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Podcasts 2019
Über Hitler, Mutta und die Dolly

Wir haben unseren Podcast-Kritiker herausgefordert: Das Jahr 2019 zusammenfassen, mit nur drei Podcast-Kritiken. Seine Auswahl: „Mensch Mutta“, „Faking Hitler“ und „Dolly Parton’s America“. Warum sind ausgerechnet diese drei Produktionen die Podcasts des Jahres?

Von Sandro Schroeder |
Der Journalist Gerd Heidemann hält bei einer Pressekonferenz im April 1983 ein Exemplar der angeblichen "Hitler-Tagebücher" hoch. Im Hintergrund hängen Titelbilder der "Stern"-Ausgabe zu der Veröffentlichung.
Der Podcast "Faking Hitler" geht einem alten Fall nach: Gerd Heidemann präsentiert auf der Pressekonferenz des Hamburger Magazins "Stern" am 25. April 1983 die angeblichen "Hitler-Tagebücher" (picture-alliance/ dpa)
Mein erstes Podcast-Highlight 2019 ist keine Produktion eines großen Teams, hinter diesem Podcast steht auch kein großes Medienhaus und auch keine große Podcast-Plattform. Der für mich bemerkenswerteste deutsche Podcast in diesem Jahr ist eine kleine, aber feine Privatproduktion:
Ausschnitt aus "Mensch Mutta. Ein halbes Leben in der DDR":
Katharina Thoms: "Köln 1988."
Mutta: "Sie haben alle gedacht, jetzt bleiben wir da, meine Schwester und ich. Aber die Kinder waren ja hier."
Katharina Thoms: "Meine Mutter und meine Tante, für eine Woche aus der DDR zur Westverwandschaft."
Mutta: "Und ich meine, wenn ich mit Kindern rauswollte, hätte ich einen Ausreiseantrag stellen müssen. Denn soll ich in’s Gefängnis gehen? Kind ins Heim?
Katharina Thoms: "Mensch Mutta. Ein halbes Leben in der DDR."
Geschichtsunterricht trifft Familienfotosammlung:"Mensch Mutta".
"Mensch Mutta" ist kein typischer Gesprächspodcast nach dem Muster: "Ich interviewe mal meine Verwandten." Sondern er ist ein liebevolles Porträt einer Mutter, eines DDR-Lebens. Mal untersucht mit dem kritischen Blick einer Journalistin, mal mit dem befangenen Blick einer Tochter. Geschichtsunterricht trifft Familienfotosammlung. Und "Mensch Mutta" verbindet dabei das Beste aus beiden Welten.
Ausschnitt aus "Mensch Mutta. Ein halbes Leben in der DDR":
"Immer wenn ich zu Besuch war in dieser Einraumwohnung, dann war jetzt auch mein Mikrofon dabei. Um rauszufinden, was meine ‘Ostmutter‘ so ausmacht, habe ich das gemacht, was ich sowieso immer mache, als Journalistin. Ausfragen. Nachfragen. Anderthalb Jahre lang."
"Mensch Mutta" leistet, was mir persönlich als ostdeutscher Nachwendegeborener gefehlt hat bei der ganzen Feiertagsberichterstattung rund um 30 Jahre Mauerfall: Der Podcast ist ein neugieriger, aber kritischer Blick auf Alltägliches, auf Leben und Realitäten in der DDR. Auf die unspektakulären, aber genau deswegen bemerkenswerten Momente, die so nicht in den Geschichtsbüchern und Medien stattfinden. Zum Beispiel, wie Mutter Thoms nicht mehr Kindererzieherin werden kann, weil sie einmal ein klassenfeindliches Lied in der Schule sang.
Ausschnitt aus "Mensch Mutta. Ein halbes Leben in der DDR":
"Meine Mutter. Die immer Bauchschmerzen hatte vor offiziellen Terminen. Und vor allem: Die ihr halbes Leben in der DDR verbracht hat. Was soll daran schon spannend sein?! Keine Fluchtversuche, auch nicht bei der Stasi, nicht in der Partei. Und auch keine oppositionelle Künstlerin. Mensch Mutta, ziemlich normal, oder?"
Auch Monate nachdem ich den Podcast gehört habe, werde ich das Gefühl nicht los: Der Podcast hat mich berührt. Wie viel oder wie wenig habe ich eigentlich selber in meiner Familie nachgefragt? Wie viel weiß ich über das Familienleben in der DDR, jenseits der bekannten Anekdoten? "Mensch Mutta" wurde mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet, eben weil das persönliche Erzählen von "Mutta" und Tochter Thoms anregt, zum Nachdenken und Nachfragen.
Mein Flop des Jahres…
Ausschnitt aus "Faking Hitler":
Gerd Heidemann: "Conny, was ist los?"
Konrad Kujau: "Hach."
... ist der "Stern"-Podcast "Faking Hitler".
Ausschnitt aus "Faking Hitler":
Sprecher: "Der 25. April 1983 ist einer der wichtigsten, spannendsten und skurrilsten Tage der deutschen Pressegeschichte. An diesem Tag stellte der 'Stern' auf einer internationalen Pressekonferenz eine Jahrhundertstory vor. Der Star-Reporter Gerd Heidemann hatte in jahrelanger, mühsamer Recherche gefunden, was niemand für möglich hielt: die Original-Tagebücher von Adolf Hitler. Das Problem war nur: Die Bücher waren Fälschungen."
Mein Problem: Ich hatte das Gefühl, gleich zu Anfang des Jahres in einen zähen Podcast-Kaugummi getreten zu sein. So langatmig war "Faking Hitler" mit seinen zehn Folgen, gestreckt und gezogen über sechseinhalb Stunden Hörzeit, mit häppchenweiser Veröffentlichung über zwei Monate.
Ausschnitt aus "Faking Hitler":
Heidemann: "Ja, schönen guten Abend, Herr Fischer? Hier ist Heidemann."
Sprecher: "Da ist er, der erste Kontakt. Es ist der 15. Januar 1981. Und Gerd Heidemann hat es endlich geschafft, den Mann ans Telefon zu bekommen, den er unbedingt sprechen will. Den Mann, der …"
Schlechte Tonqualität, handwerkliche Schnittfehler, schwaches Storytelling. Alles sehr ärgerlich bei "Faking Hitler", aber das größte Problem: Der "Stern" und der "Gruner und Jahr"-Verlag haben mit dem Podcast einfach eine Chance verpasst. Der Podcast erschien nur wenige Wochen nachdem Claas Relotius aufgeflogen war, der Ex-"Spiegel"-Journalist mit all seinen Lügen. Das Timing war Zufall, "Faking Hitler" war schon lange im Voraus geplant. Und der Podcast bleibt auch viel lieber im Historischen.
Ausschnitt aus "Faking Hitler":
Sprecher: "Wir sprechen mit Zeitzeugen, mit Experten, mit Sammlern. Wir haben die echten, falschen Tagebücher wieder aus dem Tresor geholt und gelesen. Und wir hören exklusive Originalaufnahmen der Telefonate zwischen Gerd Heidemann und Konrad Kujau. Noch nie wurde dieser Fall mit so viel authentischem Material, mit diesen Dokumenten der Zeitgeschichte aufgerollt."
Der Podcast hätte wenigstens versuchen können, Vergangenheit und Gegenwart in neue Kontexte zu bringen, einzuordnen. Dem vielerzählten Hitler-Tagebücher-Skandal einerseits und dem vieldiskutierten Relotius-Skandal andererseits, beidem hätte "Faking Hitler" eine neue Interpretationsebene geben können. Stattdessen: viel Wiederkauen von Altbekanntem, zu wenig Ambition für Kreatives. Vor allem: viel zu wenig Selbstkritik beim "Stern". Und - obwohl hier niemand ermordet wird - "Faking Hitler" fühlt sich mit seiner Recherche des Gewesenen wie der prominenteste Vertreter an, den das mittlerweile lieb- und einfallslose True-Crime-Podcast-Genre in diesem Jahr hervorgebracht hat.
Ausschnitt aus " Dolly Parton’s America":
Jad Abumrad: "Let’s go to 1973. October 31st of that year. Dolly debut’s her new song on the Porter Wagoner Show."
Zum Glück erschien dann aber gegen Ende des Jahres noch eine Podcast-Ausnahmeerscheinung. Über eine Ausnahmeerscheinung in der Musik. Ein Podcast, der hinwegtröstet über alle Flops und halbgaren Starts des ganzen Jahres. Zum Glück gab es noch: "Dolly Parton’s America".
Ausschnitt aus " Dolly Parton’s America":
Jad Abumrad: "What is Dolly Parton’s America?"
Dolly Parton: "Well, Dolly Parton’s America would be the same as Dolly Parton’s world".
Jad Abumrad: "Hey, I’m Jad Abumrad. Let me explain, how I got here, to a podcast about Dolly Parton. I grew up in Tennessee."
Endlich wieder ein schräger Podcast, dessen Konzept und gesamte Staffel nicht schon im ersten Trailer komplett durchschaubar sind, weil schon 1.000 Mal gehört.
Ausschnitt aus " Dolly Parton’s America":
Jad Abumrad: "But what ended up happening is that in simply talking with her about her life, and talking with people about her, I fell into so many different rabbitholes. Profound-questions-of-America-kind-of-rabbitholes."
Dolly Parton als Seismograph der US-amerikanischen Gesellschaft, als Musik-Urgestein aus einer anderen Zeit. Dolly Parton als eines der letzten verbindenden Elemente in einer sehr polarisierten Welt.
Für mich klang das erstmal nach einer vollkommen absurden These. Aber der Podcast hat mich überzeugt: Die bisher veröffentlichten Folgen von "Dolly Parton’s America" sind ein fesselnder Tauchgang. In eine mir musikalisch unbekannte, fremde Welt. Und so wie Dolly Parton mit ihrer Karriere auf und neben der Bühne Maßstäbe setzte, so beeindruckend ist auch der Podcast über sie. Wer sich für 2020 vorgenommen hat, mehr Podcasts zu hören: "Dolly Parton’s America" ist ein Podcast-Höhepunkt aus diesem Jahr, über den noch im kommenden Jahr gesprochen werden wird.