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Obdachlosenmeile in Los Angeles
Die Rebellion der Unterdrückten

Die Stimmung ist angespannt in Downtown Los Angeles. Nur zwei Blocks entfernt von renovierten Lofts, Geschenkboutiquen und Hipster-Restaurants wurde Anfang März ein Obdachloser von Polizisten erschossen. Er hatte sein Zelt auf Skid Row aufgestellt, wo mehr als 1700 Menschen auf Bürgersteigen und in Notunterkünften leben.

Von Kerstin Zilm | 12.03.2015
    Kreide-Umrandung eines Körpers auf einer Straße.
    Polizisten erschossen in Skid Row den Mann, den sie "Africa" nannten. (AFP/Mark Ralston)
    Zwischen seinem Sofa, einem Berg aus Zeltplanen, Decken und Pappkartons kocht Ceola "Dice" Waddell an einem zum Imbissstand umfunktionierten Schreibtisch: eine Pfanne Reis mit Rindfleisch und Gemüse. "Zwei Dollar pro Schüssel" ruft der schlanke Koch einem Vorbeigehenden zu. Er ist 58 Jahre alt. Seine Markenzeichen: weißer Hut, Leinenanzug, polierte Lederschuhe. Schüsseln hat "Dice" derzeit keine. Polizisten haben ihm seine Utensilien weggenommen nach tödlichen Schüssen auf einen Obdachlosen. Die fielen keine zehn Meter entfernt von "Dice":
    "Ich habe gesehen, wie sie den Kerl erschossen haben. Die Polizisten kamen aus dem Auto nach einem Notruf. Er war in seinem Zelt, hat niemanden belästigt. Er ist ihren Befehlen nicht gefolgt, also haben sie ihn getasert. Er ist aggressiv geworden. Sie sagen, er hat die Pistole von einem Polizisten gegriffen. Das hab ich nicht gesehen. Sie haben ihm Handschellen angelegt und dann auf ihn geschossen."
    Polizei benehme sich als habe sie eine Lizenz zum Töten
    Ceola "Dice" Waddell kocht an einem zum Imbiss-Stand umfunktionierten Schreibtisch.
    Ceola "Dice" Waddell kocht an einem zum Imbiss-Stand umfunktionierten Schreibtisch. (Kerstin Zilm)
    Ein sinnloser Mord am Mann, den sie hier "Africa" nannten, sagt "Dice". Für ihn ein weiterer Beweis von Polizeibrutalität gegen Schwarze, die er seit seiner Kindheit in Memphis erlebt. Drei Afroamerikaner wurden in den letzten zehn Monaten auf Skid Row von Uniformierten getötet. "Dice" klagt, die Polizei benehme sich als habe sie eine Lizenz zum Töten. Er will eine Revolution.
    "Genug ist genug! Irgendwann rebellieren die Unterdrückten. Schau nach Ferguson und zu all den anderen schwarzen Jungs, die sie erschossen haben. Irgendwann ist uns unser eigenes Leben egal. Wir werden uns wehren!"
    Eine Gruppe Schüler mit Pappkartons voll Kleidung geht vorbei. Sie klopfen an einer Tür im Wohnhaus gegenüber. Schwarzer Ruß an der Hauswand und verbeulte Metallstreben erinnern daran, dass im zweiten Stock kürzlich ein Drogenlabor explodierte. Im Erdgeschoss ist eine Kirche. Pastor Tony Stallworth öffnet die Tür. Der korpulente Mann, das lange Haar zu einem dünnen Zopf geflochten, hat zu einer Mahnwache für "Africa" eingeladen.
    "Jeder Verlust eines Menschen trifft mich zutiefst. Ich kann sie nie mehr treffen, nicht umarmen, kann ihnen nicht sagen, was Gott für mich getan hat und dass sie ihr Leben ändern können, wenn sie wollen."
    Demonstrationen gegen Polizeigewalt
    Stallworth hat selbst drei Jahre lang sein Hab und Gut im Einkaufswagen durch die Obdachlosenmeile geschoben. Zum Entzug gehörte Sozialdienst in der Kirche. Er ist geblieben. Als die tödlichen Schüsse fielen, predigte Stallworth. Demonstrationen gegen Polizeigewalt, die es seither regelmäßig an der Straßenecke gibt, versteht er. Doch der Pastor wirbt lieber für Verständnis und Versöhnung.
    Eine Stunde später ist jeder Klappstuhl im Kirchensaal gefüllt: Schüler, Geistliche, Obdachlose und Polizisten halten Teelichter, singen und beten gemeinsam. Pastor Stallworth bittet die, die "Africa" persönlich kannten, ans Mikrofon.
    "Er war wie ein Baum, ruhig und stark wie ein Baum."
    "Unsere Reinigungscrew kannte ihn gut. Wenn sie zum Absprühen des Bürgersteigs kamen, hat er geholfen, dass alle aus ihren Zelten kamen und Platz machten. Das haben unsere Leute sehr geschätzt.
    "Ich kannte den Gentleman, er sprach kein Englisch, er sprach Französisch. Und er war psychisch krank. Das wusste nicht nur ich. Er sagte mir, er kommt aus Kamerun."
    Bedingungen sollen verbessert werden
    Am Ende der Mahnwache stehen in der ersten Reihe Polizisten und Obdachlose eng umarmt. Terry "Detroit" Hughes umklammert die Hand eines Polizisten.
    "Er nimmt meine Hand. Er umarmt mich. Er weiß nicht, wo meine Hand zuletzt war. Wir sind auf Skid Row! Im Schützengraben! Und er kommt mit hinunter zu uns!"
    Seit 25 Jahren lebt "Detroit" auf den Straßen von Los Angeles oder in Obdachlosenheimen. Seit fünf Jahren hilft ihr ein Rehabilitierungsprogramm für psychisch Kranke, stabiler zu leben. "Detroit" ist Mitglied einer Kommission von Polizei und Obdachlosen. Sie wollen die Bedingungen für alle, die hier leben und arbeiten verbessern. Die zierliche Frau in Wolljacke versteht jetzt besser, unter welchem Druck die Beamten stehen.
    "In ihrer Jobbeschreibung steht, sie sollen beschützen und dienen. Es steht nicht drin, dass sie auch Psychologen und Drogenexperten sein müssen. Das lernen sie, wenn sie mit uns zusammenarbeiten."
    Polizist Dion Joseph lacht. Kerzenwachs ist auf seiner Uniform getrocknet. Er arbeitet seit 17 Jahren auf Skid Row, hätte schon lange zu einer anderen Abteilung wechseln können. Aber, sagt er, er liebe diese Gemeinde.
    "Ich hoffe, es wird nie wieder jemand erschossen. Aber leider, wenn wir das psychische Problem hier nicht ernst nehmen, kann es wieder passieren. Nicht weil uns die Menschen egal sind, sondern weil die Situationen so unberechenbar sind. Es ist traurig."
    Ceola "Dice" Waddell hat der Mahnwache durch die offene Tür zugehört.
    Jetzt steht er wieder neben seiner Reispfanne. Auch er sei sehr für Verständnis und Kommunikation auf Skid Row, erklärt er. Allein - er traut den Polizisten nicht.
    "Sie belästigen die Obdachlosen. Wir leben hier. Wir können nirgendwo anders hin. Wir dürfen unsere Zelte von neun abends, bis sechs morgens hier aufstellen. In der Zwischenzeit: lasst uns in Ruhe! Bringt uns nicht um und belästigt uns nicht!"
    Dämmerung senkt sich über den Bürgersteig. Bald wird "Dice" sein Sofa auf die andere Straßenseite an die Kirchenwand schieben und eine Plane darüber ausbreiten. Dann beginnt sein Geschäft mit Bier, Vodka und Haschpfeifen.