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Norwegens Deutschenkinder
Die späte Entschuldigung

Sie wurden "Deutschenflittchen" genannt und nach dem Krieg geächtet, weil sie sich mit Wehrmachtssoldaten eingelassen hatten. Siebzig Jahre später hat sich die norwegische Regierung bei den Müttern entschuldigt. Für die Kinder ist das eine späte Einsicht.

Von Gunnar Köhne | 27.05.2019
Norwegische Frauen, die während des Zweiten Weltkriegs Kinder von deutschen Besatzern bekommen haben, aufgenommen 1946 bei ihre Ausreise nach Deutschland. Sie wurden als "Deutschenflittchen" ("Tyskertøs") und Verräterinnen beschimpft, ihr Nachwuchs als "Deutschenkinder" ("Tyskerbarn") bezeichnet. Viele der Kinder wurden im Rahmen des arischen Lebensborn-Programms der Nazis gezeugt.
Norwegische Mütter mit ihren Kindern, die sie von deutschen Besatzern bekommen haben (NTB scanpix)
Die düstere Atmosphäre passt zur Ausstellung. Das norwegische Widerstandsmuseum befindet sich in einem Teil der Katakomben von Akershus, der Stadtfestung von Oslo. Hier wird erzählt, wie die norwegische Exilregierung in London den Widerstand gegen die deutschen Besatzer aufrechterhielt. Dazu gehörten Sabotageaktionen genauso wie der Boykott von NS-Sportveranstaltungen.
Quisling – der Inbegriff des Verrats
Zu sehen sind Fotos, Ton- und Filmaufnahmen, Dokumente, Plakate und sogar kleine Modellbaulandschaften, in denen Kämpfe mit den deutschen Besatzern und Überfälle von Widerstandsgruppen nachgebildet werden. Immer wieder taucht Vidkun Quisling auf, der Chef der winzigen norwegischen Nazi-Partei Nasjonal Samling, der sich von Hitler zum Ministerpräsidenten Norwegens ernennen ließ. Quisling ist in Norwegen bis heute der Inbegriff des Verrats.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Vergangenheitsbewältigung - "Deutschenkinder" in Norwegen.
Vor dem Museum treffe ich einen alten Herrn, der mit seinen beiden erwachsenen Enkeln das Museum besucht hat. Er habe die Zeit der deutschen Besatzung als Kind miterlebt, sagt er, die Erinnerung an die Opfer müsse aufrechterhalten werden. Genauso wie die Erinnerung an die Kollaborateure, die "Quislinge", wie sie in Norwegen genannt werden. Zu den Verrätern aber, findet die Enkelin, sollten jene Frauen, die mit Wehrmachtssoldaten zusammen waren, die sogenannten Deutschenmädchen - nicht gezählt werden:
"Die waren doch unschuldig. Man kann doch nicht wissen, in wem man sich verliebt."
Klar, sagt der Großvater:
"Aber es wäre auch nicht so schwierig gewesen, sich von den Deutschen fernzuhalten. Da waren sicher auch manche unter denen, die sich bewusst eingelassen hatten und sich etwas davon versprochen hatten für den Fall, dass die Deutschen den Krieg gewinnen."
Das Widerstandsmuseum in Oslo
Das Widerstandsmuseum in Oslo (Deutschlandradio / Gunnar Köhne)
Helle Aarnes ist Journalistin der Tageszeitung "Aftenposten". Sie hat eines von mittlerweile mehreren Büchern über die "Tyskejenter" geschrieben und kennt die hartnäckigen Vorurteile gegen die Deutschenmädchen. Durch "horizontale Kollaboration" mit den Okkupanten hätten sie den Widerstandsgeist der Norweger geschwächt.
Hovedöya – heute Badeinsel, früher Internierungslager
Wir gehen die Festung Akershus hinauf, von hier oben hat man eine großartige Aussicht auf das rot verklinkerte Rathaus und den alten Hafen. Aarnes zeigt hinaus in den Oslofjord:
"Immer, wenn ich hierher komme, denke ich an Hovedöya, die kleine Insel dort drüben. Heute ein beliebter Badeplatz für die Osloer. Aber kaum jemand weiß, dass dort nach dem Krieg Frauen interniert waren, die ein Verhältnis mit deutschen Soldaten hatten."
Bis zu eintausend Frauen seien dort eingesperrt gewesen – ohne jede Rechtsgrundlage, betont Aarnes, denn sie hatten ja gegen kein Gesetz verstoßen, höchstens gegen ein moralisches Gebot. Hinzu kam, dass den Frauen vielfach auch noch die Staatsbürgerschaft entzogen worden war. Für dieses Unrecht hat sich die norwegische Ministerpräsidentin Solberg nun entschuldigt.
Als Helle Aarnes anfing, über die Deutschenmädchen zu recherchieren, war sie überrascht. Schließlich hatte es doch immer geheißen, das seien nur einzelne Frauen gewesen, meist Prostituierte oder Nazi-Parteimitglieder:
"Zu der Zeit befanden sich mehrere Hunderttausend junge Deutsche in einem Land, das zum damaligen Zeitpunkt drei Millionen Einwohner hatte. Mindestens 50.000 Frauen hatten ein Liebesverhältnis mit einem Deutschen, das wären zehn Prozent der weiblichen Bevölkerung zwischen 18 und 35! Mindestens 12.000 Kinder sind aus diesen Verbindungen hervorgegangen. Ich kann verstehen, dass in den ersten Jahren nach dem Krieg andere Erzählungen im Vordergrund standen. Es brauchte leider zwei Generationen, bevor man sich dieses Themas endlich ernsthaft annahm."
Von den Männern verunglimpft
Aber wer war eigentlich ein "Deutschenmädchen", eine Tyskejente, wie sie auf Norwegisch genannt wurden?
Am Rande einer deutsch-norwegischen Literaturveranstaltung in Oslo begegne ich der Publizistin und Übersetzerin Ebba Drolshagen. Auch sie beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Schicksal dieser Frauen und ihrer Kinder.
"Ist das nur eine Frau, die mit einem Deutschen ein intimes Verhältnis hatte, das heißt, mit ihm ins Bett gegangen ist? Ist es ein 'Deutschenmädchen', selbst wenn es keine sexuellen Beziehungen beinhaltete? Nennen wir ein 'Deutschenmädchen' jemanden, die auf der Straße mit einem Deutschen bloß einen Satz gewechselt hatte, was durchaus einige Norweger als ausreichend empfanden? Die Frauen bekamen schnell klar gemacht, dass sie am nationalen Konsens des Siegers keinen Anteil hatten. Und wenn sie ein Kind hatten - das war besonders schlimm: uneheliches Kind und vom Feind -, dann haben sie oft sehr schnell geheiratet, um die Schande sozusagen ungeschehen zu machen. Oft waren die Ehen in einem Ungleichgewicht, weil die Männer natürlich wussten, dass sie eine Frau mit einer schwierigen Vergangenheit geheiratet hatten."
Und es waren während und nach der Besatzungszeit überwiegend Männer, die über die betroffenen Frauen ihr Urteil fällten; sie wurden, da sind sich die Forscherinnen Aarnes und Drolshagen einig, zu Sündenböcken gemacht. Beamte, Polizisten, Großhändler und Bauunternehmer wollten damit häufig von ihren eigenen Geschäften und Verstrickungen mit den Nazi-Besatzern ablenken.