Dienstag, 19. März 2024

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Oswald Eggers neuestes Gesamtkunstwerk
Traumreise zum Mississippi

Oswald Egger legt ein aufwendig gestaltetes Prosa-Epos über eine imaginierte Mississippifahrt vor. Seine sprachlich überbordende Geistesreise hat er mit eigenhändigen Aquarellen sinnfällig illustriert - ein wunderschönes Buch, bei dem auch die visuelle Ästhetik besticht.

Von Enno Stahl | 21.06.2021
Das Buchcover con Oswald Egger: "Entweder ich habe die Fahrt am Mississippi nur geträumt oder ich träume jetzt" vor einem Gemälde mit einem Mississippidampfer
Für seine Bücher erstellt Oswald Egger selbst Satz, Layout, Gestaltung, Umschlag, Zeichnungen und in diesem Fall Aquarelle. Seit 2011 ist der vieldekorierte Dichter Professor für Sprache und Gestalt an der Muthesius-Kunsthochschule in Kiel. (Cover Suhrkamp / Hintergrund imago/McPHOTO/Lovell)
Eigentlich ist Oswald Eggers neuestes Werk "Entweder ich habe die Fahrt am Mississippi nur geträumt, oder ich träume jetzt" ein Buch der Stunde. Denn in den Coronajahren 2020 und 2021 war unser aller Mobilität höchst eingeschränkt. Reisen fanden so oft nur in den eigenen vier Wänden statt, nämlich im Kopf. Genau das ist der Ausgangspunkt von Eggers Buch, der den titelnden Mississippi ebenfalls nur in Gedanken bereist:
"Das Buch vom Mississippi beginnt in meinem Zimmer. Häutige, verwischte Schatten, das zerwölkte Fließen der Pinsel und Strichelchen im aquatilen Takt, dass die geschwungenen Linien umeinanderschlingen, wie auf-, wie zukupfernde Wolken, und Tupfer, die verschlaufen: Diesig hat sich die Linie aufgetunkt, vom Horizont gemohrt, mit wässrigen Konturen unzusammen schwankend: Seit Jahren fahre ich so zur See."

Poetisch aufgeladene Kunstprosa

Typisch für Eggers poetisch aufgeladene Kunstprosa ist ihre Verdichtung, ihr Strömen aus sich selbst heraus: Die Worte scheinen eins aus dem anderen sich zu bilden, wirklich wie ein Fluss, der Mississippi. Und gleich zu Anfang des Textes offenbart Egger, dass seine Sprache tatsächlich so entsteht, als Bewusstseinsstrom, fast automatisch, ein Träumen in Worten: "Beim Lesen fließt mir von links blaue Tinte über das Papier, die Worte treiben nach oben, wie Blumen windbewegte Windrädchen: immerzu kritzeln neue herauf, strotzende verzopfte, die, sooft ich sie angeschwommen habe, zusehends verschwimmen und in Wirbelfäden und Stromlinien verwinden."
Egger ist ungeheuer sprachmächtig. Unter den Büchern dieser Saison dürfte seines den mit Abstand größten Wortschatz aufweisen. Seine Vokabeln entlehnt der Autor aus entfernten Zusammenhängen. Oft sind es geologische oder botanische Fachbegriffe, teilweise mittelalterliche Pflanzenbezeichnungen. Häufig kreiert Egger neue Morpheme. Manchmal sind sie komplett erfunden, manchmal aber auch nicht. Ein Wort wie "Schurfkraft" existiert tatsächlich. Auch "Sandlinsen" gibt es – aber nicht in dem Kontext, in dem sie hier auftauchen. Denn bei Egger werden "Sandlinsenfalten" daraus, was ebenso wie "Blockschutthaubenböden" Fachtermini für Erdbeschaffenheiten sein könnten. Faktisch aber sind das freie Wortbildungseffekte der Egger'schen Sprachfantasie.

Wucherndes Wortwurzelwerk

Dieses wuchernde Wortwurzelwerk, überbordend, weit verzweigt und üppig, ist dabei in ein striktes Formkorsett gezwängt – wie das Wasser ins Flussbett: Das Buch besteht, abgesehen von einem kurzen Intro und einem Outro, aus 386 durchnummerierten Einzeltexten, immer zwei pro Seite mit genau 17 Zeilen. Die Sprache gleicht dem, was sie beschreibt, dem wilden Wachstum, der unaufhaltsamen, vorwärtsdrängenden Kraft der Natur:
"Ich springe wie ein Gespinst zwischen Bucht und Ufer, und ich vernähe sie. Faulschlammschwämme grub ich mit der Pfote aus dem Lehm und klopfte sie zu zweien, beide Böden: Wie ein Schwingsieb pendelte der Rieselsand Bahnen. Und solche Auskolkungen vertiefen sich."

Eine Welt des Elementaren

Es ist eine Welt des Elementaren, Abstrakten, das Ich, das mitunter auftritt, ist gestaltlos. Zwar sind wohl in kaum zu dechiffrierender Weise Erfahrungen österreichischer Auswanderer nach Amerika aus den Jahren 1880 bis 1919 mit hineinverwoben, aber in Wahrheit steht die Sprache im Zentrum, mit ihren Assoziationen und ihrem Klangreichtum.
"Jetzt aber, Stein auf Stein, erlebe ich allein die ungewahre Stille: wie Lagen von Knollenmergeln, Knollenkalk und klüftigem Kalkschiefer eingeschaltet und die Gliederfigurinen zig-rissig sind, isterten, zerbröckeln und unvermengt oft zersplitterten zu eckigen Krümeln, ganz kieselhäutig siech, in schartkarrige, klingförmige Stücke."
Eine solche Elementardichtung kennt man in der deutschen Literatur nur von Autoren wie Arno Holz, seinem "Phantasus", oder von Otto Nebel mit seinen "Runenfugen". Leser können hier kein unmittelbares Verständnis von der Lektüre erwarten, sondern es gilt sich dem "Mainstream" der Sprache zu überlassen, dem gedanklichen Mississippi. Dessen historische Flussverläufe bilden die Grundlage für die sehr schönen Aquarelle, die Egger für das Buch gemalt hat. Sie sind für ihn von großer Bedeutung für den Arbeitsprozess gewesen, verrät der Autor, sie hätten ihn beim Schreiben getragen. So kommt alles in dem Buch zusammen, Sprache, Bild, Form – ein echtes Gesamtkunstwerk.
Oswald Egger: "Entweder ich habe die Fahrt am Mississippi nur geträumt, oder ich träume jetzt", Suhrkamp Verlag, Berlin, 280 Seiten, 28 Euro