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Kommentar zur Tusk-Regierung
Zeitenwende in Polen

Donald Tusks Kabinett hat in Polen die Regierungsgeschäfte übernommen. Lange politische Flitterwochen werden dem Drei-Parteien-Bündnis nicht vergönnt sein, meint Peter Sawicki. Zu unterschiedlich sind die Koalitionäre, und die Aufgaben sind riesig.

Ein Kommentar von Peter Sawicki |
Donald Tusk steht an einem Rednerpult.
Nannte den Regierungswechsel in Polen einen "Wendepunkt in Polens Geschichte": Donald Tusk. (picture alliance / ZUMAPRESS.com / Attila Husejnow)
Polen ist ein Land, das von historischen Daten lebt. Die Orientierung an Schicksalsmomenten und Wendepunkten in der eigenen Geschichte ist ein Merkmal seiner Identität. Es überrascht deshalb nicht, dass der Regierungswechsel in Warschau schon jetzt mit großem historischen Pathos unterfüttert wird.

"Wendepunkt in Polens Geschichte"

Als „Koalition des 15. Oktober“ bezeichnet der frühere und neue Ministerpräsident Donald Tusk das von ihm angeführte breite Bündnis. Er bezieht sich auf das Datum der Parlamentswahl, als im Zuge einer beispiellosen Mobilisierung 75 Prozent der polnischen Wahlberechtigten zu den Urnen eilten, um die PiS-Regierung aus dem Amt zu jagen. Dafür dankte Tusk in dieser Woche und nannte den Wahlsieg einen Wendepunkt in Polens Geschichte, ähnlich dem Ende des Kommunismus 1989. Er hätte auch sagen können: Polen erlebt eine Zeitenwende.
Die politische Leistung, die zum Machtwechsel geführt hat, ist beachtlich. Tusks Bürgerkoalition, der zentristische Dritte Weg und die Linke haben die Nationalkonservativen besiegt, obwohl diese sich Teile des Staats - geradezu im Mafia-Stil - angeeignet hatten.
Das Bündnis hat nach dem Wahlsieg Geduld bewiesen, als PiS – durchdrungen von Arroganz und Realitätsverweigerung – nicht von der Macht lassen konnte. Als am Montag dann der neue Sejm dem bisherigen Premier Mateusz Morawiecki ebenso krachend wie erwartungsgemäß das Misstrauen aussprach, schauten in Warschau Tausende in Kinosälen zu und jubelten.

Ein beispielloser Kraftakt

Lange politische Flitterwochen werden der neuen Regierung aber nicht vergönnt sein. Den von PiS acht Jahre lang durchgedrückten Staatsumbau rückgängig zu machen, wird ein beispielloser Kraftakt. Gerichte müssen entpolitisiert, staatliche Schulen zu einem Ort frei von nationalistischer Ideologie werden, wo sich Lehrkräfte wertgeschätzt fühlen. Die öffentlichen Medien müssen so umgestaltet werden, dass sie den Namen auch verdienen. Und nicht nur Europa wartet darauf, dass Polen als außenpolitischer Akteur nicht mehr auf Destruktion, sondern Gestaltung aus ist.
Vieles von dem wird nicht über Nacht zu realisieren sein. Nach wie vor kann PiS auf treue Diener in Schlüsselpositionen vertrauen – sei es in der Zentralbank, dem Verfassungsgericht oder im Präsidentenpalast. Dort wird noch eineinhalb Jahre lang Andrzej Duda alles daransetzen, das Erbe der Nationalkonservativen bestmöglich zu verteidigen.
Doch selbst wenn es die neue Regierung zügig schafft, Projekte in Taten umzusetzen, wird sie zwangsläufig einen Teil ihrer Wählerschaft enttäuschen müssen. Zu unterschiedlich sind die drei politischen Partner. Bürgerkoalition, Linke und Dritter Weg vereinigen Marktliberale, Sozialaktivistinnen und konservative Landwirte. Wie auf dieser Grundlage zum Beispiel ein liberales Abtreibungsrecht entstehen kann, wofür viele polnische Frauen auf die Straße gegangen sind, ist noch nicht zu erkennen.

Auf Augenhöhe Entscheidungen erklären

Viel wird daher von einer wirksamen Kommunikation der neuen Regierung abhängen, die auf Augenhöhe ihre Entscheidungen erklärt. Ohnehin muss sie zerrüttetes Vertrauen in den polnischen Staat stärken. Wenn sich Tusks Bündnis auf Gemeinsamkeiten konzentriert und vor allem zerstörte demokratische Institutionen repariert, kann ihr das gelingen.
Für Europa ist Donald Tusk ein Rettungsanker, um einer drohenden reaktionären Zeitenwende die Stirn zu bieten. Der ungarische Diktatorenfreund Viktor Orban wird der EU noch erhalten bleiben. In der Slowakei und den Niederlanden haben Europafeinde Wahlen gewonnen. Eine umso größere Rolle fällt damit dem Europa-Veteranen Tusk zu. Mit ihm hat die Ukraine in einer kritischen Phase wieder einen verlässlichen Alliierten an ihrer Seite.

EU: Auch Tusk wird hart verhandeln

Doch Brüssel muss etwa bei Themen wie Migration oder EU-Reformen auch bei Tusk mit harten Verhandlungen rechnen. Ein allzu willfähriger Partner wird auch er nicht werden. Ohnehin wird Polen viel mit sich selbst beschäftigt sein. Denn nur wenn Tusk es schafft, durch effektives Regieren den abgewählten PiS-Leuten das Wasser abzugraben, wird der 15. Oktober 2023 wirklich zu einer polnischen Zeitenwende. Anderenfalls könnte sich der Wahlsieg von Tusks Koalition nur als historisches Strohfeuer erweisen. Das wäre für Polen und Europa ein Desaster.