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Politik, Macht, Sex
"Frauen, ihr seid gleichberechtigt"

Erst #Aufschrei; jetzt #MeToo: Die Publizistin Ursula Kosser hat in der Sexismus-Debatte eine fehlende Differenzierung kritisiert. "Man muss Wichtiges von ein bisschen weniger Wichtigem unterscheiden", sagte sie im Dlf. Männer und Frauen müssten aufhören, sich zu beschimpfen und zu beleidigen - sonst ändere sich nichts.

Ursula Kosser im Gespräch mit Birgid Becker | 05.11.2017
    Mit einem Skandal in Hollywood hat es angefangen - jetzt diskutiert auch Deutschland wieder über Sexismus. #MeToo - Ich auch - heißt das Hashtag, unter dem Frauen ihre Erfahrungen damit teilen.
    Hashtag #MeToo (Symbolbild) (dpa / Britta Pedersen)
    Birgid Becker: Vom Filmproduzenten in Hollywood mit mutmaßlich strafrechtlich relevanten Taten bis hin zum Rücktritt des britischen Verteidigungsministers aus Gründen eines angegrabschten Knies – so zumindest die offizielle Begründung, die selbst die Besitzerin des inkriminierten Knies überrascht hat -, die neue Sexismus-Debatte sammelt immer neue Namen, neue Vorfälle, neue Variationen. Aber neu ist nur die Debatte. Was vielen Frauen und auch einigen Männern an alltäglichem Sexismus begegnet, ist alles andere als neu; das hat eine lange und üble Tradition. Welche genau? Was sind die Wurzeln und was sind die Bedingungen dafür, dass Sexismus so richtig gedeihen kann?
    – Darüber habe ich mit Ursula Kosser gesprochen, die über ihre Erfahrungen mit Sex und Macht im alten Bonner Politikbetrieb ein Buch geschrieben hat – Erfahrungen, die sie als Journalistin in den 80er- und 90er-Jahren gemacht hat, als politische Berichterstattung alles war, nur keine Frauensache. Hat sich eigentlich nichts geändert seitdem? Und ist sie es nicht langsam leid? Das habe ich Ursula Kosser vor der Sendung gefragt.
    Ursula Kosser: Ja, es entwickelt sich so eine gewisse Müdigkeit. Das muss ich tatsächlich sagen. Und dann aber auch wieder dieses völlige verdatterte Zuschauen: Nein, das kann doch nicht sein, dass solche Geschichten immer wieder dieselben sind, und dass auch die jungen Frauen immer wieder noch das erzählen. Man muss sich natürlich vorstellen: Damals, als wir in den 80er-Jahren - das Buch handelt ja von 60 Frauen in Bonn als Journalistinnen, die auf 600 Männer treffen, und die 600 Männer haben uns nicht mal erlaubt, dass wir irgendwie in Hintergrundkreise oder sonst was kommen. Und eine Frauenministerin durfte damals vor dem Bundestag – so hat Frau Süssmuth uns das noch heute erzählt – nicht über sexuelle Themen reden. Das wurde ihr schlichtweg verboten. Ausgehend von dieser Situation, ist das natürlich heute alles besser. 1994 ist tatsächlich erst das Gleichberechtigungsgesetz von uns durchgesetzt worden, in der Art, dass sexuelle Belästigung auch in irgendeiner Form strafbar wird. Und das wurde dann 2006 – und das ist ja alles noch nicht lange her – noch mal ein bisschen zugespitzt und ein bisschen nachjustiert.
    Wir waren damals '94 total stolz darauf, dass wir das überhaupt durchgesetzt haben, weil zu dem Zeitpunkt man sich wirklich nichts erlauben konnte. Man konnte höchstens mal sagen, der hat mich beleidigt. Das war die einzige Möglichkeit, sich zu wehren. Aber beleidigt heißt sicher nicht, dass der mir einen Zungenkuss aufgedrückt hat, dass der mich in die Ecke gedrückt hat, mich irgendwo hingefasst hat oder sonst was. Und wenn man eine Beleidigungsklage versuchte in diesen Zeiten, musste man seinen Chef fragen. Und der war im Zweifel dann der Täter. Das war natürlich wirklich ein Wahnsinn.
    Das hat sich verändert und ich finde, auch die Frauen haben sich verändert. Aber dass die Geschichten trotz dieser Gesetze dieselben sind, ist traurig. Was mich allerdings auf der anderen Seite nicht nur verdattert, sondern auch leicht müde macht, ist: Es ist dann doch immer wieder dasselbe. Der Graubereich wird dann plötzlich mal ganz groß thematisiert, eine große, große Gereiztheit bricht dann da aus, alle hauen sich wieder die alten Geschichten oder neue Geschichten um die Ohren, und ich will auch nicht, dass das verdrängt wird.
    "Es geht dann so durcheinander"
    Aber es geht dann so durcheinander, und ich finde, es gibt schon einen qualitativen Unterschied zwischen, dass mir irgendwann mal irgendwie ein Mann vor 15 Jahren seine Hand aufs Knie gelegt hat, oder meinetwegen mir auch in die Bluse geschaut hat, oder jemandem, der wie Herr Weinstein sich da irgendwie nackt vor einen hinstellt und in die Ecke drängt und alle möglichen, wirklich unangenehmen Dinge erzwingt. Da sollte man vielleicht langsam auch mal den Ball ein bisschen flach halten, weil das trivialisiert das Problem ja so.
    Becker: Ist das ein Vorwurf an die Frauen, die den Ball nicht flach halten?
    Kosser: An beide. – Vor vier Jahren war ja die Diskussion schon einmal, als Herr Brüderle irgendwie bei einer Journalistin sich über ihren Busen lustig gemacht hat. Da kam der #Aufschrei; jetzt haben wir #MeToo. Das ist dann immer so ein unheimlicher Hype. Alle regen sich fürchterlich auf, alle ziehen sich in die Schützengräben zurück, alle beschimpfen sich gegenseitig, keiner kommt raus. Und dann ist das Ganze wieder vergessen.
    Becker: Auf der anderen Seite: Wenn es nicht so eine Sensibilisierung gibt, die vielleicht auch mal in Einzelfällen übers Ziel hinausschießt, kommt es ja auch nie zu einer Klimaänderung, die von den kleinen, dummen, blöden Anzüglichkeiten dann doch ein Klima schafft, das womöglich in der Vergewaltigung endet.
    Kosser: Da stimme ich Ihnen total zu. Nur wenn es immer wieder so abläuft, dass wir Frauen wirklich das Männer-Bashing anfangen, die Männer in die Ecke sich verziehen, groß betroffen mit großen Augen schauen. Und sie aber auch im Grunde genommen dann so beschimpft werden, dass es dann auch keine Gemeinsamkeit gibt, dann wird das schwierig, weil wir kommen nicht aus den Schützengräben raus.
    Mein Votum ist an dem Punkt wirklich mittlerweile: Wir haben tatsächlich Gesetze. Das ist schon mal ganz toll. So Sätze wie damals, dass vor öffentlicher Mannschaft eine junge Frau niedergemacht worden ist mit dem Satz, "Wissen Sie was? Sie sind so blöd, Ihnen gehört die Klitoris mit einem stumpfen Messer abgeschnitten" ...
    Becker: Sie haben in Ihrem Buch Ross und Reiter genannt. Ja, ich glaube, das haben Sie, oder?
    "Jungen Frauen sind taffer geworden"
    Kosser: Nein, Ross und Reiter nenne ich nicht mehr. Ich bin ja nicht für den öffentlichen Pranger. Das reicht, wenn man das sagt, und jeder, der dabei war, weiß, wer es war. Das reicht dann auch. In meinem Buch will ich auch nicht diesen moralischen Zeigefinger heben, sondern ich wollte aufzeigen – und das ist ja auch immer wieder aktuell -, Leute, schaut mal, was da los war. Und ich hatte gehofft, und die Frauen, die da beteiligt waren und Geschichten erzählt haben, die hatten gehofft, dass sich das ändert.
    Wir haben auch das Gefühl, dass die jungen Frauen irgendwo taffer geworden sind, dass sie auch mehr Rückhalt haben dadurch, dass es tatsächlich eine andere Gesetzeslage gibt. Aber mein Votum ist, Männer und Frauen sollten versuchen, da mal gemeinsam drüber nachzudenken, und nicht sich gegenseitig immer wieder dieses vorwerfen.
    Die Männer sagen ja jetzt, wir sind auch sexuell belästigt worden. Dann sagen die Frauen, aber wir sind viel schlimmer sexuell belästigt worden, was stimmt, auch in Zahlen stimmt. Bei den Frauen sind es um die 50 Prozent, bei den Männern um die 10 Prozent, wenn es da Erhebungen gibt. Aber trotzdem: Wir können nur gemeinsam da weitergehen und müssen aufhören, uns so zu beschimpfen und zu beleidigen. Man muss Wichtiges von ein bisschen weniger Wichtigem unterscheiden.
    Wenn Sie jetzt sehen, allein dieses Wortspiel um #MeToo. Da wird jetzt ganz viel draus gemacht. Da gibt es jetzt "bieg ab!" – finde ich ganz gut. Dann gibt es "fuck you!" – finde ich schwierig. Dann gibt es HeToo, mir ist das auch passiert. Es wird immer alles gegeneinander gemacht. Ich finde, "fuck you!" soll man sagen und sollen auch Männer sagen, wenn sie mitkriegen, dass eine Frau irgendwie beleidigt wird, und das soll man schnell sagen und nicht irgendwie viel später, weil heutzutage kann man es. Man kann sich wirklich mehr trauen, oder man sollte dann sich irgendwie mehr trauen. Und da muss man die Männer mit ins Boot nehmen.
    Wenn ich als Frau alleine irgendjemandem sage, bitte lass' das, und alle Männer denken, ich halte jetzt mal den Mund, dann ist das falsch. Da müssen die Männer mal sagen, na hör mal, dieser Altherrenwitz ist jetzt aber wirklich nicht witzig, und Entschuldigung, das ist meine Kollegin, das geht nicht, was Sie da machen. Da ist dieses etwas gleichberechtigter im wirklichen Sinn gleichberechtigt. Da muss mehr passieren. Sonst kommen wir immer wieder in den Turnus: Großes Entsetzen und mein Gott, dann ist wieder drei Jahre Ruhe und dann kommt der nächste #Aufschrei, #MeToo, sonst was, und es ändert sich nichts. Es ändert sich nur, wenn wir wirklich das mal Hand in Hand angehen und auch den alten Herren mal ein bisschen sagen, Leute, hat sich geändert, die Zeit.
    Becker: Wenn Sie nun, um das praktisch zu machen, von jungen Kollegen erwarten, dass sie sich vor ihre jungen Kolleginnen stellen, dann haben Sie ja die optimistische Annahme, dass bei der jüngeren Männergeneration sich da sehr viel geändert hat.
    "Eine Hand aufs Knie, das kann man charmanter lösen"
    Kosser: Ich hatte die optimistische Annahme, dass sich überhaupt sehr viel mehr geändert hat. Ich bin im Gegensatz zu damals, wo ich wirklich auch öffentlichen Pranger immer richtig fand – und finde ich in den schlimmen Fällen natürlich; wir reden nicht von Vergewaltigungen, sondern wir reden wirklich von den, na ja, sagen wir, sanfteren Themen. Eine Hand aufs Knie, das kann man manchmal auch charmanter lösen, finde ich. Da muss man nicht gleich irgendwie nach Gesetz schreien oder Verschärfung oder sonst was. Und ich glaube, dass diese Sensibilisierung ja im Grunde genommen da ist. Aber wenn ich einen Mann so in die Ecke stelle, dass ich von vornherein sage, ich weiß das, Du bist ein Schwein, wenn Du nur sagst, Sie haben eine schöne Bluse an – ich trivialisiere das jetzt auch mal ein bisschen -, dann hilft man dem ja auch nicht.
    Becker: Auf der anderen Seite, Frau Kosser – ich will da gerade einhaken. Diejenigen, die jetzt am Pranger stehen, das sind ja wahrlich keine Unschuldslämmer. Im Fall von Harvey Weinstein geht es um einen handfesten Vergewaltiger.
    Kosser: Habe ich vorhin gesagt! Die, die an dem Pranger stehen! – Aber machen wir es mal bei diesen beiden Beispielen. Harvey Weinstein, der muss an den Pranger, und das ist unfassbar, was der gemacht hat. Meiner Ansicht nach gehört der ernsthaft ins Gefängnis. Der hat wirklich alles, was man sich vorstellen kann an Dingen, jenseits jeder Toleranzgrenze – und das ist für mich wirklich auch kriminell. Aber jeden nun vorzuziehen – man kann ja immer in den Erzählungen hören -, ein Dustin Hoffman, der in der damaligen Zeit andere Dinge gesagt hat, die damals wirklich auch noch einen anderen Wert hatten - ich will das nicht minimieren; ich will nur sagen, der würde das heute nicht mehr sagen -, dem sollte man irgendwie noch eine gewisse Chance geben. Der reicht die Hand, dann kann man ihm auch die Hand reichen.
    "Man erregt dann immer diese Gegenrede"
    Wenn man dann jetzt so diese Sammlung liest von 20 Frauen, die erzählen, das und das ist mir passiert – bei der einen oder anderen Frau, finde ich, könnte man es wirklich nicht nur charmanter, sondern von allen Seiten lösen. Wenn man das Beispiel der Staatssekretärin nimmt, die da von dem älteren Herrn begrüßt wird – die sollte einen Vortrag halten und dann hieß es: "Sie sind ja so schön! Ich hätte nicht gedacht, dass eine junge Frau so schön ist und hier einen Vortrag hält." Da kann man natürlich jetzt sagen, das ist reiner Sexismus und den prangere ich an bis zum geht nicht mehr. Man kann in dem Moment auch öffentlich sagen: "Wissen Sie was? Sie sollten vielleicht mal lernen, dass auch junge Frauen denken können." Das ist dann charmanter und dann hat man den genauso entblößt und nicht so ein riesen Bohai gemacht. Wenn man den so einfängt, indem man ihn meinetwegen lächerlich macht – und das geht heutzutage -, glaube ich, erreicht man mehr und man schafft nicht wieder so eine Konfrontation, dass die alten Herren dann wieder sagen, die hat den ja beleidigt, und diese jungen Frauen, und die hat doch sowieso einen kurzen Rock an. Weil man erregt ja dann wieder immer diese Gegenrede und damit erreichen wir nichts mehr.
    Becker: Wäre das auch ein Rat an junge Kolleginnen, an Berufseinsteigerinnen, die es womöglich doch mit einer alten Garde an Herrenwitz-Erzählern zu tun haben, oder auch mit einer jungen Garde, die einfach nicht gelernt hat?
    Kosser: Ich bin ja viel im Fernsehbereich unterwegs und ich erlebe wirklich, dass ich manchmal immer wieder Situationen erlebe, wo junge Frauen Männern was sagen, wo ich die Luft anhalte und sage, das hätte ich mich nicht getraut. Und jedes Mal mache ich einen innerlichen Kniefall und sage, wie toll.
    Ich glaube schon, dass sich da in dieser Garde etwas geändert hat. Wir haben uns das jetzt alles in regelmäßigen Abständen – und ich begleite jetzt dieses Thema seit 30 Jahren – immer wieder um die Ohren gehauen. Es ist immer wieder eine riesen Aufregung. Und es ändert sich zu wenig, außer dass die Gesetzeslage sich seit '94 und 2006 geändert hat. Es geht nur gemeinsam, es geht nicht gegeneinander. Davon bin ich wirklich mittlerweile überzeugt, ja.
    Aber immer wieder: Frauen, Leute, kämpft euch durch und macht weder auf Frau, noch sonst was, sondern ihr seid gleichberechtigt und ihr seid zum Teil besser ausgebildet als die Männer. Aber konfrontiert nicht.
    Ich rede nicht von Vergewaltigung. Ich rede nicht von brutaler Nötigung. Ich rede nicht von wirklich sexuell körperlichen Anmachen. Ich rede von diesen albernen Sprüchen und, na ja, diesem Hand aufs Knie oder an den Busen gucken. Ich fand das damals schon ganz toll. Da gab es ein Interview. Da hat ein Mann der Frau ständig auf den Busen geguckt. Und sie hat dann irgendwann das Interview unterbrochen und hat gesagt: "Entschuldigen Sie, Herr X, meine Brüste können nicht sprechen." – So was finde ich toll.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.