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Österreichs Außenminister Kurz
"In der Flüchtlingsfrage ist die Zusammenarbeit mit der Türkei weiter sinnvoll"

Die jüngsten Ereignisse in der Türkei sind nach Meinung des österreichischen Außenministers Sebastian Kurz kein Grund, den Flüchtlingspakt mit der Regierung in Ankara ad acta zu legen. Allerdings drohte er mit finanziellen Sanktionen an anderer Stelle. Zudem müsse die EU Fehlentwicklungen in der Türkei klar ansprechen, sagte Kurz im DLF.

Sebastian Kurz im Gespräch mit Bettina Klein | 19.07.2016
    Der österreichische Außenminister Sebastian Kurz.
    Der österreichische Außenminister Sebastian Kurz. (dpa-Bildfunk / MTI / Szilard Koszticsak)
    "Ich würde sagen, dass die Geschehnisse der letzten Tage noch keine unmittelbaren Auswirkungen auf das Flüchtlingsabkommen haben", erklärte der österreichische Außenminister. "In der Flüchtlingsfrage ist die Zusammenarbeit aus meiner Sicht weiter sinnvoll." Allerdings müsse Europa seine Kritik an jüngsten Fehlentwicklungen in der Türkei deutlich zum Ausdruck bringen, betonte Kurz im DLF. "Ein Putschversuch ist kein Freibrief, willkürlich zu handeln." Wenn die EU ihre Grundwerte hochhalte und die Regierung in Ankara merke, dass ihr Handeln Konsequenzen habe, habe das meistens schon "einen ersten Einfluss".
    Auf die Frage, an welcher Stelle die EU auch finanziell Druck ausüben könne, blieb Kurz vage. Als Beispiel nannte er eine "Annäherungsunterstützung", die die Türkei von der EU erhalte.
    Der konservative Politiker bekräftigte die Haltung der EU-Außenbauftragten Federica Mogherini, wonach für ein Land, das die Todesstrafe einführt, "kein Platz in der EU" ist. Der türkische Präsident Erdogan hatte sich dazu bereit erklärt, sie wieder einzuführen, wenn das Parlament dem zustimmt.

    Das Interview in voller Länge:
    Bettina Klein: Wir sind jetzt telefonisch verbunden mit dem österreichischen Außenminister Sebastian Kurz. Er gehört der ÖVP, der Österreichischen Volkspartei an. Guten Morgen, Herr Kurz.
    Sebastian Kurz: Guten Morgen!
    Klein: Sie haben gestern auch teilgenommen am EU-Außenministertreffen in Brüssel. Alle sagen jetzt, die Türkei muss dieses und jenes. Wieviel Einfluss hat denn die EU im Augenblick überhaupt noch?
    Kurz: Zunächst möchte ich einmal sagen, dass ich es für sehr wichtig empfinde, dass wir uns auf diese Position einigen konnten. Es gibt ja bei 28 Mitgliedsstaaten immer unterschiedliche Zugänge und uns war es sehr wichtig, dass es ein klares Statement aus Brüssel in Richtung Türkei gibt. Denn es ist nicht nur der Putschversuch zu verurteilen, sondern es sind vor allem die Geschehnisse danach zu verurteilen. Rechtsstaat und Demokratie müssen von allen Playern in der Türkei geachtet werden, auch von der Regierung und vom Präsidenten.
    "Wir müssen Fehlentwicklungen ganz klar ansprechen"
    Klein: Darf ich noch mal nachfragen? Welche Botschaft genau war Ihnen jetzt wichtig?
    Kurz: Mir war wichtig, dass nicht nur der Putschversuch verurteilt wird, sondern auch das klar angesprochen wird, was in den letzten Tagen danach passiert ist. Wir haben in der Türkei die Suspendierung von über 10.000 Beamten erlebt. Wir haben erlebt, dass Tausende Verhaftungen stattgefunden haben, dass hier massiv Einfluss auf die Justiz zum Beispiel genommen wird. All das sind extrem problematische Entwicklungen und wenn Europa da wegsieht, dann wird es zu einem Mehr an Destabilität in der Türkei langfristig führen und wir werden die Leidtragenden sein. Insofern bin ich der Meinung: Ganz gleich, ob es jetzt eine Zusammenarbeit in der Flüchtlingsfrage gibt, oder nicht, ganz gleich, ob die Türkei ein NATO-Partner ist oder nicht, hier müssen wir Fehlentwicklungen ganz klar ansprechen. Und der Putschversuch, der ist noch lange kein Freibrief dafür, dass jetzt abseits von Rechtsstaatlichkeit oder manchmal sogar willkürlich gehandelt wird.
    Klein: Herr Kurz, wir halten fest: Sie haben sich darüber gefreut, dass man es angesprochen hat, dass da auch eine einige Position zustande gekommen ist. Ich komme noch mal zurück auf meine Frage: Wieviel Einflussmöglichkeiten hat denn die Europäische Union, dass sich etwas ändert, oder dass die Türkei auf die EU hört? Das ist ja ein zweiter Schritt.
    Kurz: Na ja, das wird sehr stark davon abhängen, wie klar wir zu unseren Grundwerten stehen. Wenn die Türkei oder andere Staaten das Gefühl haben, dass unsere Grundwerte verhandelbar sind, wenn die Türkei das Gefühl hat, selbst wenn hier Tausende verhaftet werden und Richter einfach ihres Amtes enthoben werden, weil sie nicht genehm sind, dann schaut die Europäische Union einfach zu und alles läuft weiter wie bisher und es hat keine Konsequenzen, wenn das der Fall ist, dann haben wir gar keinen Einfluss. Aber wenn wir unsere Grundwerte hochhalten, wenn wir da eben nicht zusehen, wenn wir klar reagieren, dann hat meistens schon einmal die mündliche, verbale Reaktion aus der Europäischen Union einen ersten Einfluss, weil es so was wie ein Warnschuss ist. Und darüber hinaus gibt es dann natürlich Möglichkeiten, in internationalen Organisationen auf die Türkei einzuwirken, und es gibt Möglichkeiten, nachdem die Türkei ein Beitrittswerber ist und wir ja auch die Türkei als Europa derzeit finanziell unterstützen. Einflussmöglichkeiten gibt es da definitiv. Die Frage ist: Sind wir als Europa mutig genug oder nicht.
    "Zahlreiche Fragestellungen, in denen die Türkei auf die Zusammenarbeit angewiesen ist"
    Klein: Darf ich da noch mal kurz einhaken? Es ist eine gemeinsame Position entstanden. Das ist möglicherweise schon ein Wert an sich. Das habe ich verstanden. Schauen wir mal auf die Einflussmöglichkeiten. Wenn im Grunde genommen sich eigentlich doch herauskristallisiert, dass die Türkei gar nicht mehr im Ernst wirklich an einem EU-Beitritt interessiert ist, dann fällt dieses Druckmittel doch schon mal weg.
    Kurz: Dann fällt dieses Druckmittel weg, aber wir unterstützen die Türkei finanziell. Es gibt zahlreiche Fragestellungen, in denen die Türkei auch auf die Zusammenarbeit angewiesen ist, bis hin zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit, und ich spreche jetzt für ein nicht NATO-Land. Aber ich gehe sehr wohl davon aus, dass es auch innerhalb der NATO die Möglichkeiten gibt, Einfluss auf einen Partner zu nehmen. Entscheidend ist einmal zunächst der Wille und ist man bereit, hier klar zu sein, oder sieht man lieber weg, wenn es Fehlentwicklungen gibt.
    Klein: Sie haben jetzt zwei Punkte noch mal angesprochen. Finanzen: Wo soll die EU aufhören mit Zahlungen? Wo soll sie Zahlungen einstellen, wenn sich nicht in der Türkei die Dinge so verändern, wie die EU wünscht? Geben Sie uns ein Beispiel.
    Kurz: Ja, das ist sehr nahe. Die Beitrittsverhandlungen sind da sehr nahe der finanziellen Unterstützung, aus meiner Sicht. Wenn ein Staat sich entscheidet, Rechtsstaat und Demokratie nicht zu achten, und sogar die Todesstrafe einführen möchte, dann ist da definitiv kein Platz in der Europäischen Union vorhanden.
    Klein: Die Frage war nach den Finanzen. Wo sollen Zahlungen an die Türkei eingestellt werden?
    Kurz: Na ja, es gibt eine finanzielle Unterstützung der Europäischen Union in Richtung Türkei. Damit spreche ich jetzt noch gar nicht den Flüchtlingsdeal an, das ist eine andere Sache, sondern es gibt Annäherungsunterstützung, die an die Türkei fließt, so wie in anderen Staaten das auch üblich ist. Aber aus meiner Sicht befinden wir uns jetzt in einer ganz entscheidenden Phase. Es wird sehr stark darauf ankommen, wie sich der Präsident und die Regierung in den nächsten Tagen und Wochen verhalten, und ich bin froh, dass wir auch in Brüssel vereinbart haben, dass es schon bald eine Diskussion der Außenminister darüber geben soll, wie sich die Türkei weiter entwickelt und was wir daraus für Schlüsse ziehen und wie wir gegebenenfalls auch unser Verhältnis zur Türkei gestalten.
    "Keine unmittelbaren Auswirkungen auf das Flüchtlingsabkommen"
    Klein: Herr Kurz, ich habe jetzt noch kein Beispiel gehört, wo Finanzzahlungen, wo Zahlungen an die Türkei eingestellt werden sollen. Aber schauen wir vielleicht einmal auf das Flüchtlingsabkommen, das Sie erwähnt haben, denn das ist ja gekoppelt an Zahlungen an die Türkei. Soll das so eins zu eins bestehen bleiben, egal was in der Türkei noch passiert, oder ist da für Sie irgendwann eine rote Linie erreicht?
    Kurz: Ich würde sagen, dass die Geschehnisse der letzten Tage noch keine unmittelbaren Auswirkungen auf das Flüchtlingsabkommen haben. Man sucht sich die eigene geographische Situation nicht aus. Man muss manchmal mit Staaten zusammenarbeiten, gleich ob man das jetzt möchte oder nicht. In der Flüchtlingsfrage ist daher die Zusammenarbeit aus meiner Sicht sinnvoll. Das Geld, das hier an die Türkei fließt, soll auch direkt an die Versorgung der Flüchtlinge fließen. Das muss natürlich klar kontrolliert werden. Und ich habe immer davor gewarnt, dass wir uns in eine Abhängigkeit begeben. Insofern würde ich sagen, es ist nicht nur sinnvoll, mit der Türkei in dieser Frage zusammenzuarbeiten, sondern es ist mindestens genauso wichtig, dass wir als Europa selbst unsere Grenzen schützen, selbst das tun, was wir tun können, und die Westbalkan-Routenschließung alleine hat hier ja schon zu einem massiven Rückgang der Flüchtlingszahlen geführt.
    Klein: Ein zweiter Punkt, den Sie angesprochen haben, ist die Zusammenarbeit mit dem NATO-Partner Türkei. Österreich gehört nicht der NATO an, sondern ist in der Partnerschaft für den Frieden, in der Zusammenarbeit natürlich mit der NATO assoziiert. Was schwebt Ihnen da vor oder was ist Ihr Rat an die NATO-Staaten? Welche Konsequenzen sollte es da geben, welche Einflussmöglichkeiten gibt es da?
    Kurz: Ja das ist jetzt natürlich schwierig, als Nicht-NATO-Mitgliedsstaat der NATO etwas zu raten.
    Klein: Sie haben es angesprochen.
    Kurz: Ich glaube, dass natürlich die NATO-Partner genauso ein Interesse an Stabilität und an der Achtung von Grundwerten in der Türkei haben, wie wir das als europäische Staaten haben.
    Klares Statement aus Brüssel zur Todesstrafe
    Klein: Muss es Konsequenzen geben von Seiten der anderen NATO-Partner, wenn zum Beispiel die Todesstrafe eingeführt wird? Auf der anderen Seite: In den USA gibt es auch die Todesstrafe und da kündigt auch niemand die Zusammenarbeit.
    Kurz: Na ja. Die Todesstrafe ist etwas, was für die NATO wahrscheinlich nicht so relevant sein wird wie für die Europäische Union. Aber in der Europäischen Union ist die Haltung eine klare, nämlich dass es keine Chance gibt für ein Land, Teil der Europäischen Union zu sein und gleichzeitig die Todesstrafe einzuführen, und insofern bin ich froh, dass das Statement hier gestern aus Brüssel schon einmal ein ganz klares war. Denn hier geht es einerseits um die Todesstrafe, andererseits geht es aber schon noch um die symbolische Frage, wie gehen wir damit um, wenn aus der Türkei Provokationen kommen oder absichtlich etwas getan wird, das nicht mit den europäischen Grundwerten in Einklang zu bringen ist.
    Klein: Und Konsequenzen auf NATO-Ebene, da wollen Sie sich heute Morgen zurückhalten?
    Kurz: Ja. Ich glaube, da haben Sie Verständnis dafür, dass das sinnvoller ist, einen NATO-Mitgliedsstaat zu fragen als einen Nicht-Mitgliedsstaat.
    "Ich plädiere dafür, dass wir die Zusammenarbeit mit Großbritannien suchen"
    Klein: Ich habe das nur noch mal nachgefragt, weil Sie es selbst angesprochen haben. - Herr Kurz, gestern war zum ersten Mal auch der neue britische Außenminister dabei, beim EU-Treffen in Brüssel, Boris Johnson. Er ist ja nicht mit viel Vorschusslorbeeren dort begrüßt worden. Gleichzeitig haben Sie auch noch mal angesprochen, wie einig man sich jetzt im Grunde genommen war, angesichts der Entwicklungen in der Türkei. Ist auch mit diesem Außenminister und ist auch mit einem Großbritannien, das gern die EU verlassen möchte, eine solide und verlässliche und starke EU-Außenpolitik im Augenblick möglich?
    Kurz: Es ist notwendig zusammenzuarbeiten, denn Großbritannien ist so lange Mitglied der Europäischen Union, bis sie ausgetreten sind. Das hat Federica Mogherini gestern betont und Boris Johnson hat sogar noch hinzugefügt, dass Großbritannien auch, bis sie ausgetreten sind, weiterhin Zahlungen an die Europäische Union leisten wird und insofern natürlich auch von ihrem Mitspracherecht Gebrauch machen werden. Ich plädiere aber auch dafür, dass wir darüber hinaus die Zusammenarbeit mit Großbritannien suchen. Großbritannien verlässt die Europäische Union. Großbritannien verlässt aber nicht Europa und nicht unsere Nachbarschaft. Insofern wird es notwendig sein, dass nach der Regelung des Austritts auch das Verhältnis zu Großbritannien ordentlich geregelt wird, denn hier wird außenpolitisch, aber auch wirtschaftlich natürlich weiter die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit eben nicht nur im Interesse von Großbritannien sein, sondern im Interesse von uns allen.
    Klein: Und die Zusammenarbeit ist auch mit einem Außenminister Boris Johnson gut möglich. So haben wir Sie jetzt verstanden?
    Kurz: Ich habe ihn gestern erst zum ersten Mal kennengelernt. Ich beurteile Menschen dann immer gern nach ihren Taten, wenn sie in Funktion sind, und nicht nach ihrem Vorleben, und das werde ich auch bei Boris Johnson so halten.
    Klein: Sebastian Kurz, der Außenminister Österreichs, heute Morgen im Deutschlandfunk zur Position der Europäischen Union, was die Entwicklungen in der Türkei im Augenblick angeht. Herr Kurz, haben Sie Dank für das Gespräch heute Morgen.
    Kurz: Vielen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.