Mit fünf Jahren Verspätung wird das letzte Projekt der Kulturhauptstadt 2010 im Ruhrgebiet fertiggestellt: der "Platz des europäischen Versprechens".
    Mit fünf Jahren Verspätung wird das letzte Projekt der Kulturhauptstadt 2010 im Ruhrgebiet fertiggestellt: der "Platz des europäischen Versprechens". (picture alliance / dpa / Marcel Kusch)
    Filmemacher Adolf Winkelmann ließ sich für RUHR.2010 etwas ganz Besonderes einfallen. In seiner Heimatstadt Dortmund nutzte er die Spitze des Turms der ehemaligen Dortmunder Union Brauerei für außergewöhnliche Videoinstallationen. Seine Idee dabei war es: "Ein sichtbares Zeichen herzustellen für die Stadt, für das ganze Ruhrgebiet, das von weither, von allen Seiten zu sehen ist. Und als ich das dann hatte, habe ich gemerkt, dass sehr viel zurückkommt von den Menschen, die das sehen, die das lieben, die sagen, jetzt haben wir auch unseren Eiffelturm. Ich habe sehr viel Reaktion gemerkt und gedacht, man müsste es auch verwenden können, als ein Instrument zum Dialog mit der Stadtgesellschaft."
    Das Ruhrgebiet steckt voller unkonventioneller Ideen
    Von der Möglichkeit, den Turm auch als Kommunikationsinstrument zu nutzten, machte Adolf Winkelmann Gebrauch, als wieder einmal rechtsradikale Gruppen Versammlungen und Umzüge durch Dortmund angekündigt hatten. "Und dann habe ich, als diese Demonstration war, um den Turm eine riesige Laufschrift laufen lassen, wo stand: "Ich der Turm, fand schon damals Nazis voll uncool". Weil ich dachte, dieses Gebäude hat das alles erlebt. 1927 gebaut. Und da habe ich zum ersten Mal gemerkt, wie toll das ist, dass dann Reaktionen kamen, von den Menschen, die das sahen und die sich darüber freuten, dass der Turm jetzt etwas zu ihnen sagt. Und so ist es gekommen, dass ich inzwischen zu unterschiedlichen Anlässen versuche, das auch als Kommunikationsinstrument zu benutzen."
    Das Ruhrgebiet der Gegenwart ist bunt, vielseitig und steckt voller unkonventioneller künstlerischer Ideen. Zudem könnte die junge Wissenschafts- und Unternehmerszene für frischen Wind in Forschung, Technologie und Wirtschaft sorgen. Dennoch gibt es im Ruhrgebiet erhebliche Probleme, wie die Ruhruniversität Bochum in einem groß angelegten Forschungsprojekt herausgefunden hat. Trotz der gut ausgebauten Hochschullandschaft liegt der Anteil der hoch qualifiziert Beschäftigten unter dem Bundesdurchschnitt. Insgesamt, so sagt die Studie, sei die Arbeitsplatzentwicklung rückläufig, die Arbeitslosigkeit überproportional hoch und die finanziellen Möglichkeiten der Kommunen auffallend gering. Auch die Überalterung der Gesellschaft verlaufe im Ruhrgebiet dramatischer als anderswo.
    Es ist Stärke einer Region, wenn sie weltoffen ist
    Eine Chance für das Ruhrgebiet sieht Jürgen Rüttgers dennoch und zwar in einer alten Revier-Tradition. "Integration ist immer ein Ruhrgebietsthema gewesen und wird auch auf absehbare Zeit ein Thema bleiben. Man muss nur an die Flüchtlinge denken, die zu uns kommen. Da könnte das Ruhrgebiet beweisen, dass es weltoffen ist und dass es in der Lage ist, auch unterschiedliche Kulturen zu integrieren. Zu zeigen, dass, was wir Willkommenskultur genannt haben, im Ruhrgebiet eigentlich nichts Neues ist, sonders etwas ist, das seit zweihundert Jahren immer wieder gelebt worden ist. Und wenn man es rein ökonomisch betrachtet, ist das die Stärke einer Region, wenn sie weltoffen ist. Da könnte das Ruhrgebiet zum Vorbild für Deutschland werden."