"Das Verfahren ist chaotisch, wenig transparent und entspricht nicht dem Gleichheitsgebot", fasst Prokop zusammen. Dadurch liege nun ein Schatten auf den Spielen. Die Dramaturgie der Wettkämpfe werde zwar vieles vergessen machen. Dennoch werde jeder russische Athlet bei seinem Auftritt für erneute Diskussionen sorgen.
Prokop erklärte, der IOC-Beschluss, russische Sportler mit Dopingvergangenheit auszuschließen, entspreche nicht dem Gleichheitsgrundsatz. Er verwies auf Sportler aus anderen Ländern, die nach Ablauf einer Sperre wieder eine Starterlaubnis hätten. Auch der internationale Sportgerichtshof CAS habe entschieden, dass es sich bei der IOC-Entscheidung um eine Doppelbestrafung handle.
Hoffnungsvoll für kommende Ereignisse
Für die Zukunft sei er aber optimistisch, betonte Prokop. Vor einem Jahr sei noch undenkbar gewesen, dass ein Teil der russischen Mannschaft ausgeschlossen wird. Dieses Beispiel zeige, dass einiges in Bewegung gekommen sei. Diese Dynamik werde sich nicht mehr aufhalten lassen.
An den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro nehmen nach Angaben des IOC 271 Athletinnen und Athleten aus Russland teil. Derzeit sind noch Einzelfallprüfungen bei den Fachverbänden und beim Sportgerichtshof anhängig. Von vornherein ausgeschlossen waren Leichtathleten und Gewichtheber.
Das Interview in voller Länge:
Und am Telefon ist jetzt Clemens Prokop, der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes. Schönen guten Morgen, Herr Prokop!
Clemens Prokop: Guten Morgen!
Barenberg: Wir haben ja beide eben das Unbehagen in den Aussagen von Sven Knipphals heraushören können, das Misstrauen, das auch immer mitschwingt. Sportler aus aller Welt treffen sich, um beim größten Sportereignis im fairen Wettkampf ihre Kräfte zu messen – wie viel ist heute, im Jahr 2016, zu Beginn dieser Spiele davon noch übrig?
Prokop: Na ja, ich glaube, es ist ein Grundproblem natürlich, das Sven Knipphals ja beschrieben hat. Aber wir haben natürlich jetzt in Rio eine besondere Situation durch die Zulassung der russischen Athleten. Das Verfahren, das hier praktiziert wurde, ist sicherlich etwas chaotisch, wenig transparent und entspricht nach meiner Meinung nicht durchgängig dem Gleichheitsprinzip. Deshalb haben wir natürlich jetzt in Rio schon ein bisschen einen Schatten auf diesem Gebiet gegeben.
"Situation mit der russischen Mannschaft ist nicht überzeugend geklärt worden"
Barenberg: Da liegt also schon ein Makel auf den Spielen, noch bevor sie begonnen haben?
Prokop: Ja, ich glaube, diese Situation mit der russischen Mannschaft ist nicht überzeugend geklärt worden. Und das ist einfach wie ein Schatten, der auf den Spielen liegt.
Barenberg: 271 russische Sportler dürfen starten, aus einem Land, dem staatlich organisiertes Doping nachgewiesen wurde. Möglicherweise, erfahren wir heute Morgen, könnten es auch noch einige mehr sein. Viele fragen sich ja: Wie kann das eigentlich sein? Was ist Ihre Antwort?
Prokop: Nun, ich verstehe hier das IOC einfach nicht. Der McLaren Report hat aufgezeigt, dass in Russland offensichtlich ein Staatsdoping vorlag, das alle Sportarten oder den russischen Sport betroffen hat. Dann wäre die überzeugende Lösung gewesen, hier eine einheitliche Entscheidung zu treffen, und die einheitliche Entscheidung hätte dann eben glaubwürdig nur lauten können, dass die russische Mannschaft insgesamt ausgeschlossen wird. Nun erleben wir, dass von Sportart zu Sportart unterschiedliche Entscheidungen getroffen werden, wir erleben, dass ein Teil der IOC-Entscheidungen, nämlich die Verweigerung des Starts an Athleten, die eine Dopingsperre hatten und diese verbüßt haben, nun offensichtlich vom CAS nicht akzeptiert wird. Sodass also insofern jetzt eine wirklich unübersichtliche Situation entstanden ist.
Barenberg: Was bedeutet das eigentlich für Leichtathleten, für Schwimmer, für Ruderer und andere im deutschen Team, wenn sie quasi 24 Stunden vor Beginn, auch möglicherweise kurz vor Beginn ihrer Wettkämpfe noch gar nicht wissen, gegen wen sie antreten?
Prokop: Das ist natürlich eine schwierige Situation. Gut, in der Leichtathletik kann ich sagen, da haben wir ja eine klare Entscheidung, weil die Leichtathleten im Prinzip alle ausgeschlossen sind mit einer Ausnahme, weil die Athletin in Florida lebt und dort kontrolliert wurde. Aber es ist natürlich eine höchst unbefriedigende Situation, das entspricht nicht eigentlich den Vorstellungen, die sonst mit Olympischen Spielen verbunden sind.
"Jeder teilnehmende russische Athlet wird Fragen aufwerfen"
Barenberg: Jeden Tag hören wir, was die Bewältigung dieser Dopingkrise und Dopingaffäre angeht, von Regeln, die einmal so, einmal anders ausgelegt werden, es gibt massive Kritik an IOC-Präsident Thomas Bach. Wie kann es eigentlich sein, dass das alles so auslegungsbedürftig ist und dass die Spielregeln so interpretationsfähig sind?
Prokop: Na ja, ich glaube, manchmal hat es auch gar nicht so mit der Interpretationsfähigkeit zu tun. Nehmen wir zum Beispiel die IOC-Entscheidung, dass russische Athleten, die die Dopingsperre verbüßt hatten, trotzdem nicht zugelassen werden, während Athleten aus anderen Ländern wie zum Beispiel aus den USA – Sven Knipphals hat ja nun einige Beispiele genannt – hier trotz abgelaufener Dopingsperre starten dürfen. Das geht einfach schon aus diesem Gleichheitsgrundsatz nicht. Darüber hinaus hat das Internationale Sportgericht ja entschieden, dass solche Entscheidungen unzulässig sind, weil nach Verbüßen der Sperre nicht nachträglich noch eine weitere Sanktion auferlegt werden darf. Diese Entscheidungen sind ja auch dem IOC bekannt, deshalb, glaube ich, hat es nichts mit Interpretation zu tun, sondern es handelt sich einfach insofern um Fehlentscheidungen.
Barenberg: DOSB-Präsident Alfons Hörmann und auch der Vorstandsvorsitzende Michael Vesper haben ja gesagt, sie setzen darauf, dass mit der Eröffnung heute Abend der Sport und damit auch die Athleten, die Sportler im Mittelpunkt stehen. Kann das funktionieren?
Prokop: Natürlich, wenn die Dramaturgie der Wettkämpfe selbst beginnt, stellen diese vieles in den Schatten. Aber ich kann mir vorstellen, dass trotzdem natürlich jeder teilnehmende russische Athlet Fragen aufwerfen wird, die dann immer wieder zu Diskussionen führen. Und ich bin ein bisschen skeptisch, ob diesmal dieses System so funktionieren wird.
"Höchst unterschiedliche Qualitäten von Dopingbekämpfung"
Barenberg: Thomas Bach selber, der IOC-Präsident, hat ja davon gesprochen, dass er offen ist und bereit für eine vollständige Reform des Antidopingsystems. Wenn wir zurückgucken auf 20 Jahre Kampf gegen Doping und die ganzen Regeln und Einrichtungen: Was muss als Erstes angepackt werden?
Prokop: Nun, ich glaube, gerade die aktuellen Fälle zeigen, dass wir in den einzelnen Ländern höchst unterschiedliche Qualitäten von Dopingbekämpfung haben. Wir haben ja eine ganze Reihe von Ländern, bei denen selbst die WADA oder auch die internationalen Verbände zugestehen, dass hier das von der WADA erforderte Qualitätsniveau nicht erreicht wird. Wir müssen hier schauen, dass wirklich einheitlich internationale Bedingungen bestehen. Und hier, glaube ich, muss einfach die WADA gestärkt werden, finanziell, politisch, sodass sie wirklich in der Lage ist, in allen Ländern vergleichbare Bedingungen zu schaffen. Das ist schwierig genug, das ist eine riesige Herausforderung. Aber – und jetzt bin ich auch ein bisschen optimistisch – gerade das Beispiel Russland zeigt auch, dass hier einiges in Bewegung geraten ist. Es wäre ja noch, ich sage jetzt mal, vor einem Jahr undenkbar gewesen, dass ein Teil der russischen Mannschaft komplett ausgeschlossen wird, weil Verstöße gegen Dopingbestimmungen vorliegen. Ich denke, hier ist etwas in Bewegung geraten, es ist eine Dynamik entstanden. Und ich glaube, dieser Prozess kann nicht mehr gestoppt werden. Und insofern ist, wenn Thomas Bach sagt, er ist offen, glaube ich, das ist auch das Zeichen, dass allgemein das Bewusstsein gewachsen ist, dass nun wirklich etwas Überzeugendes geschehen muss.
Barenberg: Der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes heute hier live im Deutschlandfunk. Herr Prokop, vielen Dank für das Gespräch!
Prokop: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.