Donnerstag, 18. April 2024

Rede zur Ukraine
Putin demonstriert russisches Großmachtgebaren

Die Rede des russischen Präsidenten sei alles andere als ein Freundschaftsgruß in Richtung Ukraine. Vielmehr lasse sie erkennen, welches Geschichtsverständnis Wladimir Putin habe, kommentiert Sabine Adler. Das müsse in den Hauptstädten anderer Ex-Sowjetrepubliken die Alarmglocken läuten lassen.

Eine Analyse von Sabine Adler | 22.02.2022
    Der russische Präsident Wladimir Putin unterzeichnet am 21. Februar 2022 ein Dokument
    Der russische Präsident Putin betrachtet den Zerfall der Sowjetunion nach wie vor als die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts, meint Sabine Adler ( picture alliance / dpa / AA | Kremlin Press Office / Handout)
    In seiner „Ansprache an die Russische Föderation“ erklärt Wladimir Putin, dass die Ukraine nicht nur ein Nachbarland sei, dass dort nicht nur Kollegen, Freunde und ehemalige Arbeitskollegen, sondern auch Verwandte und enge Familienmitglieder lebten. Das ist richtig, in beiden Ländern gibt es viele russisch-ukrainische Ehen, enge Verbindungen der beiden Nationen. Allerdings ist Putins Rede alles andere als ein Freundschaftsgruß in Richtung Ukraine.

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    Putins Darstellung, dass die Bolschewiken um den Revolutionsführer Lenin die Ukraine 1917 erst geschaffen hätten, ist eine Geschichtsfälschung. Richtig ist, dass schon etliche Zaren gegen alles Ukrainische vorgingen. Ukrainisch zu sprechen, gar zu unterrichten, verbot unter anderem Alexander I., der 1804 befand: Ukrainisch ist keine Sprache, sondern nur ein Dialekt. Wenn das stimmte, wäre Spanisch ein Dialekt des Französischen.

    Kampf gegen alles Ukrainische

    Auch Alexanders Nachfolger, Alexander II. und Nikolaus II., hielten am strikten ukrainischen Sprachenverbot fest, zu Recht ahnend, dass sich eine Nation über die Sprache identifiziert. Ukrainer wurden auf Russisch unterrichtet, was vor allem die ukrainischen Bauern nicht sprachen und demnach nicht verstanden und somit nicht gut lernten. Die Folge war Analphabetismus. Karriere machte im Zarenreich, wer Russisch sprach.
    Am 26. Januar 1918 erklärte sich die Ukraine für unabhängig, nur zwei Wochen später besetzte die Rote Armee Kiew. Die Sowjets wollten den Traum von der ukrainischen Unabhängigkeit beenden, bevor er Realität wird. Die wenigen kommunistischen Bolschewiki in der ukrainischen Hauptstadt bekamen schlagkräftige Unterstützung bei der Bekämpfung der Nationalisten.

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    Jeder, der noch öffentlich Ukrainisch sprach, riskierte, getötet zu werden. Alle ukrainischen Symbole wurden zerstört, sogar Straßenschilder auf Ukrainisch. Stalin war in der russischen kommunistischen Partei für Nationalitätenfragen zuständig. Er hielt Nationalismus für reine Ablenkung vom Sozialismus. Lenin, der Revolutionsführer, interessierte sich für die Ukraine nur als Kornkammer. 1919 marschierten sowjetische Truppen nach Kiew und setzten eine Sowjetregierung ein. Die Ukraine sollte Getreide liefern, so viel und so schnell wie möglich, denn Russland hungerte.

    Ukraine hat formal Anspruch auf Selbstbestimmung

    Seine Darstellung, dass die Ukraine als "Wladimir-Lenin-Ukraine" bezeichnet werden kann, ist falsch. Lenin hat bestenfalls aus der Unabhängigen Ukraine eine Sozialistische Ukrainische Sowjetrepublik gemacht. Allerdings interessierten sich die Sowjets so wenig wie Putin heute für deren nationale Befindlichkeiten, für sie war die SSR wichtig als Getreidelieferant und später als Waffenschmiede.
    Die Ukraine gehört zu den Gründungsrepubliken der Sowjetunion, denen formal – und da hat Putin Recht – der Anspruch auf Selbstbestimmung bis hin zur Sezession eingeräumt wird, was zunächst 1922 in der Deklaration über die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und dann, nach Lenins Tod, in der Verfassung der UdSSR von 1924 verankert wurde.
    Putin weiß aber auch, wie jeder ehemalige Sowjetbürger, dass dieses Recht niemals wirklich existierte. Doch es auch nur auf dem Papier einzuräumen, ist für ihn „Wahnsinn“. Der Ukraine und anderen Nationen derart großzügige Geschenke zu machen, von denen die glühendsten Nationalisten vorher nicht einmal zu träumen wagten, versteht er bis heute nicht. Dieses Geschichtsverständnis muss jetzt in den Hauptstädten anderer Ex-Sowjetrepubliken die Alarmglocken schellen lassen.

    Zerfall der UdSSR für Putin größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts

    Putin betrachtet den Zerfall der Sowjetunion vor 30 Jahren nach wie vor als größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Er verzeiht den bolschewistischen Führern, der Führung der Kommunistischen Partei nicht, denn, so sagt es Putin, "sie haben den Zusammenbruch des historischen Russlands, der UdSSR, auf dem Gewissen". Weil jede Unionsrepublik ihre eigene Staatsbürgerschaft besaß und zudem das Recht hatte, sich abzuspalten. Über diese Staatsbürgerschaft der Menschen in der besetzten Ostukraine setzte sich Putin allerdings sofort hinweg, 700.000 Personen bekamen seit 2014 russische Pässe. So verfuhr er in Südossetien und Abchasien, die bis 2008 zu Georgien gehörten.
    Zur Sprache Putins
    Die Fernsehrede des russischen Präsidenten Putin sei „von der rhetorischen Seite her reine Demagogie“, sagte die preisgekrönte Übersetzerin Olga Radetzkaja im Dlf. Die Sprache sei streckenweise vulgär, der Unterton aggressiv und äußerst patriarchalisch. Das Auffälligste sei der aggressive Gestus - es herrsche "die Sprache der Macht".
    Übersetzerin Olga Radetzkaja: die Rede eines Demagogen (22.02.22)
    Wenn ausgerechnet Putin die Umverteilung von Macht und Eigentum unter den Oligarchenclans beklagt, und sogar fehlende unabhängige Gerichte, dann ist das Heuchelei pur. Schließlich gilt der Präsident als einer der reichsten Männer der Welt, der den wichtigsten Korruptionsjäger seines Landes, Alexej Nawalny, mit Prozessen und Lagerhaft überzieht, um das komplett intransparente Wirtschaftssystem zu schützen.

    Falsche Behauptungen über Militäraktionen der Ukraine

    Die Menschen auf der Krim, die sich angeblich aus freien Stücken für die Zugehörigkeit zu Russland entschieden hätten, in einem verfassungswidrigen Referendum wohlbemerkt, wurden nicht gefragt, ob ihre Halbinsel zum Militärstützpunkt ausgebaut werden soll, der sie jetzt ist.
    Putin behauptet und lässt behaupten, dass die Ukraine Militäraktionen gegen Russland plane, dass sie Atomwaffen baue. Dafür gibt es keinerlei Belege - wogegen erwiesen ist, dass Russland die Verpflichtung aus dem Budapester Memorandum von 1994 gebrochen hat, die Grenzen und die Souveränität der Ukraine zu achten, als Gegenleistung dafür, dass sie auf ihre Nuklearwaffen verzichtete.
    Karte zeigt die von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhanzk
    Die von Separatisten kontrollierten Gebiete Donezk und Luhanzk (picture alliance / dpa-infografik / Deutschlandradio / Andrea Kampmann)
    Der Kremlherr beklagt, dass „Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten“ gestärkt werden darf und tut im gleichen Atemzug ebendies. In der Ostukraine 2014 Krieg anzuzetteln und jetzt mit einem erneuten Waffengang zu drohen, in dem er offenlässt, welche Grenzen der gerade von ihm anerkannten sogenannten Unabhängigen Volksrepubliken nun eigentlich gelten.
    Korrespondentin Warschau
    Korrespondentin Warschau
    Sabine Adler, Journalistin und Buchautorin. Journalistik-Studium Universität Leipzig, danach Sender Magdeburg, radio ffn, Deutsche Welle. Seit 1997 beim Deutschlandradio, u.a. als Russland-Korrespondentin, Leiterin des Hauptstadtstudios. 2011-2012 Leiterin Presse und Kommunikation Deutscher Bundestag. Danach Osteuropakorrespondentin, derzeit Leiterin des Reporterpools.