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Regierungsbildung
"Eine Große Koalition, die sehr viel Frust auslösen wird"

Ob Steuerpolitik, Bürgerversicherung oder Umweltpolitik - die Gegensätzlichkeiten im Fall einer Großen Koalition sind enorm. Eine solche Regierung würde viel Ärger und Frust auslösen, sagte der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel im Dlf. Dass sie große politische Herausforderungen meistern werde, sei nicht zu erwarten.

Rudolf Hickel im Gespräch mit Dirk Müller | 11.01.2018
    Der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Rudolf Hickel.
    Der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel (dpa / picture-alliance / Ingo Wagner)
    Dirk Müller: Die letzte Runde soll es sein mit dem geplanten Abschluss heute Nacht, vielleicht ja sogar ein paar Stunden früher: Die Sondierungsrunde zwischen CDU/CSU und SPD. Das war vor vielen Wochen in Berlin schon einmal ähnlich, als in der entscheidenden Nacht der Jamaika-Gespräche das Ganze dann doch noch geplatzt ist, für alle überraschend, vermutlich sogar für die meisten in der FDP. Diesmal sind die Anzeichen zumindest anders, weil es einfach klappen muss, weil der Druck so hoch ist. Das sagen viele aus der Union und auch aus der SPD. Wir warten ab; nun also der angekündigte Endspurt der Protagonisten.
    Eine neue Regierung mit großer Wahrscheinlichkeit, eine neue Regierung, die im Großen und Ganzen die alte sein wird, eine Große Koalition unter Führung von Angela Merkel – wie gehabt. Kann dies helfen in dem Bemühen, Deutschland fitter zu machen, moderner zu machen, vielleicht sogar auch gerechter zu machen? Was ist mit einer Steuerreform? – Wohl kaum. – Was ist mit einer Sozialreform in der Gesundheitspolitik? – Vermutlich auch nicht. Also keine Reformen in Sicht. – Unser Thema mit dem Bremer Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler Professor Rudolf Hickel. Guten Tag nach Bremen.
    Rudolf Hickel: Schönen guten Tag, Herr Müller.
    "Eine ganz komplizierte Situation"
    Müller: Herr Hickel, haben wir jetzt schon Stillstand?
    Hickel: Ich glaube, das ist eine ganz komplizierte Situation. Entscheidend ist ja die Kompromissbildung, von der alle reden. Aber die Kompromissbildung zeigt doch, dass es auch unversöhnliche Gegensätzlichkeiten gibt. Sie haben die Steuerpolitik angesprochen, Sie haben das Problem der Einführung der Bürgerversicherung im Bereich der Krankenversicherung angesprochen. Hier kann es keinen substanziellen Kompromiss geben, weil die Meinungen so weit auseinander sind.
    Meine Sorge ist, dass man jetzt die Eckpunkte zusammenfasst, bei denen man einigermaßen gemeinsam vorgehen kann, aber vieles, vieles entweder nicht behandelt, oder in dilatorische Floskeln hineinbringt, und dann werden wir folgende Konstellation haben, da bin ich ganz sicher. Erstens: Es wird wohl knapp mit der Zustimmung der SPD am 21. Januar bei dem Parteitag zu rechnen sein, der Zustimmung zur Großen Koalition. Aber dann geht es eigentlich erst los.
    Das wird eine Große Koalition, die sehr viel Ärger, sehr viel Frust, übrigens auch gegenüber einer starken Opposition auslösen wird. Die großen, wie Sie sagen, Herr Müller, die großen Herausforderungen, wirklich eine moderne, gerechte Steuerpolitik, auch ein zukunftsfähiges Krankenversicherungssystem und vor allem auch, was ganz entscheidend ist, was ja durchgesickert ist, eine starke Fortsetzung der Umweltpolitik im Sinne des Kampfes gegen die Klimakatastrophe, das ist von dieser Regierung beileibe nicht zu erwarten.
    Kosmetische Politik
    Müller: Das heißt, für Sie ist das ausgemachte Sache, Herr Hickel, wenn ich Sie richtig verstehe? Die Große Koalition wird in erster Linie kosmetische Politik betreiben?
    Hickel: Es wird maßgeblich kosmetische Politik sein. Das kann man ja auch daran sehen: Die SPD geht ja in die Verhandlungen beispielsweise im Bereich der Steuerpolitik mit sehr vernünftigen Vorschlägen rein. Sie lässt natürlich auch ein paar Fragen weg, beispielsweise die Frage, ob der Solidaritätszuschlag abgeschafft werden soll. Sie haben das Beispiel gerade gebracht im Beitrag zuvor, wenn beispielsweise der Spitzensteuersatz von 42 auf 45 Prozent erhöht wird, dass der Beginn der Besteuerung mit dem Spitzensteuersatz auch von derzeit 55.000 auf 60.000 für Ledige erhöht wird. Dann ist das die Position der SPD und die kann man ganz gut begründen.
    Auf der anderen Seite steht die CDU, die sagt: Nein, wir wollen eine solche Steuerpolitik nicht. Wie kann dann der Kompromiss aussehen? Das kann natürlich am Ende so sein: Entweder wird es ein fauler Kompromiss, oder wenn es ein fauler Kompromiss ist, dann glaube ich, dass wir eine Regierungszeit bekommen, wenn die Große Koalition dann im Amt sein sollte, eine Regierungszeit bekommen, in der aber wirklich Tag und Nacht immer über die Details gestritten wird. Alles was jetzt nicht richtig, ehrlich und offen geregelt ist, verabredet ist, wird im Regierungshandeln immer wieder zu Konflikten führen. Am Ende hält die Koalition vielleicht auch gar nicht durch.
    Diskussion um die Bemessungsgrundlage
    Müller: Ohne jetzt Erbsenzählerei bei der Steuerpolitik zu betreiben, betreiben zu wollen – das ist ja sehr kompliziert. Wir haben ja auch noch zu wenige Details darüber im Moment. Wir haben heute Morgen in der Redaktion aber nachgelesen: Das Verhältnis von Spitzensteuersatz, Sie haben das gerade angesprochen, was die SPD ja erhöhen will, und andererseits diese Bemessungsgrenze – ich weiß gar nicht, ob das der richtige Terminus ist -, wo beginnen wir mit dem Erfassen …
    Hickel: Die Bemessungsgrundlage.
    Müller: Die Bemessungsgrundlage. 55.000, 60.000 ist ja da in der Diskussion. Wenn man beides machen würde, dann ist das am Ende auch ein Nullsummenspiel. Ist das alles so kompliziert, wenn beide Seiten sich durchsetzen, dass es wirklich bei null herauskommt?
    Hickel: Na ja, gut. Das ist ein schönes Beispiel, an das habe ich gar nicht gedacht. Das Nullsummenspiel besteht natürlich darin, dass man sagt, auch gewisser Weise mit Symbolik, wir müssen den Spitzensteuersatz erhöhen. Wir müssen die Bemessungsgrundlage, so muss ich anfangen, von 55.000 auf 60.000 erhöhen. Dazu käme es zu Steuerausfällen. Und da kommt ja sehr parat, dass man den Spitzensteuersatz erhöht. Aber diese Politik, die halte ich ausnahmsweise mal nicht für widersprüchlich, weil man da einfach sagt, auf der einen Seite zahlen die Reichen mehr, auf der anderen Seite wird damit finanziert die Tatsache, dass der Normalbeschäftigte, der Arbeitnehmer nicht viel zu früh in den Spitzensteuersatz hineinkommt.
    Aber es gibt natürlich andere Beispiele und die spannende Frage ist, an der ja die SPD sich messen muss, messen lassen muss, weil ja Schulz das auch zum großen Thema gemacht hat – meines Erachtens zurecht -, die Bürgerversicherung. Kommt es zu einem Verfahren der Abschaffung der privaten Krankenversicherung und der Integration der bisher privat Versicherten, auch der Beamten in die normale Krankenversicherung? Da bin ich mal ganz gespannt und da wage ich heute die Voraussage, ganz vorsichtig, aber doch relativ überlegt, dass da kein Vorschlag kommt, sondern dass eine Kommission eingesetzt wird, das was man immer in solchen Konflikten macht, dass eine Reformkommission eingesetzt wird, die dann Vorschläge unterbreiten soll.
    Es wird viel verschoben. Das meinte ich vorher mit den dilatorischen Floskeln. Meine Sorge ist, dass vor der Republik, auch vor der Opposition oder unter dem Druck der Opposition da ständige Konflikte stattfinden und dass wir eigentlich in der Innenpolitik die von Ihnen genannten großen Herausforderungen, Investitionen in Infrastruktur, Stärkung der Bildungslandschaft, dass wir da kaum einen Schritt weiterkommen.
    Schwere Probleme am Abeitsmarkt
    Müller: Jetzt habe ich das im Grunde ja als Aufriss in der Moderation skizziert, behauptet, mit Fragezeichen versetzt, die Frage dann weitergeleitet an Sie: Kommen überhaupt Reformen? – Jetzt könnten wir umgekehrt ja auch argumentieren, das tun ja auch viele, den meisten Deutschen geht es so gut wie nie zuvor. Warum also etwas ändern?
    Hickel: Ja, in der Tat. Wir haben natürlich dennoch einen großen Bedarf, und da will ich die heißeste Stelle, die strittigste Stelle natürlich auch ansprechen. Wir wissen, dass wir den höchsten Beschäftigungsstand haben in Deutschland, den wir jemals gehabt haben. Wir wissen, dass das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr auch sehr stark sein wird. Wir wissen auch, dass wir Steuereinnahme-Überschüsse haben werden. Aber auf der anderen Seite gibt es natürlich schwere Probleme. Am Arbeitsmarkt ist beispielsweise die Spaltung des Arbeitsmarktes zwischen Normalbeschäftigten und prekären Arbeitsverhältnissen überhaupt nicht überwunden. Martin Schulz hat ja in dem Wahlkampf einen sehr wichtigen, wirklich einen epochal wichtigen Satz formuliert, als er gesagt hat, es muss doch auch wirklich harte gute Arbeit auch entsprechend entlohnt werden.
    Um das nicht so abstrakt zu machen – ich mache es mal an der Niederlage von Frau Nahles deutlich. Als in der letzten Koalition vereinbart war, in der Großen Koalition vereinbart war erstens, zweitens das Gesetz kam, nämlich im Grunde genommen die Rückkehr aus der Teilzeit in die Vollzeit-Arbeitsplätze, da ist es gescheitert am Widerstand der CDU, vor allem an den Wirtschaftsverbänden, und da sieht man, da liegen ganz, ganz große Konflikte, die übrigens derzeit nicht so richtig diskutiert werden.
    Heute Morgen hatte ich den Eindruck, dass Martin Schulz sehr stark auf Europa uns einstimmt, und da gehe ich noch davon aus, dass bei vielen Differenzen noch die größten Gemeinsamkeiten entstehen. Aber was passiert eigentlich? Wird das Gesetz von Frau Nahles, das ich für ein sehr, sehr wichtiges Gesetz halte, nämlich die Möglichkeit der Rückkehr aus der Teilzeit in die Vollzeit, wird das Gesetz beispielsweise im Vertrag der Großen Koalition festgeschrieben als ein umzusetzendes. Das wird die spannende Frage und da glaube ich, wenn es übernommen wird, dass es nicht im Koalitionsvertrag selber klar formuliert wird, sondern dass es dann darauf ankommt, wie es umgesetzt wird.
    Deshalb noch mal meine These: Ich denke, am Ende wird es zu dieser Großen Koalition trotz bitterer Widerstände auch innerhalb der SPD kommen. Aber dann im laufenden Regierungsalltag werden immer wieder die Konflikte ausbrechen. Ich könnte mir zweierlei vorstellen: Erstens, dass Frau Merkel in der ersten Hälfte aufhört, und zweitens, dass am Ende die Große Koalition vielleicht auch nach zwei Jahren scheitert. Das muss man heute in der Analyse mit einbeziehen.
    Mehr Interesse an Steuerpolitik als an Europapolitik
    Müller: Herr Hickel, ich habe noch ein, zwei Fragen; wir haben nicht mehr so viel Zeit. Europa haben Sie als Stichwort genannt. Darüber haben wir eben auch hier in der Redaktion diskutiert. Ist das ein Feigenblatt? Warum argumentiert die SPD im Moment, wo man andere Dinge wissen will, nämlich Arbeitsmarkt, Steuerpolitik und so weiter, so viel mit Europa?
    Hickel: Na ja, ich könnte es subjektivistisch machen und sagen, das ist Martin Schulz‘ Thema als ehemaliger Präsident des Europaparlaments.
    Müller: Das hatte er mal für ein paar Monate vergessen.
    Hickel: Ja, in der Tat. Ich glaube, dahinter steht natürlich die Macron-Initiative, weil weltweit wahrgenommen wird, die Führungsrolle in der Weiterentwicklung Europas, die ich für unglaublich wichtig halte, hat jetzt Frankreich übernommen. Aber auf der anderen Seite ist es völlig richtig. Die Leute, die Menschen heute interessiert, wenn dann mitgeteilt wird, die Sondierungsgespräche sind erfolgreich abgeschlossen, weniger was mit Europa passiert, sondern dann interessiert sie, was passiert mit der Steuerpolitik, kommt es beispielsweise auch zum Korrigieren der Rentenreform. Wir wissen heute noch nicht genau, was im Bereich der Rentenreform eigentlich angegangen wird.
    Alle wissen, dass ab 2024 ungefähr, wenn das System so bleibt wie es ist, die Armut zunimmt. Da müssen ganz klare Entscheidungen getroffen werden, die ja zum Schluss auch Frau Nahles versucht hat, in der alten Großen Koalition durchzusetzen. Das wollen die Menschen wissen und sagen, aha – und so würde ich es mal ökonomisch als Grundsatz zusammenfassen -, wird jetzt dafür Sorge getragen, dass das, was an Wirtschaftswachstum, an Reichtumsgewinn in Deutschland stattfindet, dass der auch mehr bei den sozial Schwachen ankommt beziehungsweise durchsickert zu allen, die am Geschäft beteiligt sind.
    Müller: Bei uns heute Mittag live im Deutschlandfunk der Bremer Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler Rudolf Hickel. Danke, dass Sie für uns Zeit gefunden haben. Ihnen noch einen schönen Tag.
    Hickel: Schönen Dank, Herr Müller.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.