Freitag, 29. März 2024

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Reformpläne für Agendapolitik
"Fördern und Fordern bleibt, aber Fördern soll verstärkt werden"

Die SPD will Hartz IV hinter sich lassen. SPD-Vorstandsmitglied Kerstin Griese sagte im Dlf, die Angst vor Sanktionen sei groß, "unsinnige und überflüssige" Maßregeln gehörten abgeschafft. Stattdessen solle man "alles auf Qualifizierung setzen".

Kerstin Griese im Gespräch mit Sandra Schulz | 09.02.2019
    05.07.2018, Berlin: Hubertus Heil (r, SPD), Bundesminister für Arbeit und Soziales, zeigt Kerstin Griese (SPD), Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Arbeit und Soziales, bei der Plenarsitzung im Deutschen Bundestag etwas auf seinem Smartphone. Höhepunkt der 46. Sitzung der 19. Wahlperiode ist die Verabschiedung des Bundeshaushalts. Zuvor berät das Parlament in seiner letzten Sitzung vor der Sommerpause mehrere Einzeletats. Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa | Verwendung weltweit
    Die Parlamentarische Staatssekretärin Kerstin Griese und ihr Minister für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil (beide SPD) (picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka)
    Sandra Schulz: "Wir werden Hartz IV hinter uns lassen." Mit dieser Ankündigung aus dem vergangenen November hat SPD-Chefin Andrea Nahles den nächsten Versuch ihrer Partei angekündigt, mit sich selbst ins Reine zu kommen.
    Weitere Korrekturen der Agenda-Politik legt Nahles vor in ihrem Konzept "Sozialstaat 2025". Danach sollen ältere Arbeitslose wieder länger Arbeitslosengeld 1 beziehen. Für jüngere ist ein Arbeitslosengeld Q geplant, das weitere Qualifizierung honorieren will. Und die umstrittenen Sanktionen sollen auch überarbeitet werden. Morgen und übermorgen will sich die SPD-Parteispitze in einer Klausur über diese Pläne beugen.
    Darüber habe ich vor einigen Minuten mit Kerstin Griese gesprochen, Parlamentarische Staatssekretärin im Arbeits- und Sozialministerium und Mitglied im SPD-Vorstand. Und als Erstes habe ich sie gefragt, ob die SPD jetzt Hartz IV hinter sich lässt.
    Kerstin Griese: Wir lassen die Diskussion hinter uns und gucken in die Zukunft und orientieren uns daran, was der Sozialstaat der Zukunft braucht und setzen darauf, dass wir alles tun, damit Menschen in Arbeit kommen. Da setzen wir an vielem an, was wir jetzt schon in der Bundesregierung machen, mit der Verbesserung, der Qualifizierung und Weiterbildung, mit dem sozialen Arbeitsmarkt. Aber wir wollen die Debatte jetzt nach vorn führen.
    Schulz: Sie wollen sich über das Arbeitslosengeld 2 beugen, von den allermeisten ja Hartz IV genannt. Das soll ein Bürgergeld werden. Was ist da der Unterschied?
    Griese: Wir wollen erst mal ganz viel tun, damit der Arbeitsmarkt so stabil bleibt. Wir wollen den Mindestlohn langfristig erhöhen, wir wollen die Tarifbindung verbessern. Wir wollen die Weiterbildung verbessern. Aber wenn dann tatsächlich jemand doch arbeitslos wird, wollen wir mit einem Arbeitslosengeld Q dafür sorgen, dass man länger im Arbeitslosengeld 1 bleibt. Das fördert die Weiterqualifizierung. Arbeitslosengeld Q heißt eben Qualifizierung, und jemand, der sich dann weiterbildet, soll länger das Arbeitslosengeld 1 bekommen.
    "Unsinnige und überflüssige Sanktionen abschaffen"
    Schulz: Frau Griese, das ist Ihnen alles gegönnt, da können wir gern auch gleich noch drüber sprechen. Aber es geht ja um diesen Punkt, um diesen Topos, Hartz IV hinter sich zu lassen. Und das ist nun mal das sogenannte Arbeitslosengeld 2. Das soll ein Bürgergeld werden. Und meine Frage war: Was ist der Unterschied zum Status quo?
    Griese: Wenn man dann doch arbeitslos wird und die Weiterbildung nicht geholfen hat, soll man zwei Jahre lang ein Bürgergeld bekommen. Der Unterschied zu heute soll sein, dass man dann zwei Jahre lang nicht sein Vermögen offenlegen muss und die Wohnungsgröße nicht geprüft wird. Das heißt, das, was vielen Menschen Sorgen macht, dass sie sehr schnell, wenn sie arbeitslos werden, in die Grundsicherung, bisher Hartz IV genannt, fallen, das soll wegfallen. Man soll zwei Jahre lang dieses Bürgergeld bekommen, damit man sich wirklich darauf konzentrieren kann, wieder einen neuen Job zu suchen.
    Außerdem wollen wir unsinnige und überflüssige Sanktionen abschaffen. Es ist erwiesen, dass es nichts bringt, Jugendliche unter 25 besonders hart zu sanktionieren. Das ist auch nicht gerecht. Und wir wollen auf gar keinen Fall die Kosten der Wohnung sanktionieren, damit Menschen nicht in die Obdachlosigkeit getrieben werden.
    Schulz: Aber auch nach den Plänen, soweit sie jetzt bekannt sind, die Sie jetzt vorhaben, wird es ja dabei bleiben, dass es Sanktionen geben kann, die dazu führen, dass Menschen unter das Existenzminimum fallen. Das ist ja auch ein ganz wichtiger Kritikpunkt insgesamt an der Agenda-Politik. Inwiefern soll denn das jetzt entschärft werden?
    Griese: Es soll entschärft werden, weil wirklich diese überflüssigen und unsinnigen Sanktionen wegfallen sollen. Aber es muss natürlich Mitwirkungspflichten geben. Alle, die in diesem Land Steuern zahlen, bezahlen mit ihrem Steuergeld die Grundsicherung für Menschen, die arbeitslos sind. Und deshalb ist es auch richtig, dass man Mitwirkungspflichten verlangt. Es soll nur ein anderer Zugang des Staates sein. Es soll stärker eine Unterstützung der Menschen sein, es soll mehr auf Augenhöhe sein. Wir wollen den Sozialstaat an denen orientieren, die ihn brauchen, und nicht an denen, die ihn missbrauchen. Dazu gehört eben, dass man zusammenarbeitet, auf Augenhöhe gemeinsam mit einem Menschen, der arbeitslos ist, entwickelt, was können wir tun, damit dieser Mensch wieder in Arbeit kommt. Das Fördern und Fordern bleibt, aber das Fördern soll verstärkt werden.
    "Alles auf Qualifizierung setzen"
    Schulz: Aber solange wir die Konstellation haben können, dass Menschen, die keine Arbeit haben, dass die unter das Existenzminimum fallen, da ist doch vollkommen klar, dass so lange die Kritiker von links nicht schweigen werden.
    Griese: Wir wissen ja heute, dass etwa nur drei Prozent der Menschen, die heute im sogenannten Hartz IV sind, sanktioniert werden. Das ist eine ziemlich kleine Zahl. Aber die Angst davor ist groß. Und deshalb muss man alles dafür tun, damit man gar nicht erst in diese Situation kommt. Dafür haben wir viele gute Schritte vorgeschlagen, setzen viel früher an, Menschen in Arbeit halten, Menschen schneller und besser in Arbeit bringen.
    Ich will auch den sozialen Arbeitsmarkt erwähnen, den es seit Januar gibt. Der ist gerade hier für Nordrhein-Westfalen, wo ich herkomme, sehr wichtig, wo langzeitarbeitslose Menschen endlich wieder eine Chance haben, in Arbeit zu kommen. All das hilft. Und ich denke schon, dass es dann am Ende aber auch richtig ist, dass man erwarten kann, dass jemand, der Geld vom Staat bekommt, auch im Jobcenter erscheint und auch mitwirkt daran, wieder in Arbeit zu kommen.
    Schulz: Es sei denn, er ist unter 25.
    Griese: Unter-25-Jährige sollen dann die gleichen Sanktionen haben wie Über-25-Jährige. Heute ist es so, dass sie verstärkt sanktioniert werden. Das ist unsinnig und überflüssig.
    Schulz: Jetzt gibt es ja auch Pläne von Andrea Nahles, Sie haben es auch gerade schon angerissen, für ältere Arbeitnehmer insgesamt auch die Zahlung des Arbeitslosengeldes 1 zu verlängern. Auch das wird kritisiert jetzt, politisch sicherlich aus anderer Richtung. Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung sagt, das, was Andrea Nahles jetzt vorschlägt, diese maximal 33 Monate, das geht sogar über das hinaus, was wir vor der Agenda-Politik hatten. Und da hat es nachweislich Mitnahmeeffekte gegeben. Warum wollen Sie das jetzt wieder ermöglichen?
    Griese: Der Hintergrund ist, dass das die größte Ungerechtigkeit ist, die von den Menschen empfunden wurde, dass jemand nach vielen Jahren Arbeit nach einem Jahr genauso schnell in Hartz IV ist wie jemand, der nicht gearbeitet hat. Und deshalb sagen wir, wer lange gearbeitet hat und ein bestimmtes Alter erreicht hat, soll länger das Arbeitslosengeld 1 bekommen.
    Heute ist es ja schon so, dass man es ab 50 Jahren 15 Monate lang bekommt, ab 55 Jahren 18 Monate, und ab 58 Jahren 24 Monate. Wir wollen das ab 50 Jahren ausweiten, dass man durchaus länger Arbeitslosengeld 1 bekommt, eben dann, wenn man sich weiter qualifiziert. Das ist eine ganz wichtige Kombination, denn heutzutage sind wir ja nicht mehr in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit wie 2003, als die Agenda 2010 erfunden wurde. Heutzutage haben wir Fachkräftemangel, heutzutage tun die Unternehmen viel dafür, dass die Menschen in Arbeit bleiben. Und heutzutage muss man alles daran setzen, dass die Menschen im Zeitalter der Digitalisierung ihren Job behalten können und sich weiterqualifizieren können.
    Und die, die dann rausfallen und arbeitslos werden, sollen eben diese Ängste nicht haben. Deshalb, alles auf Qualifizierung setzen und Ängste nehmen, Sicherheit geben, damit Menschen, die ein langes Arbeitsleben geleistet haben, keine Angst haben, zu schnell in Grundsicherung zu fallen.
    "Einige Punkte durchaus bald durchsetzbar"
    Schulz: Jetzt sind Sie in der Koalition mit der CDU. Dort sieht man das alles ganz anders. Unionsfraktionsvize Linnemann sagt jetzt schon, das macht die Union nicht mit, dieses System von Fördern und Fordern zu kippen. Ist das jetzt die Sollbruchstelle der großen Koalition?
    Griese: Nein, darum geht es nicht. Und ich gehe auch davon aus, dass einige Punkte davon durchaus bald durchsetzbar sein werden. Zum Beispiel wird das Bundesverfassungsgericht voraussichtlich im Sommer über die Sanktionen urteilen. Da werden wir dann sehr klare Ansagen bekommen, was wir ändern. Und ich kann nur vermuten, dass es auch tatsächlich in die Richtung geht, bestimmte Sanktionen abzuschaffen, die überflüssig sind.
    Aber man muss auch ein längerfristiges Konzept haben. Und unseres setzt ja an vielem an, was wir jetzt schon machen. Hubertus Heil, der Arbeits- und Sozialminister, hat mit dem Qualifizierungschancengesetz es geschafft, dass zum ersten Mal die Arbeitsagentur Weiterbildung zahlt. Das ist besonders für die kleinen und mittleren Unternehmen wichtig. Wir haben es mit dem sozialen Arbeitsmarkt geschafft, dass wir endlich für Langzeitarbeitslose eine fünfjährige Förderung haben, wo sie wieder in Arbeit kommen. Wir fördern Arbeit statt Arbeitslosigkeit. Und die Debatte über den Mindestlohn wird ja nun in allen Parteien und in der gesamten Gesellschaft geführt, dass er langfristig höher werden muss.
    Ich glaube, wir gehen in die richtige Richtung. Aber klar ist auch, die SPD ist jetzt die erste Partei, die ein langfristiges Konzept vorlegt, wo es hingeht mit dem Sozialstaat im Jahr 2019 und in den nächsten Jahren. Wir blicken damit nach vorn. Wir schlagen zum Beispiel auch eine Kindergrundsicherung vor. Das ist auch eine wichtige Erkenntnis, dass Kinder anders gefördert werden müssen als arbeitslose Menschen.
    Schulz: Frau Griese, jetzt komme ich auf die Frage mit der Koalition, weil wir an diesem Wochenende ja den Ruf von Sigmar Gabriel gehört haben, von Ihrem früheren Parteichef, der sagt, die SPD müsse für die Modernisierung von Wirtschaft, Staat und sozialer Sicherheit antreten, hat er dem "Spiegel" gesagt. Nur, wenn CDU/CSU bereit sind, diese Herausforderungen anzugehen, dann macht Mitregieren Sinn. Wenn nicht, muss man gehen. Bleiben Sie?
    Griese: Nur, wenn man regiert, kann man das auch alles umsetzen.
    Solidarität von Sigmar Gabriel angemahnt
    Schulz: Sigmar Gabriel, und auch auf den Punkt will ich mit Ihnen natürlich gern kommen, der wird in vielen Köpfen, oder der wird von vielen Menschen in ihrer Partei immer noch für einen sehr wichtigen Kopf gehalten. Andrea Nahles und Olaf Scholz binden ihn ja kaum ein, um den Preis, dass er jetzt kluge Ratschläge aus dem Off gibt. Müsste er eine stärkere Rolle wieder in Ihrer Partei spielen?
    Griese: Ich glaube, als er selbst Vorsitzender war, hätte er sich auch nicht über solche Ratschläge aus dem Off gefreut, und insofern hoffe ich, dass er sich daran bald mal wieder erinnert.
    Schulz: Es geht jetzt aber auch um die Menschen, die Sigmar Gabriel gut finden. Welches Signal gibt man denen?
    Griese: Er ist ein guter und wichtiger Redner, und ich würde mich sehr freuen, wenn er sich auch konstruktiv für die SPD einsetzt. Er macht ja gerade auch viele Veranstaltungen quer durchs Land. Und ich wünsche mir immer, dass auch Leute, die ehemalige Vorsitzende sind, das in Solidarität zu ihrer Partei tun. Da vermisse ich gerade ein bisschen was. Aber ich hoffe, dass er das durchaus wieder in solidarischer Zusammenarbeit machen wird.
    Schulz: Kerstin Griese, SPD-Vorstandsmitglied und Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, heute Morgen im Deutschlandfunk. Ihnen ganz herzlichen Dank!
    Griese: Danke schön, Frau Schulz!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.