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Proteste in Moldau
"Sie behandeln die Republik wie ihren persönlichen Bauernhof"

Seit einem Monat protestieren Menschen in der Republik Moldau gegen die Regierung. Sie soll massiv EU-Mittel veruntreut haben. Noch ist das Protestlager gespalten in prorussisch und proeuropäische Demonstranten. Das könnte sich aber bald ändern, wenn der IWF dem Land keinen neuen Kredit gewährt. Viele Moldauer könnten es verstehen.

Von Florian Kellermann | 08.10.2015
    Ein Zeltlager bei einer Protestkundgebung in Chisinau, der Hauptstadt von Moldau.
    Ein Zeltlager bei einer Protestkundgebung in Chisinau, der Hauptstadt von Moldau. (imago / ITAR-TASS / Vadim Denisov)
    Wasilij Jeschanu ist 72 Jahre alt und leidet an Asthma. Immer wieder holt er den kleinen Inhalator heraus. Der kleinwüchsige Mann kauert auf einer Filzmatte vor einem Zelt. Hier verbringt der ehemalige Bauarbeiter zurzeit die meisten Nächte, direkt an der Straße, mitten in der Innenstadt von Chisinau. "Dieses Zelt ist 42 Jahre alt. Ich bin mit ihm früher oft zum Angeln gefahren. So habe ich mich erholt. Aber das ist heute nicht mehr möglich. Die Seen wurden privatisiert - und die Eigentümer verlangen fürs Angeln eine horrende Gebühr. Außerdem füttern sie die Fische am Freitag immer mit einer Chemikalie. Am Wochenende, wenn die Leute angeln wollen, liegen die Tiere dann ganz benommen, wie tot, am Grund herum."
    Die privatisierten Seen sind nur ein Beispiel für das Übel, gegen das Wasilij Jeschanu protestiert. Die politische Elite der Republik Moldau sei durch und durch korrupt, sagt er. Er werde nicht nach Hause gehen, bis Neuwahlen angesetzt sind. Wie der 72-Jährige leben derzeit einige Hundert Menschen im Zeltlager vor dem Regierungsgebäude, viele sind Rentner. Und die jungen Moldauer? Wasilij rückt seine Schirmmütze zurecht. "Die sind im Ausland, weil sie doch etwas verdienen wollen. In Italien, Frankreich, Deutschland. Auch meine Tochter wohnt jetzt in Italien - so hat sie sich hier, in Chisinau, schon eine Ein-Zimmer-Wohnung kaufen können." Die Tochter ist eigentlich Kindergärtnerin, in Italien pflegt sie privat Menschen, die so alt sind wie ihr Vater. Viele Moldauer können ganz legal ins EU-Ausland ausreisen, Rumänien hat ihnen großzügig Pässe gegeben.
    Kein Vertrauen in die politischen Führer
    Jeden Sonntag stoßen in der Hauptstadt Moldaus Zigtausende zu den Menschen im Zeltlager. Die gerechte Strafe für die Regierenden - das kann für sie nur das Gefängnis sein. Einen Namen schreien sie besonders laut: den von Wladimir Plachotniuk. Er gilt als reichster und einflussreichster Oligarch. Eine Frau, die am Zelt vorbeikommt, will es erklären: "Gerade einmal fünf Prozent der Moldauer entscheiden über das ganze Land, über unsere Zukunft. Sie kontrollieren die Finanzen, die Versicherungen, sogar die Straßen. Sie behandeln die Republik wie ihren persönlichen Bauernhof." Ihren Namen nennt die Frau nicht. Sie sei Unternehmerin, sie wolle keine Schwierigkeiten.
    Am vergangenen Wochenende drohte die Stimmung zu explodieren. Die Menge zog vor den Firmensitz des Oligarchen, einige Demonstranten wollten das Gebäude stürmen. Erinnerungen wurden wach, an den April 2009. Nach einer Parlamentswahl drangen damals aufgebrachte Menschen ins Parlament ein, bei den Krawallen starben zwei Demonstranten. Sie warfen den damals regierenden Kommunisten Wahlfälschung vor. Nach einer abermaligen Wahl kam die "Allianz für die Europäische Integration" ans Ruder. Doch einmal an der Macht, wollte sie vom Volk nichts mehr wissen. Dialog mit den Menschen im Zeltlager? Fehlanzeige.
    Auch den heutigen Anführern der Proteste traut Wasilij Jeschanu nicht wirklich. "Ihr Programm ist gut. Sie wollen uns wirklich nach Europa führen. Andererseits gab es das schon oft: Schöne Worte vor der Wahl - und dann kommt alles ganz anders. Immerhin haben sie ein konkretes Versprechen: eine Staatsanwaltschaft, die Tag und Nacht arbeitet, wo die Bürger etwas melden können. Heute werden Anzeigen systematisch verschleppt, weil die Oligarchen die Justiz kontrollieren."
    Auch pro-russische Sozialisten mischen mit
    Wie kompliziert die Lage in Moldau ist, zeigt sich ein paar hundert Meter weiter westlich. An derselben Straße, vor dem Parlamentsgebäude, gibt es zweites Protestzeltlager. Aber hier wehen keine EU-Fahnen, hier dominiert die sowjetrote Flagge der Sozialistischen Partei. Auch sie fordert den Rücktritt der Regierung, aber ansonsten das glatte Gegenteil der pro-europäischen Demonstranten: Moldau solle das Assoziierungsabkommen mit der EU, vergangenes Jahr unterzeichnet, kündigen - und sich wieder Russland annähern. Roman, ein ehemaliger Polizist: "Die amtierende Regierung war sechs Jahre an der Macht, und alles ist schlechter geworden. Wir sind ärmer und leben schlechter. Ich bin überzeugt, heute sind vielleicht noch 20 Prozent der Moldauer für einen EU-Beitritt. Die EU hat ihre Chance hier vertan."
    Doch schon in wenigen Wochen könnten solche ideologischen Differenzen zwischen Pro-Russen und Pro-Europäern keine Rolle mehr spielen. Denn Beobachter warnen: Die Finanzkrise in der Republik Moldau spitze sich zu. Der Internationale Währungsfonds hat sich kürzlich geweigert, neue Kreditverhandlungen aufzunehmen. Womöglich könne die Regierung die Renten bald nicht mehr ausbezahlen, meint der Agrarunternehmer Ion Rata, 68 Jahre alt, ein Teilnehmer des pro-europäischen Zeltlagers. "Ich sehe das schon konkret vor mir: Der Frost setzt ein, und die Rentner bekommen kein Geld mehr. Dann werden viele Menschen einfach sterben. Die einsamen Alten werden direkt als Leichen aus ihren Bauernhäusern getragen, weil niemand da war, der sie ernähren oder für sie hätte heizen können. Das ist kein Schreckgespenst, das ist eine reale Gefahr."
    Bemerkenswert: Trotzdem finden es die meisten Demonstranten gut, dass der Internationale Währungsfonds vorerst nicht einspringt. Einen Großteil der Summe würden die Regierenden sowieso in die eigene Tasche stecken, meinen sie. Die Aussichten sind mehr als schlecht, trotzdem ist Wasilij Jeschanu, der 72-Jährige, gut gelaunt. Ihm ist gerade seine Enkelin in den Sinn gekommen. "Sie war gerade hier, zu Besuch aus Italien. Und da hat sie einen jungen Moldauer kennengelernt. Jetzt denke ich, sie wird zurückkommen. Die beiden können doch in die Ein-Zimmer-Wohnung ziehen, die meine Tochter hier gekauft hat."