Mittwoch, 24. April 2024

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Ott (SPD) zu Präsenzunterricht
"Jetzt hinschauen: Wie geht es jedem einzelnen Kind?"

Der schulpolitische Sprecher der SPD Jochen Ott begrüßt, dass in NRW der Unterricht wieder in Präsenz stattfinden soll. Allerdings sei jetzt nicht die Zeit, um Lernstände zu prüfen, sagte er im Dlf. Vielmehr müssten Lehrer schauen, in welcher Verfassung die Kinder seien und wo sie Förderung bräuchten.

Jochen Ott im Gespräch mit Sandra Schulz | 29.05.2021
Das Bild zeigt Jochen Ott (SPD bei einer Plenarsitzung im Landtag von Nordrhein-Westfalen
Jochen Ott (SPD) kritisierte im Dlf, dass es kein klares Konzept für die Rückkehr in den Präsenzunterricht gibt (imago stock&people)
In mehreren Bundesländern soll in der kommenden Woche wieder der volle Präsenzunterricht starten, auch in Nordrhein-Westfalen. Jochen Ott, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion in NRW und schulpolitischer Sprecher, begrüßte diesen Schritt im Deutschlandfunk-Interview. Er kritisierte jedoch gleichzeitig, dass es dafür kein klares Konzept gebe.
Er plädierte dafür, in den nächsten Wochen bis zu den Sommerferien keine Klassenarbeiten zu schreiben, sondern individuell auf die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen einzugehen und Förderpläne zu entwickeln. "Es geht auch um die Frage, wie gehen wir damit um, dass viele Kinder über einen langen Zeitraum keine Sozialkontakte hatten, dass sie sich in der Gruppe bewegen können, dass Grundkompetenzen, wenn man an den Spracherwerb denkt, bei manchen Kindern auch zurückgegangen sind in diesem Jahr."
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Damit Lehrerinnen und Lehrer dies leisten könnten, müssten sie an anderer Stelle entlastet werden, sagte Ott. Er kritisierte, dass Lehrer ab kommendem Montag (31.5.) "Testzentrum spielen" und dafür viele Zettel ausfüllen müssten. "Das bindet wieder Arbeitszeit der Lehrer. Und alle möglichen zusätzlichen bürokratischen Aufgaben, die Lehrer erfüllen müssen, die kann man jetzt auch zurückdrängen."

Das Interview in voller Länge:
Sandra Schulz: Nordrhein-Westfalen geht jetzt wieder in den vollen Präsenzunterricht, dort jedenfalls, wo die Inzidenz stabil unter 100 liegt – vor der ersten Impfung in dieser Altersgruppe. Ist das richtig?
Jochen Ott: Grundsätzlich ist es richtig, dass die Schulen wieder öffnen, die Politik hat von Anfang an gesagt, bevor die Wirtschaft wieder hochgefahren wird und das Einkaufen ermöglicht wird, gehen die Schulen auf. Das Versprechen ist ja nicht eingehalten worden, insofern ist es jetzt richtig, auch wieder in Präsenzunterricht zu gehen. Aber es kommt jetzt auch darauf an, was für ein Präsenzunterricht das ist. Und was ich kritisiere, ist, dass es in Nordrhein-Westfalen jedenfalls kein Konzept gibt, was in den nächsten fünf Wochen bis zu den Sommerferien eigentlich in den Schulen passieren soll.
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Schulz: Wie müsste so ein Konzept denn aussehen?
Ott: Ich gehe davon aus, dass die nächsten Wochen nicht geeignet sind, jetzt jeden Tag Klassenarbeiten zu schreiben, um irgendwie noch zu versuchen, eine Normalität für das Schuljahr darzustellen, sondern es geht jetzt darum, zu gucken: Wie geht es den Kindern? Wir wissen, dass die Lage sehr unterschiedlich ist, es gab Schulen, da hat der Distanzunterricht hervorragend geklappt, die sind digital sehr weit.
Es gab andere, da hat gar nichts stattgefunden, es gibt Mischmodelle. Und die Lage ist von Ostwestfalen bis in die Eifel extrem unterschiedlich. Deshalb geht es darum, jetzt genau hinzuschauen: Wie geht es jedem einzelnen Kind? Es müssen Förderpläne entwickelt werden. Wir müssen wissen, wo stehen wir eigentlich und wo muss dann anschließend massiv gefördert werden.

"Bundesmittel für die Förderung von Kindern"

Schulz: Sie haben jetzt gesagt, was Sie nicht für erforderlich halten – eben jetzt permanente Klassenarbeiten –, aber ist es dann nicht ganz richtig, wenn die Lage quasi von Schule zu Schule, von Klasse zu Klasse, von Kind zu Kind jetzt absehbar so unterschiedlich ist, da keine starren Konzepte drüberzustulpen?
Ott: Nein, starre Konzepte bringen nichts, wir müssen auf unsere Experten in den Schulen setzen, aber die brauchen natürlich eine Richtschnur. Und wenn die Richtschnur ist, eigentlich ist ja alles ganz normal, wie das im letzten Schuljahr ja permanent in NRW erzählt wurde, es ist eigentlich normal, es läuft ja alles prima und es gibt eigentlich überhaupt keinen Grund in B- und C-Szenarien zu denken, dann ist das für so ein großes System mit so vielen Schülerinnen und Schülern und Lehrerinnen und Lehrern problematisch.
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Deshalb muss man das Signal aussetzen, guckt euch jetzt die Kinder an, Pädagogik first, guckt euch an, was ist zu tun, weil wir wissen aus den vielen Studien der Kinderärzte, der Psychologen, dass es da große Herausforderungen gibt. Die Uni Köln hat uns gesagt, dass sie davon ausgeht, dass ein Drittel der Kinder Verhaltensauffälligkeiten haben werden – vor der Pandemie waren es rund 15 bis 18 Prozent.
Das bedeutet, wir müssen uns einen Überblick verschaffen, um dann auch zielgerichtet die Bundesmittel, aber auch zusätzliche Landesmittel für die Förderung von Kindern einzusetzen.

"Es geht nicht um die Zeugnisse in diesem Schuljahr"

Schulz: Aber was ist Ihre Idee, wie sollen sich die Lehrkräfte denn diesen Überblick verschaffen? Das ist ja nun in der Schule klassischerweise so, dass ein Überblick über die Leistung, über den Leistungsstand eben über Tests, über Arbeiten läuft.
Ott: Dass man sich anguckt, wie ist der Leistungsstand jedes Schülers ist, ist das eine, das andere ist, Klassenarbeiten zu schreiben, um Noten zu generieren, die dann scheinbar gerechte Zeugnisse vermitteln, das ist ja der Unterschied. Es geht jetzt hier um eine pädagogische Lernstandserhebung, welche Kompetenzen sind da, kognitiv, aber auch sozial-emotional, welche Auffälligkeiten sind da. Es geht nicht in erster Linie um die Zeugnisse in diesem Schuljahr, jedenfalls nicht für die Abschlussjahrgänge. Da haben uns alle Experten gesagt, dass das auch, was die Rechtssicherheit angeht, in diesem Jahr eher schwierig ist.
Es geht auch um die Frage, wie gehen wir damit um, dass viele Kinder über einen langen Zeitraum keine Sozialkontakte hatten, dass sie sich in der Gruppe bewegen können, dass Grundkompetenzen, wenn man an den Spracherwerb denkt, bei manchen Kindern, wie wir jetzt gehört haben, auch zurückgegangen sind in diesem Jahr. Wir haben die Situation bei den Erstklässlern, dass wir uns einen Überblick verschaffen mussten, welche Basiskompetenzen sind da.
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"In diesem Jahr wird niemand sitzen bleiben"

Schulz: Sie werfen hier eine ganze Reihe von Fragen auf uns, und unsere Hörerinnen und Hörer würden natürlich auch Antworten interessieren. Sie machen jetzt ein ganz großes Spektrum auf an zusätzlichen Aufgaben, die auf die Lehrkräfte zukommen, die ja sonst – vor Corona – auch schon im normalen Schulbetrieb eigentlich ausgelastet waren. Wo sollen die Kapazitäten herkommen, wer soll sich diesen Überblick verschaffen, wer soll dann individuell entscheiden, dieses Kind kann versetzt werden in die nächste Klasse, das Kind sollte vielleicht noch mal zurückgehen – wer soll das alles leisten?
Ott: Erstens wird in diesem Jahr sinnvollerweise niemand sitzen bleiben, weil das macht schlicht keinen Sinn. Es sei denn, die Eltern des Schülers oder der Schülerin und die Lehrer kommen zu dem Ergebnis, dass es sinnvoll ist. Und Sie haben recht, viele Lehrkräfte sind über sich hinausgewachsen, es gibt andere, da war das anders, aber die Mehrzahl der Lehrer hat alles gegeben. Deshalb muss man sie jetzt für die letzten fünf Wochen vor den Ferien in Nordrhein-Westfalen von allem entlasten, was sie zusätzlich bindet, was sie davon abhält, ihrer pädagogischen Verpflichtung nachzukommen, einen Einzelförderplan für ihre Kinder zu entwickeln, das können die Lehrer, das haben die gelernt.

"Bei uns spielen wir Testzentrum"

Schulz: Und was ist, was können die Lehrerinnen und Lehrer jetzt aktuell weglassen?
Ott: Fangen wir mal damit an, dass die ab Montag in Nordrhein-Westfalen Testzentren spielen müssen und für ihre Klassen jeweils Zettel ausfüllen müssen. In anderen Ländern wie Österreich hat das Ministerium dafür gesorgt, dass es einen Pass gibt, einen Testpass, da wird dann nach Testen dreimal in der Woche ein Aufkleber reingeklebt, dann ist die Sache erledigt.
Bei uns spielen wir Testzentrum. Das bindet wieder Arbeitszeit der Lehrer. Und alle möglichen zusätzlichen bürokratischen Aufgaben, die Lehrer erfüllen müssen, die kann man jetzt auch zurückdrängen. Und wenn sie nicht ständig jetzt Klassenarbeiten korrigieren müssen, sondern sich in ihren Fächern einen Überblick verschaffen, wo die Kinder stehen, dann haben wir, glaube ich, die Zeit sinnvoller genutzt.
Blick in einen dunklen, leeren Schulkorridor
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Schulz: Aber dass die Kinder getestet werden in den Schulen, das halten auch Sie grundsätzlich für richtig?
Ott: Ja, selbstverständlich. Und es ist auch absurd, dass man Schüler testet und ihnen dann sagt, am Nachmittag geht ihr noch mal in ein Testzentrum, um dann ein Zertifikat zu bekommen, um dann zum Friseur zu dürfen. Dass man das vernünftig organisiert, ist klar, aber es zeigt wie all die anderen Maßnahmen dieses Jahr, die Tests sind nicht organisiert, es ist viel zu bürokratisch, es wird immer komplizierter und am Ende – und das ist das Problem, was unsere Lehrerinnen und Lehrer haben –, sie sind am Ende diejenigen, die an der Basis immer alles ausbaden mussten und mit ihrer Arbeitszeit kompensieren.

"Viele Lehrkräfte sind einfach platt, kaputt"

Deshalb sind viele Lehrkräfte, viele Schulleitungen auch einfach platt, kaputt, weil sie so viel auch leisten mussten. Deshalb ist es umso wichtiger, dass man jetzt auch dann die nächsten drei, vier Wochen als Ministerium nutzt, für das neue Schuljahr Vorgaben zu entwickeln, weil eines ist klar:
Das nächste Schuljahr wird ja auch kein normales Schuljahr sein, sondern es wird ein Schuljahr sein, wo mindestens das erste Halbjahr, wenn nicht mehr, auch darauf verwandt werden muss, aufzuholen, nachzuholen – mit zusätzlichen Ressourcen –, dazu gibt es ja die zusätzlichen Programme auch aus Berlin, mit mehr Personal, aber auch mit Prioritätensetzung, die Kinder wieder in den Mittelpunkt zu stellen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.