Archiv

Österreichisches Bauerndrama
Fremd im eigenen Dorf

"Man kann dem Dorf nie entfliehen", behauptet Reinhard Kaiser-Mühlecker, der selber den elterlichen Bauernhof früh verlassen hat, aber mit jedem seiner Bücher schreibend in seine Heimatregion zurückkehrt. So auch mit seinem sechsten Roman "Fremde Seele, dunkler Wald" - dem Werk eines akribischen Stilisten.

Von Melanie Weidemüller |
    Die Eröffnungsszene spielt an einem verregneter Herbsttag im Jahr 2012, irgendwo im ländlichen Oberösterreich. Seit dem späten Vormittag stehen Alexander und Jakob, zwei Bauernsöhne mit kantigen, verschlossenen Gesichtern, an der Theke der Wirtschaft ihres Heimatdorfs. Alexander, um die 30, dient bei den UN-Truppen im Kosovo und verbringt krankgeschrieben ein paar Wochen zuhause. Sein jüngerer Bruder Jakob, obwohl erst 15, führt den elterlichen Hof. Nun stehen die beiden da, zusammen beim Bier. Der Gastraum ist fast leer, hinten im Halbdunkel sitzt der Postbote Zeitung lesend beim Mittagessen. Der Wirt spült hinter dem Tresen Gläser. Dann und wann zwei Sätze, eine Frage, dazwischen Schweigen.
    Nein, aufregend ist das nicht. Und am liebsten würde man diesen Hort der Provinzdepression als Leser schnellstens wieder verlassen, wäre da nicht dieser suggestive Erzählton, diese verblüffend präzise, atmosphärisch verdichtende Sprache.
    Auch der sechste Roman des 1982 geborenen Autors Reinhard Kaiser-Mühlecker "Fremde Seele, dunkler Wald" ist das Werk eines akribischen Stilisten. Erneut steht eine Bauernfamilie im Mittelpunkt, wieder geht es um Schuld und Schicksal und den Zerfall einer Familie. Um die Flucht aus engen, aussichtslosen Verhältnissen.
    "Es war spät im Herbst, und aus allen Dingen schimmerte bereits der Winter hervor. Nur fahlgelber, krachtrockener Mais stand noch auf den Feldern; die restlichen Äcker waren öd und leer, wie erschöpft und endgültig ausgelaugt. (...) Sämtliche Höfe, an denen sie vorbeikamen, wenn viele davon auch herausgeputzt waren, wirkten verwaist. Einzig der Geruch nach Schweinedung, der sich, kaum einmal schwächer werdend, von einem Hof zum anderen zog, bewies, dass sie es nicht waren."

    Herkunft: Das ist diese spezifische Mischung aus Orten, Dingen, Wetter und Landschaft, Gerüchen, Geräuschen, die in ihrer Gesamtheit eine besondere Stimmung erzeugen. All diese Erfahrungen formen die menschliche Innenwelt, den Grundton der Seele."Man kann dem Dorf nie entfliehen", behauptet Reinhard Kaiser-Mühlecker, der selber den elterlichen Bauernhof früh verlassen hat, aber mit jedem seiner Bücher schreibend in seine Heimatregion zurückkehrt.
    Niedergang eines Hofes
    Die Geschichte von Alexander und Jakob, diesen scheinbar so unterschiedlichen Brüdern, lotet das Verhältnis von Herkunft und Selbsterfindung neu aus. Alexander ging früh weg, besuchte das Stiftsgymnasium, um Pfarrer zu werden, studierte ein paar Semester Medizin, landete beim Militär. Was er wirklich wollte, wusste er eigentlich nie. Jakob hingegen hat seit der Kindheit eine enge Bindung zum Hof, zum Land, umsorgt liebevoll die Tiere. Er galt immer schon als der Nachfolger seines Vaters, und erst langsam begreift er, dass die Würfel längst gefallen sind. Denn die Familie steht am Abgrund: Der ständig abwesende Vater fantasiert von todsicheren neuen Geschäftsideen und spekuliert auf die sagenhaften Renditen irgendeines Solarstrom-Business, die natürlich ausbleiben, so dass er heimlich Hektar um Hektar verkauft. Die Mutter fügt sich apathisch. Und der herrische Großvater denkt gar nicht daran, sein aus dubioser Quelle stammendes Vermögen in den maroden Hof zu stecken. Zu guter Letzt wird die Großmutter es einer rechten Partei vererben. Doch am Abendbrottisch spielen die Familienmitglieder tapfer weiterhin ihre Rolle im Rührstück von der heilen heimatverbunden Sippe, die nichts ins Wanken bringen kann.
    "Daran zeigt sich Charakter, Jakob: ob die Umstände einen verändern oder nicht", sagte der Großvater. "Freunde, Frauen, Macht, Geld ... diese Dinge." (...) Allzu gut kannte Jakob diese Sätze. Nur kurz hob er den Blick und sah in die kleinen, grauen, undurchdringlichen Augen des Großvaters, der auf sich zeigte. "Ich", sagte er, "ich war immer gleich. Immer genau gleich. Vor fünfzig Jahren und vor vierzig und vor dreißig und vor zehn auch. Frag deine Großmutter. Und er" – er richtete sich an seine Schwiegertocher und deutete dabei auf Jakob – "er ist genauso. Er gerät nach mir. Da musst du keine Angst haben." Die Mutter setzte zu etwas an, winkte aber ab (...). "Will noch wer Salat?", fragte sie stattdessen. "Es gibt noch."
    Keine Frage: Hier muss man weg, das hat keine Zukunft. Aber wo könnte sie dann liegen für Jakob und Alexander? Über drei Jahre und mit einigen dramatischen Wendungen verfolgt der Roman die Versuche der beiden, dem eigenen Leben eine Richtung zu geben. Beide geraten sie in tiefe Krisen: Jakob schmerzt der Niedergang des Hofes, als ein Freund sich erhängt zerfrisst ihn zusätzlich die Schuld. Das Experiment einer Familiengründung mit der schwangeren Nina gerät zur Katastrophe, provisorisch kehrt er nochmal zum Hof zurück.
    Der ältere Bruder Alexander schlingert ebenfalls. Er wechselt vom Militärdienst im Kosovo zum Generalstab nach Wien, gönnt sich eine Affäre mit der Frau seines Vorgesetzten. Als die Geliebte ihm den Laufpass gibt, verliert er jeglichen Halt. Sein ganzes Leben erscheint ihm sinnlos und ohne Perspektive. Erst in der Fremde, in Italien, wo er sich einige Wochen am Comer See erholt, scheint Alexander eine neue innere Ruhe zu finden.
    Prosa wie eine Vinylschallplatte
    Für ein wenig kriminalistische Spannung verleiht dem Roman ein unaufgeklärter Mord im Nachbarort: Die Dorfbewohner spekulieren über Verbindungen zu einer obskuren Sekte von Urchristen, zu der auch die Brüder Verbindung haben. Doch das sind Nebenstränge. Im Mittelpunkt steht das Schicksal der beiden Hauptfiguren, und die Frage ist: Was geht dieses oberösterreichische Bauerndrama uns heutige Leser eigentlich an?
    Am Ende doch sehr viel. Reinhard Kaiser-Mühleckers allegorischer Entwicklungsroman verbindet eine spezielle Problematik – die Auflösung bäuerlicher Strukturen als Folge des Globalisierungsprozesses – mit zeitlosen menschlichen Grundfragen wie Identität, Einsamkeit, Selbsttäuschung, Sinnhaftigkeit. Dabei lässt der Autor seinen Figuren ihr Geheimnis.
    "Du weißt ja, eine fremde Seele ist wie ein dunkler Wald."
    Dieses Turgenjew-Zitat ist dem Buch als Motto vorangestellt. Um Fremdheit geht es in vielfältiger Weise, nicht zuletzt darum, sich selber fremd zu sein. Letztlich aber liegt der Reiz dieses Romans im ganz eigentümlichen Kaiser-Mühlecker-Sound. Auch der klingt fremd für heutige Ohren: Wo sonst findet man in der jungen deutschsprachigen Prosa Sätze wie "Ihm wurde ganz klamm" oder eine Langsamkeit und Beschreibungswut, die an Stifter und Handke erinnert? In der beschleunigten Gegenwart wirkt diese Prosa wie eine Vinylschallplatte oder eine analoge, von Hand entwickelte Schwarz-Weiß-Fotografie. Dennoch erzählt Reinhard Kaiser-Mühleckers neuer Roman unverkennbar von aktueller Gegenwart.
    Reinhard Kaiser-Mühlecker: "Fremde Seele, dunkler Wald"
    S. Fischer Verlag, 301 Seiten, 20,00 Euro