Freitag, 19. April 2024

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Publizist Lucas zu Brexit
"May hofft auf das Tor im letzten Augenblick"

In der Zeit des Taktierens und möglichen Nachverhandelns beim Brexit glaubt der britische Publizist Grahame Lucas, dass Premierministerin Theresa May auf ein Einknicken der EU setzt. "Sie hofft, dass die EU in die Knie geht und sagt, okay, dann schaffen wir den Backstop ab", sagte Lucas im Dlf.

Grahame Lucas im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 30.01.2019
    Theresa May verlässt Downing Street 10 in London am Mittwoch, 30. Januar
    Geht Theresa May heute einen Schritt auf Oppositionsführer Jeremy Corbyn zu oder nicht? (imago /Zuma Press)
    Tobias Armbrüster: Theresa May soll also noch einmal nach Brüssel zum Nachverhandeln, vor allem der Backstop, diese Rückfalloption für Nordirland, dieser Backstop, der soll weg – das sagen die Parlamentarier in London.
    Wir wollen das noch etwas genauer besprechen mit einem, der sich bestens auskennt – sowohl in der EU, aber auch vor allem in der britischen Politik. Am Telefon ist der Publizist Grahame Lucas, selbst gebürtiger Brite, unter anderem war er viele Jahre lang tätig als Journalist und Korrespondent für die Deutsche Welle. Schönen guten Tag, Herr Lucas!
    Grahame Lucas: Guten Tag!
    Seit 30 Jahren Herumschlagen mit Europa
    Armbrüster: Herr Lucas, wie groß ist da Ihre Hoffnung, dass es jetzt tatsächlich im britischen Parlament eine Übereinkunft gibt zwischen Jeremy Corbyn und Theresa May?
    Lucas: Ja, es ist sehr, sehr schwierig einzuschätzen. Das Hauptproblem ist eigentlich, dass die Konservativen – seit 30 Jahren im Grunde genommen seit dem Maastrichter Vertrag in etwa – sich herumschlagen mit Europa, mit der EU. Theresa May hat versucht, einen Deal auszuhandeln, was für die gesamte Partei akzeptabel ist und auch für Großbritannien. Und wir haben dann gesehen, dass sie eine historische Niederlage erlitten hat, weil die Ideologen auf dem rechten Flügel der Partei, angeführt von Boris Johnson und Jacob Rees-Mogg, einfach nicht bereit sind zu akzeptieren, dass es einen Backstop geben wird, weil dieser Backstop verhindert eigentlich, was sie wollen.
    Beim jetzigen Deal, was niedergeschlagen wurde im Parlament, musste Großbritannien auf unbestimmte Zeit in einer Zollunion bleiben, und dann können sie keine Freihandelsabkommen in aller Welt abschließen. Das ist der eigentliche Sinn des Brexit, zumindest wie diese Leute sich das vorstellen. Und jetzt haben wir das Problem, dass Frau May bei der historischen Niederlage gemerkt hat, sie verliert die Kontrolle über die Partei, und hat jetzt sozusagen einen Salto rückwärts gemacht und deren Änderungsantrag angenommen, dass der Backstop weg muss. Damit hat sie sich wieder konsolidieren können in der Partei, aber sie ist natürlich keinen Zentimeter in Richtung Abkommen gekommen.
    "May ist in der Nachspielzeit"
    Armbrüster: Herr Lucas, entschuldigen Sie, wenn ich Sie da kurz unterbreche. Heißt das jetzt, der Ball liegt jetzt wieder bei der EU beziehungsweise die EU steht jetzt auf einmal wieder unter Druck?
    Lucas: Also die Briten sehen sich jetzt, also Frau May sieht sich jetzt einfach … Wenn man sozusagen die Sprache des Fußballs annimmt, ist sie in der Nachspielzeit und hofft auf das Tor im letzten Augenblick. Sie hofft, dass die EU im letzten Augenblick nachgibt, ins Knie geht und sagt, ja, okay, dann schaffen wir den Backstop weg. Sie versteht nicht, dass die Iren im Süden, also die Regierung Dublins es einfach nicht will. Und heute Morgen im Parlament zum Beispiel ist ein ehemaliger Brexit-Minister unterwegs gewesen, zu sagen, wir brauchen jetzt irgendwie einen Weg, damit die Iren nachgeben. Nur man sieht hier, dass man es hier nicht mit der Realität zu tun hat, also die Brexiteers, die Hardliner, gehen immer noch davon aus, dass Irland einknickt und die EU einknickt. Und wir sind, glaube ich, relativ weit davon entfernt, dass die EU daran denkt einzuknicken.
    Armbrüster: Wie groß schätzen Sie denn die Wahrscheinlichkeit ein, dass am Ende das britische Unterhaus einknickt?
    Lucas: Das Problem für Frau May ist ganz einfach: Sie könnte wahrscheinlich einen überparteilichen Kompromissvorschlag entwickeln, wenn sie auf Jeremy Corbyn, den Vorsitzenden der Labour-Partei zugeht. Sie wird ihn heute treffen, nach den Abstimmungen gestern, und man spekuliert, ob sie einen Schritt auf ihn zugeht und sagt, okay, vielleicht können wir in eine Richtung gehen wie dauerhafte Zollunion. Das ist nämlich die Forderung von Jeremy Corbyn. Nur, wenn sie das tut, spaltet sie ihre Partei. In dem Augenblick werden die Hardliner sie fallen lassen. Dann hat sie im Grunde genommen eine Spaltung der eigenen Machtbasis herbeigeführt und ist dann nur noch eine Premierministerin auf wenige Stunden oder Tage.
    Was geschieht dann mit May?
    Armbrüster: Herr Lucas, wir hören jetzt immer wieder von allen möglichen Seiten, das, was wir da erleben, ist eigentlich alles nur Show, am Ende werden die sich doch irgendwie in letzter Sekunde alle einigen, wenn es dann auf den harten Brexit zugeht Ende März. Was ist da dran?
    Lucas: Wir haben ja gesehen gestern, es gab eine nicht verbindliche Abstimmung, und eine Mehrheit hat sich gebildet unter den Abgeordneten, um den No-Deal auszuschließen. Ich denke, die Abgeordneten haben noch Möglichkeiten, dieses Thema noch mal zu problematisieren im Februar, und ich denke, es findet sich doch noch eine parteiübergreifende Mehrheit gegen No-Deal. Das hat sich jetzt gebildet scheinbar. Aber die Frage ist natürlich, was geschieht dann mit Theresa May, haben wir dann die Situation, wo Neuwahlen anstehen müssen? Das ist extrem schwierig zu sehen, was passiert, weil Frau May kann die Partei eigentlich nicht in die Richtung von den Vorstellungen von der Labour-Partei führen, ohne sie zu spalten.
    Armbrüster: Live hier bei uns im Deutschlandfunk war das der Publizist und Großbritannien-Experte Grahame Lucas. Vielen Dank, Herr Lucas, für Ihre Zeit!
    Lucas: Danke schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.