Luther sei ein impulsiver und von Ängsten geplagter Mann gewesen. Auf der einen Seite "konnte er ein ganz fröhlicher Mensch sein" und auf der anderen Seite "gab es diesen dunklen Anteil in ihm". Wer zu diesen Seiten schweige, der solle auch nicht die hellen Seiten preisen, so Schorlemmer. Er warb dafür, deshalb von einem "Reformationsgedenken" anstatt von einer "Luther-Erinnnerung" zu sprechen. Das neue an seiner Theologie sei gewesen, dass "nicht mehr die Kirche in Rom über den Glauben bestimmte". Es sei die "Würdigung eines jeden Einzelnen", die "Individualisierung des Glaubens".
Schorlemmer betonte, die Reformation sei nicht geplant gewesen, sondern vielmehr passiert. Luther wollte "keine Trennung der Kirche". Aber er habe auch gemerkt, dass es keine "Reform von Rom gebe". Luther "wollte, dass die Kirche an ihre Quelle zurückkehre und die Bibel im Mittelpunkt stehe."
"Die Würde des Menschen in den Mittelpunkt rücken"
Mit Blick auf die Spaltung der Kirche schloss Schorlemmer nicht aus, dass Luther damit Religionskriegen Vorschub geleistet habe. "Schon Erasmus [von Rotterdam] habe dies vorausgesehen", meinte Schorlemmer. Im Kampf gegen Rom sei Luther seinem Gegner immer ähnlicher und ein Gegenpapst geworden. "Wenn man Gewissheit als Wahrheit ausgibt, kommt es bald zu Religionskriegen".
In Bezug auf die aktuelle politische Debatte in Deutschland meinte Schorlemmer, die AfD schaue nicht wie Luther dem "Volk aufs Maul". Die AfD brülle. Ein "Solches wie bei der AfD" hätte nicht zur Übersetzung der Bibel geführt. Denn die "Grundmaxime des Glaubens ist, dass der Mensch ein freier Herr aller Dinge und niemand Untertan ist". Es gehe darum, "die Würde des Menschen in den Mittelpunkt zu rücken. Nationaler Eigensinn, "das ist nicht christlich."
Das Interview in voller Länge:
Christoph Heinemann: Vor dieser Sendung haben wir den Theologen Friedrich Schorlemmer erreicht. Ich habe ihn zunächst gefragt, was das entscheidend Neue an Luthers Theologie war.
Friedrich Schorlemmer: Rom bestimmt nicht über meinen Glauben, sondern das ist mein intimstes Verhältnis, das ich habe zum Glauben als Lebensvertrauen, und nicht als Glauben an bestimmte Dogmen und nicht an die Kirche, die Angst machen kann und vom Zentrum her alles bestimmen will. Es ist die Würdigung jedes Einzelnen, die Würdigung jedes Menschen – etwa mit dem Satz, der in der alten Universität auch noch hängt: Niemand lasse den Glauben daran fahren, dass Gott an ihm oder an ihr eine große Tat tun will. Dieses Grundvertrauen soll man haben: Ich bin gewürdigt. Das ist Artikel 1 Grundgesetz.
Heinemann: Individualisierung des Glaubens also?
Schorlemmer: Ja.
Heinemann: Wie passen Luthers Frömmigkeit und sein Hass auf der anderen Seite zusammen?
Schorlemmer: Ja, ich glaube, da werden sich die nächsten 500 Jahre noch damit beschäftigen.
"Ich bin mehr dafür, von Reformationsgedenken zu sprechen"
Heinemann: Versuchen wir es, heute Mittag zu klären.
Schorlemmer: Er war offenbar ein sehr, sehr impulsiver, von Ängsten, auch von Teufelsängsten geplagter Mensch, der so etwas – wie die Psychoanalyse sagen würde – das waren dann Projektionen: auf die Türken, auf den Teufel, auf den Papst und auf die Juden. Einerseits konnte er ein ganz, ganz unglaublich fröhlicher Mensch sein und sagen, Gott, du machst alles fröhlich, was da webet und so, und wo Friede ist, ist gute Zeit, da singt alles und ist fröhlich und stehen Berg und Tal, lustig, ein unglaublicher freier, poetischer, liebevoller, zugewandter Mensch, und andererseits dieser dunkle Anteil in ihm.
Heinemann: Sollte man ihn im Gedenkjahr genauso lassen, oder besteht da die Gefahr, dass der unangenehme Luther totgeschwiegen wird?
Schorlemmer: Na, ich habe mehr den umgekehrten Eindruck, dass man die beiden besonders dunklen Stellen, also gerade seine Äußerungen am Ende seines Lebens … Also ich sag immer, der Herrgott hätte ihn früher wegnehmen sollen, dann hätten wir das nicht. Das hat er ja ganz am Schluss seines Lebens … hat sicher auch zu tun mit ziemlichen Enttäuschungen und Ängsten und so weiter.
Ich denke, es gilt, ein Doppeltes zu tun: Wer zu den dunklen Seiten schweigt, der soll nicht die hellen Seiten preisen, und wer von seinen dunklen Seiten spricht, der soll auch von seinen hellen Seiten und den erhellenden Seiten sprechen. Für einen Lutherkult ist kein Anlass, insofern bin ich auch mehr dafür, von Reformationsgedenken zu sprechen als von Luther-Erinnerung.
Heinemann: War die Reformation geplant oder ist sie passiert?
Schorlemmer: Sie ist passiert.
Heinemann: Inwiefern?
Schorlemmer: Wer sollte die geplant haben? Luther hat nur gemerkt, dass es keine Reform gibt von Rom aus. Das war ja klar, also zweimal ist er knapp dem Tode entronnen wegen seines Irrglaubens, wegen seiner Ketzerei – in Augsburg 1518 und dann noch mal 1521 in Worms. Er wollte keine Trennung der Kirche, er wollte, dass die Kirche zurückkehrt zu ihrer Quelle, zur Heiligen Schrift, so wie wir das heute in großen Teilen auch mit unseren katholischen Geschwistern halten. Die Bibel ist das Zentrum.
"Der Glaube ist und soll auch ein Standfest des Herzens sein"
Heinemann: Die Reformation war ja auch Ausgangspunkt zahlreicher Religionskriege – dafür kann Luther nichts –, aber wären die Europa ohne Luther vielleicht erspart geblieben?
Schorlemmer: Das hat jedenfalls auch schon Erasmus vorausgesehen, als er sagte, bloß keine Spaltung, denn das wird zu Kriegen führen. So wie man heute alles tun muss, um Europa, die Europäische Union zu erhalten, damit es nicht wieder zu Kriegen kommt. Natürlich ist Folgendes, dass Luther im Kampf gegen Rom, wie das so üblich ist, seinem Gegner immer ähnlicher wurde und so eine Art Gegenpapst wurde, aber er hat auch Securitas und Certitudo verwechselt, und ich glaube, dass der Satz Luthers – also für mich – ganz wichtig geworden und geblieben ist.
Also der Glaube ist und soll auch sein ein Standfest des Herzens, der da nicht wackelt, zappelt, bebt und seiner Sache ungewiss ist, sondern seiner Sache gewiss ist. Und wenn man das Gewisssein als die Wahrheit ausgibt, dann kommt es bald zu Religionskriegen.
Heinemann: Wofür steht Securitas und wofür die Certitudo?
Schorlemmer: Ja, die Securitas denkt, man hätte Sicherheit. Zum Glauben gehört auch das Zweifeln und das Überwinden des Zweifelns. Zum Glauben gehört auch, dass man Gott überhaupt nicht versteht in seinem Leben, und dazu gehört auch, dass man ein tiefes Gottvertrauen behält, trotz allem.
Heinemann: Egon Friedell hat in seiner "Kulturgeschichte der Neuzeit" den Protestantismus als Religion des Geldes bezeichnet, Calvins Genf gar als erstes totalitäres Gemeinwesen in Europa. Wieso sind Sie, Friedrich Schorlemmer, evangelisch-lutherischer Christ?
Schorlemmer: Ja, weil ich nicht reformiert sein möchte. Aus zwei Gründen: Einmal, die reformierten Geschwister, die haben kein richtiges Verhältnis zur Sinnlichkeit, und Luther verdanken wir, dass er wirklich die Sinne auch als eine Gabe Gottes verstanden hat, alle Sinne. Und wenn man das nicht hat, dann verliert man sich möglicherweise auch an die Dinge und an den abstrakten Wert. Also wer Geld hat, soll es auch ausgeben und genießen, dass er's hat und mit anderen teilen, also das auch noch genießen, dass er's mit anderen teilen kann. Das ist das eine.
Und das andere ist: Luther hat sich schon 1524 mit dem Frühkapitalismus beschäftigt und der Art sozusagen, das Geld an die Stelle Gottes zu stellen – das hat er übrigens auch in der Auslegung des ersten Gebotes, "woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott" … An den großen Bankenzentralen hängt gewissermaßen der Glaube heute. Luther war kritisch gegen die Ökonomie, die die Armen ärmer und die Reichen reicher macht, insofern ist er damit ganz modern. Man darf diese Schrift von 1524 nicht vernachlässigen.
"Du bist wichtig, nimm dich wichtig und mach das Wichtige in der Welt"
Heinemann: Stichwort Moderne: Schaut die AfD heute im lutherischen Sinne dem Volk aufs Maul?
Schorlemmer: Nee, die brüllt. Das hat Luther nicht getan. Ein solches Denken wie bei der AfD, das hätte nie zur Bibelübersetzung geführt.
Heinemann: Inwiefern nicht?
Schorlemmer: Weil die Grundmaxime des Glaubens ist, dass der Mensch ein freier Herr aller Dinge ist und niemand untertan, und er ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan, und jedermann heißt auch, in der Liebe dem nächsten zugewandt und im Vertrauen Gott zugewandt, und da ist die Würde des Menschen in den Mittelpunkt zu rücken. Und wer die Würde des Menschen nicht als Mensch im Blick hat, sondern nationalen Eigensinn, das ist nicht christlich.
Heinemann: Herr Schorlemmer, wenn Sie heute Thesen – das müssen ja keine 95 sein – zum Zustand von Kirche, Land und Leuten veröffentlichen sollten, was würden Sie schreiben?
Schorlemmer: Du bist wichtig, nimm dich wichtig und mach das Wichtige in der Welt.
Heinemann: Das wäre die zentrale These.
Schorlemmer: Ja, ich meine, so spontan geredet. Das heißt also sozusagen, der Mensch muss auch zum Selbstbewusstsein kommen, damit er sich dem zuwenden kann, was in der Welt zu ändern ist. Das ist aber auch nur dann zu ändern, wenn der Mensch ständig, wie Luther immer wieder betont, auch ein Mensch ist, der sozusagen in Demut lebt, um seine Unvollkommenheit weiß, auch um seine Verschuldung weiß, aber davon immer wieder auch loskommen kann. Von Luther gibt es den berühmten schönen Satz: "Pecca fortiter sed fortius" heißt also, sündige tapfer, aber glaube noch tapferer. Das heißt also, wer handelt, wird auch schuldig, aber wer nicht handelt, noch schuldiger.
Heinemann: Stichwort: Luther, schreibt heute die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", habe das Christentum wieder auf die Augenhöhe seiner Zeit geführt. Wie müsste sich Kirche heute verändern, um das im Jahr 2016 zu schaffen?
Schorlemmer: Ja, ich fände es schon sehr schön, wenn wir eine Sprache fänden, die verständlich ist, aber nicht platt. Ich glaube nicht, dass wir durch Anbiederung, auch beim Luther-Jubiläum, beim Reformationsjubiläum jetzt durch Anbiederung herankämen. Die Menschen müssten spüren bei uns, hier geht es noch um eine Wirklichkeit, über die wir nicht verfügen. Wir preisen auch das Geheimnis des Glaubens, das Geheimnis des Lebens und leben, wenn wir richtig leben, ganz in Ehrfurcht vor dem Leben, deren Teil wir sind.
Heinemann: Der Theologe Friedrich Schorlemmer. Das Gespräch haben wir kurz vor dieser Sendung aufgezeichnet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.