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OP-Stau wegen Corona
"Eine Behandlung, die zu spät erfolgt, ist auch ein Behandlungsfehler"

Rund 1.500 Operationen werden an der Berliner Charité pro Woche durchgeführt. In der Coronakrise wurden viele davon verschoben, um Intensivbetten für COVID-19-Fälle vorzuhalten. In der Kinderchirurgie droht sich für manche Patienten das Zeitfenster für eine OP mit optimalen Genesungschancen zu schließen.

Von Burkhard Birke | 01.07.2020
OP an der Berliner Charité
Wenn Operationen bei Kleinkindern nicht sofort durchgeführt würden, kann das deren gesamtes künftiges Leben beeinflussen, warnen Mediziner (picture alliance/ dpa/ Rolf Kremming)
Stephanie Märzhäuser ist Oberärztin und spezialisiert darauf, Kinder, die ohne natürlichen Darmausgang, also ohne Poloch auf die Welt kommen, sofort zu operieren. "An der Charité behandeln wir die größte Gruppe an Patienten mit angeborenen Fehlbildungen des Anorektums in Deutschland. Das bedeutet, wir operieren normalerweise in guten Zeiten jede Woche zwei oder drei Kinder und korrigieren da primär eine Fehlbildung." Erst seit ein paar Wochen kann sie den Säuglingen mit dieser Fehlbildung wieder helfen. Zu Zeiten der Corona-Einschränkungen durfte sie - wie viele andere Kollegen - nur überlebenswichtige Eingriffe durchführen. Das hat zu einem Operationsstau geführt.
"Wir haben Patienten, die neugeboren werden und die wir korrigieren wollen und müssen. Und es gibt Patienten, die ihren Operationstermin hatten, der aber abgesagt werden musste wegen Corona", berichtet Stephanie Märzhäuser. "Also für meine kleine Sektion sind das ungefähr 30 Patienten, für die es schwierig ist, OP-Termine zu finden."
Drei Krankenschwestern stehen bei einem Patienten an einem Bett im Krankenzimmer mit Geräten der Intensivmedizin.
COVID-19 - Die Nebenwirkungen der Pandemie
In Zeiten von COVID-19 werden Operationen, die nicht lebensnotwendig sind, aufgeschoben – um genug Betten auf den Intensivstationen vorhalten zu können. Und manche Patienten scheuen den Gang zum Arzt, weil sie eine Infektion fürchten.
Drastischer Rückgang von Operationen
Die Kinderchirurgin steht mit ihren Sorgen längst nicht allein da. 1.500 Operationen pro Woche werden normalerweise an der Charité insgesamt durchgeführt. Im April und Mai sank diese Zahl um die Hälfte. Die Zahl der Belegungstage in Krankenhäusern überall in Deutschland sank im Frühjahr drastisch um zehn Millionen Tage: Legt man eine durchschnittliche Behandlungsdauer von acht Tagen zugrunde bedeutet das: 1,25 Millionen weniger Fälle.
"Es wurden Behandlungen verschleppt, zum Beispiel von Herzinfarktpatienten oder Schlaganfallpatienten", kritisierte Astrid Zobel vom medizinischen Dienst neulich auf einer Pressekonferenz. "Krebspatienten wurden nicht rechtzeitig behandelt und das führt zum Schaden bis hin zum Tod von Patienten. Das heißt, wir müssen darauf achten, auch in Pandemiezeiten, dass alle Patientengruppen berücksichtigt werden und dass Behandlungen rechtzeitig stattfinden, weil eine Behandlung, die zu spät erfolgt, ist auch ein Behandlungsfehler."
Für viele der kleinsten Patienten an der Berliner Charité droht sich das Zeitfenster für eine OP mit optimalen Genesungschancen zu schließen. Oberärztin Stephanie Märzhäuser: "Wir haben gelernt, gerade wo Kontinenz ein wesentlicher Faktor fürs Leben ist, ist die ideale Zeit so früh wie möglich. Wenn es geht, korrigieren wir die Kinder am ersten Lebenstag. Falls dies nicht möglich ist, weil die Fehlbildung zu komplex ist, sollte die Fehlbildung so in der Altersgruppe von vier Wochen bis drei, vier Monaten korrigiert werden. Der Hintergrund ist, dass alle Strukturen des menschlichen Körpers auch lernfähig sind und je später das Kontinenzorgan benutzt wird, desto schlechter wird die Funktion möglicherweise für das gesamte Leben des Kindes."
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Es braucht unkonventionelle Lösungen
Die Zeit läuft der Chirurgin davon: Überall wird versucht, aufgeschobene Eingriffe nachzuholen und es mangelt an Kapazitäten, vor allem an Personal wie für Corona abgestellten Anästhesisten. Stephanie Märzhäuser sagt: "Ich würde mir wünschen, dass wir in dieser Phase unkonventionelle Lösungen finden. Eine mögliche unkonventionelle Lösung wäre eine Zusammenarbeit mit peripheren Krankenhäusern, dass man Patienten operiert und vielleicht im peripheren Haus nachbetreut oder in einem peripheren Haus operiert und das gemeinsam abrechnet. Also eine Lösung, die nicht dem normalen Abrechnungssystem entsprechen würde, flexibel, kreativ und für die Patienten so, dass die Wartezeiten kürzer werden."