Dienstag, 19. März 2024

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Parlamentswahl in Russland
"Ein traditionelles Set von Fälschungsmethoden"

Wenig überraschend liegt bei den Parlamentswahlen in Russland die Kreml-Partei "Geeintes Russland" nach bisheriger Auszählung weit vorn. Überschattet wird die Wahl von Betrugsvorwürfen. Roman Udot von der Bewegung zum Schutz der Wählerrechte "Golos" nennt konkrete Beispiele.

Roman Udot im Gespräch mit Thielko Grieß | 20.09.2021
Das Bild zeigt zwei Wahlkabinen während der Parlamentswahl in Russland. In der linken steht ein Mann, es sind seine Beine unter dem Vorhang zu sehen.
Die Duma-Wahl wird von zahlreichen Betrugsworwürfen überschattet (picture alliance/dpa/TASS | Alexander Ryumin)
Bei der Parlamentswahl in Russland liegt die Partei von Präsident Wladimir Putin "Geeintes Russland" vorn. Nach den bisher vorliegenden Auszählungsergebnissen kommt sie auf mindestens 49 Prozent der Stimmen, wie die Wahlkommission mitteilte. Bei der Wahl vor fünf Jahren waren es 54 Prozent. Wahlbeobachter melden jedoch zahlreiche Verstöße gegen das Wahlrecht. Roman Udot von der Bewegung zum Schutz der Wählerrechte "Golos" nannte im Dlf-Interview folgende Beispiele dafür:
  • Verletzung des Grundsatzes der freien Wahl
    Die Wähler sollten drei Tage lang Zeit haben, ihre Stimme abzugeben, angeblich um wegen der Corona-Pandemie Menschenansammlungen zu vermeiden. Doch es gab lange Schlangen vor den Wahllokalen. Die Menschen seien unter anderem von ihren Vorgesetzten schon morgens dazu gezwungen zu wählen.
  • Wahlzettel liegen bereits in den Urnen
    Die Wahlurnen in Russland sind transparent. Auf Bildern ist zu sehen, dass ganze Stapel von Wahlzetteln in den Urnen liegen. Das komme nicht vor, wenn die Zettel ordnungsgemäß nacheinander eingeworfen werden.
  • "Karussell"
    Leute seien in mehreren Wahllokalen aufgetaucht und hätten auch mehrfach abgestimmt.
  • Manipulation der "Sicherheitsbeutel"
    Da sich die Duma-Wahl in diesem Jahr über drei Tage erstreckt, werden die Stimmzettel über Nacht in sogenannten Sicherheitsbeuteln verwahrt. Dadurch ergeben sich vielfache Fälschungsmöglichkeiten der Dokumente. Auf Fotos sind beispielsweise aufgerissene Umschläge zu sehen.
  • Aussortierung von Kandidaten
    Die russische Regierung hat im Vorfeld der Wahl innerhalb eines Tages neue Gesetze erlassen, um Kandidaten zu kriminalisieren. Diese konnten daraufhin nicht mehr kandidieren, und so auch nicht mehr gewählt werden
Wahlen in Russland, 19. September 2021: Eine Informationswand zeigt Dutzende Live-Aufnahmen aus Wahllokalen.
Wahlbeobachter in Russland - "Wir werden ständig gejagt"
In Berichten über die Wahlen in Russland wird regelmäßig eine Nichtregierungsorganisation genannt: "Golos" deckt landesweit Wahlfälschungen auf. Dabei helfen rund 20.000 Ehrenamtliche.
Das Interview im Wortlaut:
Thielko Grieß: Welche Wahlrechtsverstöße beobachten Sie?
Roman Udot: Der erste Verstoß, den wir schon morgens beobachten, ist die Verletzung des Grundsatzes der freien Wahl. Die Leute werden schon morgens dazu genötigt und gezwungen. Es gab lange Schlangen vor den Wahllokalen. Diese Leute wurden von ihren Vorgesetzten gezwungen abzustimmen. Es widerspricht der offiziellen Begründung, weshalb drei Tage lang abgestimmt wird – angeblich, um wegen Corona Menschenansammlungen zu vermeiden.
Der Kreml im Juli 2021
Parlamentswahlen in Russland - Der Sieger steht schon fest
Vom 17. bis 19. September wurde in Russland ein neues Parlament gewählt. Alle Umfragen haben bereits im Vorfeld darauf hingedeutet, dass die Kremlpartei "Einiges Russland" die Abstimmung gewinnt.
Darüber hinaus gibt es ein für unser Land schon traditionelles Set von Fälschungsmethoden. Uns liegen Bilder vor, weil Leute annahmen, die Beobachtungskameras würden nicht funktionieren. Es gibt sogar offizielle Bilder, die zeigen, wie ganze Stapel von Wahlzettel in den Urnen liegen. Die Urnen sind bei uns transparent. Die Stapel sind noch intakt. Das kommt nicht vor, wenn die Zettel ordnungsgemäß nacheinander eingeworfen worden wären. Hier und da wurden einzelne Ergebnisse annulliert.
Wir beobachten auch das, was man bei uns "Karussell" nennt. Leute tauchen in mehreren Wahllokalen auf, stimmen also mehrfach ab.

"Digitale Wahl ist eine der gefährlichsten Ideen"

Grieß: In diesem Jahr gibt es in sieben Regionen auch die Möglichkeit, digital abzustimmen. Wie anfällig ist diese digitale Wahl für Manipulation?
Udot: Meiner Einschätzung nach ist die digitale Wahl eine der gefährlichsten Ideen, die sich unser Staat für Wahlen ausgedacht hat. Er will ja ohnehin zu 100 Prozent zum digitalen Wählen übergehen. Es gibt Fakten, die unsere Position der Vorsicht stützen: Aktuell, zum jetzigen Zeitpunkt, haben wir zwar keine Informationen über Wahlrechtsverstöße in diesem Bereich. Aber wir wissen, dass das russische System des digitalen Wählens aus zwei Teilen besteht. Das ist zum einen die Authentifizierung – also die Feststellung der Identität des Wählers. Normalerweise geschieht das mit dem Ausweis vor der Wahlkommission im Wahllokal.
Ein Beispiel vom Beginn des Sommers: Die Kreml-Partei "Geeintes Russland" hat Vorwahlen durchgeführt. Es kam zu verschiedenen Skandalen: So gelang es wem auch immer von außen, in das System einzudringen und zum Beispiel die Wohnorte von Bürgern zu ändern und damit das Wahlergebnis an einem ganz anderen Ort zu beeinflussen. Die Authentifizierung war nicht zuverlässig. Bei der Wahl jetzt wird aber dasselbe System eingesetzt. Und wie immer erklärt die Staatsmacht, dass alles von Experten überprüft sei, aber das ist alles Quatsch. Das kann alles gehackt werden. Von wem, wissen wir nicht.
Das Bild zeigt Roman Udot, Vorstandsmitglied der Bewegung zum Schutz der Wählerrechte/Golos, am 22.03.2018 in Berlin
Roman Udot ist Vorstandsmitglied der Bewegung zum Schutz der Wählerrechte "Golos" (IMAGO / allefarben-foto)
Das zweite ist, dass wir bei den Vorwahlen der Partei "Geeintes Russland" Fälschungen der Ergebnisse beobachtet haben. Ein Beispiel, das ich kenne: Es gab 23 Kandidaten. Und von ihnen hatten 18 am Ende dieselbe Anzahl von Stimmen, nämlich 185. Darunter waren bekannte Schauspieler und wirkliche Nobodys. So etwas ist statistisch unmöglich, das sind keine Zufälle – es sei denn, das Ergebnis ist gefälscht. Das ist alles so vorgekommen.

"Sicherheitsbeutel wurden einfach aufgerissen"

Grieß: In diesem Jahr gibt es noch eine Neuheit: Die Wahl dauert drei Tage. Erleichtert dies Fälschungen?
Udot: Ja, zweifellos. Ich denke, das ist der wichtigste Grund, weshalb es so ist. Warum Corona keine Erklärung ist, habe ich ja erklärt. Schon nach der ersten Nacht haben wir ein großes Spektrum an Problemen festgestellt. Betroffen sind die sogenannten Sicherheitsbeutel, in denen die Wahlscheine über Nacht aufbewahrt werden. Sicherheitsbeutel, das ist ein Begriff der Propaganda, um den Leuten Ehrfurcht abzunötigen. Aber tatsächlich sind es normale Tüten, die bei der Post benutzt werden, zum Beispiel bei der Zustellung von Dokumenten. Die Leute wissen sehr gut, wie man den Verschluss aufweicht, es gibt Meldungen darüber, wie Klebeband verwendet wird, das keine Spuren hinterlässt, wenn man es öffnet und wieder schließt. Es gibt Fotografien von der Fälschung von Dokumenten dieser Beutel – also, es gibt viele Möglichkeiten mit diesen zauberhaften Sicherheitsbeuteln und ihren Plomben.
Manche wurden einfach aufgerissen. Und andere wurden nachts von irgendjemandem irgendwo aufbewahrt. Den Wahlbeobachtern wurde keine Gelegenheit gegeben, dem nachzugehen. In Sankt Petersburg wurden Sicherheitsbeutel mit gefälschten Seriennummern entdeckt. Das wurde offenbar vorbereitet. Deshalb: Die Nacht ist für Gauner eine große Chance, die für sie notwendigen Wahlergebnisse zu erhalten.
Außerdem bedeuten die drei Tage einen Verschleiß an Leuten. Auch an mir und unseren Leuten, wenn ich ehrlich bin. Wenn wir früher zwei, drei Tage nicht geschlafen haben, dann sind es jetzt sechs Tage.
Buch über Russlands berühmtesten Oppositionellen - Was Alexej Nawalny will
Bei der russischen Parlamentswahl im September 2021 stand der bekannteste Oppositionelle Alexej Nawalny nicht auf dem Wahlzettel. Er sitzt in einem Straflager ein. Russlandforscher haben nun ein Buch über ihn veröffentlicht.
Grieß: Es gibt eine weitere Geschichte. Offenbar werden Wähler aus der Ostukraine nach Russland gefahren, man händigt ihnen einen russischen Pass aus, dann stimmen sie ab. Was wissen Sie darüber?
Udot: Viele Journalisten interessieren sich dafür, ob die Wahl wegen solcher Vorkommnisse legitim oder illegitim ist, inwiefern der Westen diese Wahl nicht anerkennt. Doch ich muss Sie da gleich enttäuschen: Denn es gibt eine große Zahl von russischen Staatsbürgern, nennen wir sie mal so, die etwa in Südossetien oder Abchasien leben - also Regionen, über die früher Georgien die Kontrolle hatte - und die schon in früheren Jahren russische Pässe und damit die russische Staatsbürgerschaft bekommen haben. Oder die Leute, die massenhaft in Transnistrien - dem Gebiet zwischen der Republik Moldau und der Ukraine - abstimmen. Oder nach dem, was 2014 auf der Krim geschehen ist, war es besonders gut sichtbar: Niemand im Westen hat zu keiner Zeit die Wahlen in Russland insgesamt infrage gestellt, ob die Wahl anerkannt wird, auch wenn zwei Millionen Menschen auf der Krim abstimmen.
Also: Selbst diese großen Einschlüsse von Territorium haben den Westen nie davon abgehalten zu versuchen, mit dem Regime Putins irgendwie eine gemeinsame Sprachebene zu finden. Ich meine, das ist eine heuchlerische Situation aus Sicht russischer und europäischer Politiker.

"In aller Regel tut die Polizei jedoch nichts"

Grieß: Wenn Sie diese vielen Meldungen über Wahlrechtsverstöße erhalten, wie geht es dann weiter, was passiert dann?
Udot: In der Vergangenheit ist es uns praktisch nirgends gelungen, dass jemand eine Strafe erhält. Selbst strengen wir keine Strafverfahren an, wir formulieren Beschwerden über begangene Verbrechen. In aller Regel tut die Polizei jedoch nichts. Wenn die öffentliche Aufmerksamkeit so groß wird, dass sie doch handeln muss, eröffnet sich ein Korridor des Übereinkommens. Derjenige, der die Verbrechen begangen hat, räumt sie vor Gericht ein und erhält dafür eine minimale Strafe.
Bei uns gibt es ein raffiniertes Schlupfloch: Wer die Macht in den Händen hält, kann mit der Staatsanwaltschaft, der Polizei und Richtern Absprachen treffen. Man erhält diese kleine Strafe, gilt aber dann nicht als vorbestraft. Dieses Übels bedient sich die Staatsmacht, um die zu schützen, die ihre Aufträge ausgeführt haben. Das sind dann kleine Geldstrafen, die sie erstattet bekommen. Niemand ist dafür in Russland ins Gefängnis gekommen.
Ab und zu wenden wir uns an Wahlkommissionen. Die kommen nie zu dem Schluss, dass es Verstöße gab, das ist hoffnungslos. Die Zentrale Wahlkommission in Moskau ist, denke ich, ist ein riesiges Organ, dass dem Reinwaschen der Wahl dient. Damit sie sagen kann: Alles ist super. Und wir bei Golos seien Ausländische Agenten, wir würden lügen und Aufträge des Westens ausführen, um die Wahl in Russland zu diskreditieren.
Zwei junge Frauen auf einem Zebrastreifen in der russischen Hauptstadt Moskau, aufgenommen im August 2021
Russlands Jugend - Sie hat keine Wahl
Bei der Parlamentswahl in Russland liegt die Partei von Präsident Putin "Geeintes Russland" nach bisherigen Auszählungen vorn. Oppositionskandidaten wie Alexei Nawalny durften nicht antreten. Besonders den Jüngeren fehlte es an Alternativen.
Grieß: Wie bewerten Sie den Aufruf Nawalnyjs zum Smarten Abstimmen – also in jedem Wahlkreis nicht dem Kandidaten der Kreml-Partei Geeintes Russland die Stimme zu geben, sondern einem anderen, auch wenn der zur Systemopposition gehört?
Udot: Wir als Wahlbeobachter müssen unabhängig und unvoreingenommen sein. Deshalb will ich das nicht loben, obwohl mir als Bürger vieles daran gefällt. Ich antworte aus Sicht des Wahlrechts: Wir gemeinsam könnten jetzt noch zwei Stunden dafür aufwenden zu erklären, wie die Staatsmacht schon vor der Wahl die für sie guten Resultate erzielte, indem sie sehr viele mögliche Kandidaten nicht zuließ, indem sie innerhalb eines Tages neue Gesetze erließ und aus normalen Leuten solche machte, die (angeblich) Verbrechen begingen und deshalb nicht mehr antreten durften. Mit diesen Machenschaften haben sie eine riesige Zahl von Menschen ihres Wahlrechts beraubt. Sie konnten nicht mehr kandidieren, sie konnten keinen echten Wahlkampf mehr führen.
Jetzt treten gegen die Staatsmacht nur noch B-Kandidaten an. Die Populären, und Nawalnys Regionalbüros hatten wohl die größte Unterstützung, können nicht mehr gewählt werden. Wer also sie wählen wollte, hat nun keinen mehr, der ihn vertritt. Bereits das verletzt die Regeln von ehrlichen, freien und offenen Wahlen. Schon deshalb ist es schwierig, diese Wahl anzuerkennen – selbst wenn der Verlauf dann korrekt gewesen wäre, wozu es leider nicht kam.

"Die OSZEler werden getäuscht und abgelenkt"

Grieß: In diesem Jahr sind Ihre internationalen Kollegen, die Wahlbeobachter der OSZE nicht nach Russland gereist. Inwieweit erschwert das Ihre Arbeit?
Udot: Wenn ich mich nicht irre, ist dies das dritte Mal ohne OSZE-Beobachter. Was die Wahlergebnisse betrifft, habe ich keine Unterschiede bemerkt, ob sie da waren oder nicht. Tatsächlich sehen die OSZE-Leute potemkinsche Dörfer. Wir wissen genau, wie die Geheimdienste den Beobachtern folgen. Die Geheimdienste kündigen vorher an, wo sich die OSZE-Wahlbeobachter aufhalten werden, sie trainieren die lokalen Wahlkommissionen, wie die sich zu verhalten haben, wenn ein Wahlbeobachter ein Wahllokal betritt. Dann finden dort keine Verstöße statt. Die OSZEler werden getäuscht und abgelenkt. Sich sozusagen in der Küche der russischen Wahlen zurechtzufinden, ist schwierig. Sie bietet sehr viele verschiedene Gerichte. Um die Manipulationen zu erkennen, braucht es oft einen Gourmet.
Aber die OSZE-Leute sind auch sinnvoll, wenn sie draußen im Land unterwegs sind. Sie richten einen Scheinwerferstrahl auf die Dunkelheit, wenn sie kommen, dann funkelt es um sie herum. Die Staatsmacht versucht das Mögliche, damit es zu weniger Skandalen kommt und Fragen der OSZE befriedigend zu beantworten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.